Grosseltern-Magazin 11/2017 :: Portrait von Rayan

«Wir leben im Hier und Jetzt»

Am 27. Juni 2016 stand die Welt still – jedenfalls für Ankica und Andrija Lukacek in Zagreb sowie Feza und Turgut Kalfa in Winterthur. Die Diagnose, dass ihr Enkel Rayan eine seltene komplexe Hirnfehlbildung hat, traf sie unvorbereitet. Heute engagieren sie sich gemeinsam für Rayan und freuen sich über jeden seiner Fortschritte.

Von BARBARA EHRENSPERGER (Text) 
und SANDRA ARDIZZONE (Foto)

«Ja, es war ein grosser Schock», erzählt Ankica Lukacek (65). Damals, am 27. Juni 2016, rief ihr Sohn Drazen an und erklärte ihr, dass Rayan an einer seltenen Krankheit leidet. Rayan, ihr erstes Enkelkind; Rayan, der acht Monate alte Bub, der sie so oft anlächelte; Rayan, der für sie das normalste Kind der Welt war. Ankica und ihr Mann Andrija (70) leben seit ihrer Pensionierung wieder in Kroatien und sassen zuhause, als das Telefon klingelte. Zum ersten Mal hörten sie von Polymikrogyrie und Pachygyrie – diesen seltenen komplexen Hirnfehlbildungen (Kasten Seite 26). Tausend Fragen schwirrten ihnen danach im Kopf umher. Aber eines stellten sie nie in Frage: Rayan ist und bleibt ihr wunderbarster Enkel. Es folgten viele Telefongespräche, denn auf Wunsch des Sohnes Drazen haben sich die beiden nicht sofort ins Auto gesetzt, sondern reisten einen Monat später zu ihm und der Schwiegertochter Zeynep in die Schweiz. Beide Seiten finden heute, dass sie so etwas Zeit hatten, sich auf die neue Situation einzustellen.

KEINE PROGNOSE MÖGLICH

«Auch für uns war es ein Schock», erzählt Feza Kalfa (61), die Grossmama mütterlicherseits. Und auch für sie stand am
27. Juni 2016 die Welt still. Und auch sie und ihr Ehemann Turgut (68) hatten Fragen: Warum? Wieso Rayan? Haben wir es vererbt? Und vor allem: Was bedeuten diese komplexen Hirnfehlbildungen? Wird er je sprechen oder gehen können?

Es gibt grundsätzlich wenig Informationen über seltene Krankheiten. Am schwierigsten auszuhalten sei der Umstand, dass keine Prognose möglich ist. Das findet auch Zeynep, die Mutter von Rayan: «Immer und immer wieder haben wir die Ärzte gefragt, was wird Rayan können und was nicht?» Die Antwort der Ärzte blieb stets die gleiche: Wir können keine Prognose abgeben. Da nicht klar ist, wie fest die Fehlbildungen sind, weiss man nicht, was alles auf Rayan zukommen wird, was er schaffen kann und wie er sich konkret entwickelt. Auch ob diese Krankheit vererbt wurde oder nicht, lässt sich nicht abschliessend beurteilen. Zu akzeptieren, dass eine Prognose nicht möglich ist, habe ihr und ihrem Mann auch irgendwie geholfen. «Das war sehr schwer. Aber dafür leben wir nun im Hier und Jetzt.»

ANSTRENGENDES TRAGEN

Hier und jetzt lacht der zweijährige Rayan fröhlich in die Runde, denn all seine Grosseltern sind bei ihm, und er scheint die Aufmerksamkeit zu geniessen. Er wird herumgetragen, fürs Foto frisiert und vor allem geherzt.

