Seine beiden Enkelinnen Eva und Talia sind Naser Alslibis (53) grösstes Glück. Wenn der Chauffeur von Touristenbussen Gäste durch Jordanien
führt, telefoniert er täglich mit der fünfjährigen Talia.
Caroline Doka (Text und Foto)
Naser Alslibi sieht mit seinem weissen Hemd und den goldgestreiften Schulterpatten aus wie ein Flugkapitän. Der gross gewachsene 53-Jährige ist Buschauffeur und fährt Touristen durch das Königreich Jordanien. Das Steuer des Busses fest in den Händen, die hellgrünen Augen konzentriert auf die Sandpiste gerichtet, wiegt er den Bus sanft und sicher durch die Wüste Wadi Rum wie ein Schiff durch die Wogen.
Später sitzt der Chauffeur am Lagerfeuer eines Wüstencamps, bereit, über Grosseltern und Enkel in Jordanien zu erzählen. Zuvor will er aber noch einen wichtigen Anruf erledigen. Den Telefonstöpsel im Ohr spricht er nun liebevoll auf Arabisch in die Wüstennacht hinaus, als plaudere er mit den Sternen.
«Ich habe gerade mit meiner Enkelin telefoniert», erzählt er dann, seine Augen strahlen. «Talia wird morgen sechs Jahre alt und vermisst mich schrecklich.» Er zeigt das Handybild eines fröhlichen, dunkelhaarigen Mädchens. Dann eines, auf dem er selber zu sehen ist, im Arm ein Baby. «Meine jüngere Enkelin Eva, zwei Monate alt.» Das Glück steht Naser ins Gesicht geschrieben, sowohl auf dem Handyfoto wie im Schein des nächtlichen Feuers.
Eine Szenerie wie in Tausendundeine Nacht. Naser beginnt zu erzählen. Von Talia und Eva, die mit ihren Eltern in der orientalischen Stadt Zarqa leben, wo auch er mit acht Geschwistern aufwuchs und noch heute zu Hause ist. «Auch meine Mutter lebt in Zarqa, sie ist bald hundertjährig!» Dann erzählt Naser von seiner Grossmutter. «Sie war Palästinenserin und lebte jenseits des Jordans, in den Westbanks. Wir alle sind Palästinenser. Damals waren wir Flüchtlinge in Jordanien und besuchten die Grossmutter in Palästina oft. Sie war hübsch, mit rundem Gesicht und einem Tattoo am Kinn.» Nasers Familie ist aus Palästina nach Jordanien geflohen. Wo fühlt er sich zu Hause? «Da, wo ich meine Kindheit verbrachte: in Jordanien. Trotzdem kann ich mein Land Palästina nicht vergessen.»
Seine Augen funkeln im Feuerschein. Wie kommt ein Palästinenser zu grünen Augen? Naser lächelt. Die Augen seiner Grosseltern waren ebenfalls grün. «Vielleicht hatte sich einst ein Kreuzritter aus Europa mit einer Araberin eingelassen … oder ein Grieche bei der Völkerwanderung sich in eine Einheimische verliebt?» Einst hätten sich Araber vor ihresgleichen mit grünen Augen gefürchtet. Den Enkelinnen sind Grossvaters grüne Augen lieb. «Sogar die Kleine mit ihren zwei Monaten lächelt mich an, wenn sie mich sieht.» Naser fühlt sich den Enkelinnen nahe. Er besucht sie oft, bringt Geschenke mit und telefoniert mit Talia. In die Erziehung mischt er sich nicht ein. Ausser, wenn seine Tochter und ihr Mann die Kinder schlagen, was ihm gar nicht gefällt. «Ich bin durch den Kontakt mit Menschen anderer Kulturen offen geworden; in Jordanien sind viele sehr konservativ.»
Die Beziehung hänge davon ab, wie lieb Grosseltern zu ihren Enkeln seien, meint Naser. Er möchte ihnen Liebe geben und geniesst es, ihre Liebe zu erfahren. Die Liebe ist gross, das Vermissen auch. Oft sagt Talia am Telefon: «Sido, wann kommst du endlich nach Hause? Ich vermisse dich!» Sido ist arabischer Slang für Opa. Dieser nennt Talia und Eva liebevoll Tutu und Vivia. Was bedeuten ihm die Enkelinnen? Das Feuer wird kleiner, Naser legt Holz nach. «Ein schönes Gefühl. Durch sie wird die Familie weitergeführt. Für mich ein Grund zu leben.»
Seinen Enkelinnen Talia und Eva wünscht er ein schönes Leben, friedliche Familien und eine gute Ausbildung. «Toll wäre, sie hätten meine Weltoffenheit, ohne ihre palästinensischen Wurzeln zu vergessen. Und ich wünsche mir, dass durch sie die Familie weiterlebt.» Er lacht: «Auch die grünen Augen!»•
Box:
Jordanien
Einwohner: 10.1 Millionen
Hauptstadt: Amman
Fläche: 89 342 km²
Bevölkerungsdichte: 112 Einwohner pro km²
Amtssprache: Arabisch
Staatsform: Konstitutionelle Monarchie
Staatsoberhaupt: König Abdullah II.
Höchster Punkt: 1854 m ü. M.
Tiefster Punkt Jordaniens ist gleichzeitig der tiefste an Land zugängliche Punkt der Erde: Er liegt 360 m unter dem Meeresspiegel, südöstlich des Toten Meers.
Klima: Von mediterran bis Wüste.
Wasser: Jordanien gilt als wasserarmes Land. Der Pro-Kopf-Wasserverbrauch wird wegen schwindender Wasserressourcen und der rasant wachsenden Bevölkerung weiter abnehmen.
Arbeitslosigkeit: Ca. 18.5 Prozent.
Flüchtlinge: 750 000 (Palästinenser nicht eingerechnet). Am Ostufer des Jordans befindet sich das Flüchtlingslager Za’atari, das mit etwa 120 000 Flüchtlingen aus Syrien zu den grössten im Nahen Osten gehört. Im anderen grossen Lager, al-Azraq, leben seit Jahren um 40 000 syrische und irakische Flüchtlinge, darunter etwa 300 elternlose Jugendliche.
Corona: Jordanien war das erste Land der Welt, das mit
Covid-Impfungen für Flüchtlinge begonnen hat. ~Cap