« Nur eine faule Wöchnerin gibt eine gesunde Mutter »

Ursula Bühler ist seit 48 Jahren Hebamme. Im Interview spricht sie über Geburtentrends, selbstbestimmte Frauen und Grossmütter im Gebärsaal.

Interview: Karin Dehmer

Frau Bühler, Sie haben die Ausbildung zu einer Zeit aufgenommen, in der man noch ohne Ultraschall oder vorgeburtliche Abklärungen auskommen musste?
Ganz am Anfang ja. Da gab es noch keinen Ultraschall und keine Kardiotokografie, mit deren Hilfe die Herztöne des Kindes oder Wehen überwacht werden konnten. Wir hatten lediglich das Pinard-Hörrohr aus Holz.

Was vermutlich mehr Überraschungen unter der Geburt zur Folge hatte als dies heute der Fall ist?
Vor allem bei Zwillingsgeburten, ja. Fehlbildungen erkannte man noch länger nicht, selbst als es schon Ultraschall gab. Die ersten Geräte waren dafür noch zu ungenau. Man sah den Kopf und die Wirbelsäule, den Knochenbau, mehr nicht. Kein Vergleich zu was man heute alles sehen kann.

Erinnern Sie sich an die kürzeste beziehungsweise die längste Geburt, die Sie begleitet haben?
Bei den kürzesten Geburten ist das Kind schon da, wenn ich eintreffe. Bei Hausgeburten kommt das immer wieder vor. Und natürlich gibt es Frauen, die über mehrere Tage Wehen haben, ohne dass es vorwärtsgeht. Die schickt man heute vom Spital aber wieder nach Hause, in die Ruhe. In meinen Anfängen war das anders. Da hat man ab der ersten Wehe vorwärtsgemacht. Es herrschte eine Autorität im Gebärsaal wie sie heute unvorstellbar ist. Man hat über die Frauen verfügt und bestimmt.

Inwiefern?
Sobald sie mit Wehen ins Spital kamen, hat man ihnen einen Einlauf verpasst. Dann wurden die Schamhaare rasiert. Dammschnitte wurden ohne Absprache oder Vorwarnung vorgenommen und nach der Geburt wurden die Babys abgenabelt und sofort fortgetragen. Gewaschen und angezogen brachte man sie erst später den Müttern. Heute werden die Neugeborenen den Müttern auf die Brust gelegt, so können sie sich erholen und ankommen. Die Eltern erhalten Zeit, das Kind kennenzulernen. Meistens krabbelt es dann von selbst zur Brust, um das erste Mal zu trinken.

Die Frauen sind heute selbstbewusster oder selbstbestimmter, oder?
Sie wissen vor allem mehr als früher. Die meisten sind sehr gut informiert.

Ist das eher ein Segen oder ein Fluch?
Ich finde es gut. Einzig manchmal halten sich negative Erlebnisberichte hartnäckiger in den Köpfen als die Tatsache, dass 85 Prozent aller Geburten normal und ohne Komplikationen verlaufen. Aber klar, auch ich kann die Tatsache nicht schönreden: Eine Geburt ist wie die Besteigung eines Viertausenders ohne Training.

Stimmt es, dass der Trend der Wassergeburten eher abnehmend ist?
Ich stelle keinen Rückgang fest. Wenn es möglich ist und sich die Frauen wohlfühlen, empfehle ich immer das Wasser. Das Schmerzempfinden ist anders, das Verletzungsrisiko kleiner.

Wie ist es mit der Kaiserschnittrate? Nimmt sie immer noch zu?
Das weiss ich nicht genau, aber sie ist sicher sehr hoch. Die Mütter sollen und dürfen heute frei entscheiden, während ein Kaiserschnitt früher nur für Situationen vorgesehen war, in denen man Mutter oder Kind vor Schaden bewahren musste.

Ich nehme an, der Eingriff ist heute auch niederschwelliger?
Das ist so. Heute braucht es keine Vollnarkose und für danach gibt es Medikamente, die es den Frauen ermöglichen, rasch wieder mobil zu sein. Früher lagen sie drei bis vier Tage an der Infusion, hatten einen Katheter. Trotzdem, wie bei allen anderen Operationen, besteht ein gewisses Risiko.