Als es Zeit ist für das Abendessen, macht Grossmama Feza den Hochstuhl bereit, um mit Rayan einen Quark zu essen. Grossvater Andrija setzt Ryan in den Stuhl. Mit viel Geduld löffelt Feza den Quark in Rayans Mund. Manchmal rutscht das Essen problemlos den Rachen hinunter. Doch nicht immer, da Rayan Mühe hat mit Schlucken. Daher schiebt Feza einen beträchtlichen Teil nochmals mit dem Löffel in den Mund. «Wenn etwas daneben geht, ist doch egal», sagt Feza. Mit Geplauder und Lob füttert sie ihm so den ganzen Quark.

Feza hütet ihren Enkel und seine einjährige Schwester Arya jede Woche zwei Tage. Sie hat sich sehr gefreut, dass ihre Tochter sie angefragt hatte, regelmässig zu hüten, und sagte ohne zu zögern zu: «Das sind meine Enkelkinder! Für sie mache ich doch alles.» Nun ist sie von Montagabend bis Mittwochabend für die Kinder zuständig und wohnt im Gästezimmer der Familie. Die Grosseltern aus Kroatien kommen wochenweise in die Schweiz, um die Familie zu unterstützen.

Die Grosseltern hüten auch, um den Eltern einen Abend zu zweit zu ermöglichen, und versuchen sie zu unterstützen, wo es geht. Ein normaler Hütetag ist mit Spazieren, Spielen, Essen Kochen und Pflege schnell verplant. Auch Arzttermine mit Rayan nehmen die Grosseltern wahr. «Anstrengend ist eigentlich nur das Tragen», meinen beide Grossmütter und machen sich Sorgen, wie lange sie das noch schaffen werden. Diese Sorgen wischen beide mit der Bemerkung «Jetzt mögen wir ja noch» wieder weg.

SELTEN DIREKT ANGESPROCHEN

«Natürlich, wir werden ab und zu komisch angeschaut, wenn wir mit Rayan im Kinderwagen draussen sind – aber das ist uns egal», sagt Grossmutter Feza. Sie nimmt lieber den Kinderwagen als den Rollstuhl. «Die Beinschienen, die Hörgeräte und die Brille sind schon auffällig.» Als Rayan die Haare länger trug, hörte sie oft: «So ein herziges Meitli». Direkt angesprochen werde sie aber selten. Sie freut sich sehr, dass ihre Verwandten und Freunde sich nach Rayan erkundigen, wissen wollen, wie es ihm geht. Zu sehr ins Detail geht sie beim Erzählen jedoch nicht; welche Therapien gerade anstehen oder ähnliches bleibt in der Familie. Und selbstverständlich berichtet sie ihren Freunden auch von Rayans Schwester Arya.

Arya, die im Juli ein Jahr alt wurde, geniesst es sichtlich, dass ihre beiden Grosseltern versammelt sind. Überall helfende und spielende Hände, nach denen sie greifen kann. Und während ihr Bruder den Quark isst, kann sie mit den Grosseltern aus Zagreb munter weiter spielen. Arya bewegt sich rasch und spielt geschickt. Sie wird schnell mehr können als ihr Bruder – wie wollen die Grosseltern damit umgehen? Grossmutter Feza freut sich: «Arya wird eine gute Lehrerin sein für Rayan. Er kann ihr abschauen, wenn er mag.» Auch die Grossväter sind sich einig: «Arya wächst damit auf, dass ihr Bruder mehr Pflege braucht als sie. Es wird einfach so sein, wie es ist, und wir machen das Beste draus.» «Wir geniessen jeden Tag und freuen uns an den Fortschritten», sagt die Mutter – denn wer wisse schon, was der nächste Tag bringe?

So übt Rayan nach dem Quarkessen etwas das Sitzen – mal scheint es zu klappen, dann aber wieder nicht. Erst vor ein paar Monaten wurde festgestellt, dass Rayan nicht gut hört: Ob er darum noch keine richtigen Wörter spricht? Man weiss es nicht. Jedenfalls kommen sie und Rayan mit den neuen Hörimplantaten gut zurecht.

KRANKHEIT IMMER AUF DEM RADAR

Gemeinsam das Beste zu machen, das hält die Familie zusammen. Alle helfen mit. Wenn jemand irgendwo etwas zu Rayans Krankheit liest oder erfährt, werden diese Informationen mit den anderen geteilt. Wenn jemand Hilfe braucht, wird diese organisiert. Die Krankheit von Rayan sei immer auf ihrem Radar. Aber es sei doch normal, dass Grosseltern im Hinterkopf jederzeit an ihre Enkel und Enkelinnen denken. Das sei doch in allen Familien üblich, sind sie sich einig.

«Zeynep und Drazen stehen jede Nacht mehrmals auf», erzählt Feza und zeigt damit, wie sehr sie ihre Tochter und den Schwiegersohn, aber auch die anderen Grosseltern für ihre Ausdauer und die Kraft, all dies zu stemmen, bewundert.

Ankica Lukacek ist froh, lebt ihr Sohn mit der Familie in der Schweiz – sie selber hat vierzig Jahre hier gelebt: «Hier sind sie gut versorgt». Neben dem Netzwerk innerhalb der Familie nutzt die Familie die Angebote des «Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten» (Kasten). Darauf aufmerksam gemacht wurde Zeynep von einer Kollegin. Sie und ihr Mann schätzen den Austausch mit anderen Familien dort sehr. «Wir sind in diesem Verein eine Familie von vielen, die ähnliche Fragen und mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Zum Beispiel, wo bekommt man gute Informationen zur Krankheit, und was gibt es für Behandlungsmöglichkeiten.

«Auf der anderen Seite treffe ich gerne meine Freundinnen, die auch Kinder haben», erzählt die Mutter. «Nur wenn diese dann erzählen, wie anstrengend es sei mit Kindern, die einmal in der Nacht aufwachen, dann denke ich ab und zu schon: Ihr habt keine Ahnung…» Wichtig ist ihr aber, dass sie nicht «bewundert werden für unseren Alltag – dieser ist, wie er ist, und wir können es nicht ändern». Trotzdem ist sie manchmal selber erstaunt, wie sie als Familie das alles schaffen. Sie erklärt sich ihre eigenen ungeahnten Kräfte, aber auch die Energie der Grosseltern so: «Rayan hat sich uns ausgesucht, und wir sind liebend gerne für ihn da».


Seltene Krankheiten

PACHYGYRIE

Pachygyrie ist eine angeborene Fehlbildung des Gehirns,
die mit verdickten oder vergröberten Hirnwindungen einhergeht. Die Art und Schwere der Symptome sind abhängig von der Ausprägung der Fehlbildung.

POLYMIKROGYRIE

Die Polymikrogyrie ist eine Fehlbildung der Hirnrinde mit
exzessiver Faltung der Hirnrinde und flachen Furchen dazwischen. Die Schichtung der Hirnrinde ist gestört. Klinische Zeichen einer Polymikrogyrie sind eine leichte geistige Retardierung, zerebrale Krampfanfälle und eine Pseudobulbärparalyse mit Problemen beim Essen und beim Erlernen des Sprechens. Der Schweregrad der Polymikrogyrie hängt in hohem Masse von Lokalisation und Grösse des betroffenen Areals ab.

FÖRDERVEREIN FÜR KINDER MIT SELTENEN KRANKHEITEN

In der Schweiz leiden rund 350 000 Kinder und Jugendliche an einer seltenen Krankheit wie zum Beispiel Pachygyrie und Polymikrogyrie. Laut Bundesamt für Gesundheit gilt eine Krankheit dann als selten, wenn weniger als 5 von 10 000 Menschen davon betroffen sind. Der Alltag der betroffenen Familien ist geprägt von Ungewissheit und unzähligen Herausforderungen. Der Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten setzt sich für die betroffenen Kinder und ihre Familien ein. Er organisiert finanzielle Direkthilfe, verankert das Thema in der Öffentlichkeit und schafft Plattformen, um betroffene Familien miteinander zu vernetzen.

www.kmsk.ch


Grosseltern-Magazin 11/2017

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