Was berichten Frauen, die beides erlebt haben, eine natürliche und eine Kaiserschnittgeburt?
Nicht wenige sagen, dass sie die natürliche Geburt besser fanden, weil sie direkt nach dem Gebären aufstehen, duschen, sich von Anfang an voll ums Kind kümmern konnten.

Wie begegnen die Schwangeren Ängsten vor Verletzungen im Schambereich?
Auch das hat sich verändert. Früher wurden solche Sachen gar nicht thematisiert. Ich erkläre, was hilft, das Gewebe elastisch und dehnbar zu machen: die Dammmassage und Heublumendampfbäder oder warme Kompressen. Heute ist es zudem so, dass man nach Möglichkeit auf einen Dammschnitt verzichtet. Man weiss mittlerweile, dass Risse, die auf natürliche Weise entstanden sind, besser heilen als ein Schnitt.

Mich haben vor 18 Jahren Erzählungen von Freundinnen abgeschreckt, die erzählten, wie sie unter der Geburt um Schmerzmedikamente gebeten haben, von den Hebammen allerdings abgewimmelt wurden. Sie fühlten sich übergangen und waren sehr frustriert darüber.
Auch das hat sich in den letzten Jahren geändert. Es war tatsächlich so, dass man, wenn die Geburt kurz bevorstand, die Frauen dazu motiviert hat, auf die Medikamente zu verzichten, weil diese den Prozess ins Stocken bringen. Heute versucht man aber, auch in der letzten Phase den Frauen jeden Wunsch zu erfüllen. Damit sie eben nicht frustriert aus der Geburtssituation herauskommen. Allerdings: In der Schlussphase würden viele Gebärende alles nehmen, was man ihnen anbieten kann. Dann sind die Schmerzen einfach sehr intensiv.

Wie motivieren Sie in diesen Momenten die Gebärenden?
Ich sage den Frauen schon im Vorfeld, dass sie in jenem Moment versuchen sollen, dranzubleiben und nicht aufzugeben. Eine Periduralanästhesie (PDA) zu diesem Zeitpunkt drosselt den ganzen Geburtsprozess. Zuerst müssen die Wehen gebremst und danach wieder angekurbelt werden. Das haben oft auch die Kinder nicht so gern.

Eine Möglichkeit, die Frauen, die eine Hausgeburt wählen, gar nicht haben.
Nein, die wissen, dass es diese Möglichkeit nicht gibt. Wenn die Erschöpfung zu gross wird, der Geburtsverlauf sich zu lange hinzieht, kommt es aber auch da vor, dass entschieden wird, die Gebärende ins Spital zu verlegen, wo sie medikamentöse Unterstützung erhält.

Was tun Sie, wenn Frauen unter der Geburt sagen «Ich kann nicht mehr»?
Dann muss man herausfinden, weshalb. Ist es fehlende Energie, der man mit einem Getränk oder einer ­Infusion entgegenwirken kann? Wenn es wegen des Schmerzes ist, kommt die Medikamentenpalette zum Zug. Jedenfalls, wenn die Geburt im Spital stattfindet. Zu Hause ist die Medikation ­eingeschränkt. Man kann vorher alles mit den Frauen besprechen, aber unter der Geburt kann es sich um 180 Grad wenden.

Sind die Väter eigentlich die richtigen Begleitpersonen im Gebärsaal?
Ich finde ja. Heute wollen die Väter in den allermeisten Fällen unbedingt dabei sein. Auch Väter aus Kulturen, in denen das sonst nicht üblich ist.

Kommt es vor, dass ein Vater mehr Betreuung braucht als die ­Gebärende?
Selten. Als Hebamme hat man natürlich auch die Väter im Auge. Da sagt man mal «Geh einen Kaffee trinken oder eine rauchen», wenn man merkt, es wird ihm zu viel. Bei den Hausgeburten ist es anders, da werden die Väter aktiv gebraucht. Sie müssen Tee kochen, Badwasser einlassen, für Handreichungen bereitstehen.

Haben Sie auch schon erlebt, dass mehr als ein potenzieller Vater bei der Geburt anwesend war, oder kommt das nur in Filmen vor?
Nein, das habe ich nie erlebt. Was vorkommt, ist, dass bei lesbischen Paaren der Samenspender dabei ist. Das sind besondere Geburten.

Nach 48 Jahren Geburtsbegleitung, werden Sie da noch emotional bei einer Entbindung?
Ja, jedes Mal, wenn das Kind da ist und alles gut gegangen ist, ist es ein emotionaler Moment, eine grosse Freude. Mich berührt es jedes Mal.

Hatten Sie auch schon werdende Grossmütter im Gebärsaal als Begleitung dabei?
Ja. Bei einer Mutter, bei der sich der Kindsvater während der Schwangerschaft verabschiedet hat. Sonst sind Grossmütter eher selten, ausser bei Schwangeren aus dem Balkangebiet, die mit dem Elternpaar zusammenleben.

Halten Sie Grossmütter als Begleitung im Gebärsaal grundsätzlich für eine gute Alternative?
Wenn die Gebärende es sich wünscht, ist eine Mutter eine gute Begleiterin. Bei der Schwiegermutter muss das Verhältnis schon sehr innig sein, denn sonst sind Konflikte vorprogrammiert, wenn etwas nicht optimal verläuft, denn es geht um das Kind ihres Sohnes. Die Hebamme muss in diesem Fall besonders aufmerksam sein.

Sie waren bei den Geburten Ihrer Enkelkinder nicht dabei?
Nein. Ich habe wie andere Grossmütter während des Wochenbetts meiner Töchter die Wäsche gewaschen oder Essen gebracht.

Ist Ihnen das leichtgefallen?
Ja. Diese Abgrenzung haben meine Töchter und auch ich gebraucht.

Inwiefern hat sich die Stillbereitschaft der Mütter verändert?
Während und nach meiner Ausbildung erfolgte Stillen strikt nach Fahrplan. Alle vier Stunden. Die Babys wurden vorher und nachher gewogen, und wenn sie zu wenig Gewicht hatten, setzte das die Mütter enorm unter Druck. Während des Wochenbetts im Spital haben sie ihre Babys nur zum Stillen gesehen. Heute ist freies Stillen die Normalität und Rooming-in ist in den Spitälern normal. Ich erlebe die Frauen heute als sehr motiviert fürs Stillen. Sie tun viel dafür, dass es auch klappt.

Wie lange stillen Frauen heute durchschnittlich?
Es kommt auf die Arbeitssituation an. Und auch auf die Nationalität. Afrikaner­innen stillen oft bis zum zweiten Lebensjahr. Schweizerinnen in der Regel sechs bis sieben Monate, wenn es die Arbeit erlaubt, auch bis zu einem Jahr.

Was raten Sie einer Frau, die im letzten Drittel schwanger ist?
Dass sie nicht bis zum Schluss arbeiten soll. Bei uns ist das ja im Vergleich zu Österreich oder Deutschland leider nicht gesetzlich geregelt. Ich empfehle allen Frauen, in der 37. Woche aufzuhören. Damit die Gedanken an die Arbeit verstummt sind, wenn das Kind dann kommt. Ich rate auch dazu, die Wochenbettzeit zu organisieren. Dem Vater erklären, wie die Waschmaschine funktioniert, falls er das nicht weiss, Essen vorzukochen und einfrieren. Freunde, die Hilfe anbieten, sollen gleich verbindlich eingeplant werden: Bäder putzen, die Wohnung staubsaugen, kochen. Man soll sich trauen, die angebotene Hilfe auch einzufordern. Es ist einfach wichtig, dass die Mütter im Wochenbett genug Ruhe haben und nicht zu viel machen. Ich sage immer: Nur eine faule Wöchnerin gibt eine gesunde Mutter. Wenn sie sich fit fühlen, stehen sie dann aber trotzdem viel zu früh wieder in einem Einkaufszentrum. •

Ursula Bühler (69) hat von 1970 bis 1973 eine Lehre zur Hebamme absolviert (*).Danach arbeitete sie fünf Jahre in einem Spital, später als Freipraktizierende und von 1996 bis 2015 als Beleghebamme in der Frauenklinik des Inselspitals Bern. Seit 2015 ist sie in einem kleinen Pensum wieder freipraktizierend tätig. Sie hat vier Töchter und vier Enkelkinder.
* Heute sind die Voraussetzungen für die Erlernung des Hebammenberufs eine Matur und anschliessend ein dreijähriges Fachhochschulstudium