Von Klaus Petrus (Text und Bild)
Die ersten sieben Tage des Krieges verbrachte Elena (68) in einem Bunker bei Kiew. Dann machte sie sich mit ihrer Tochter und zwei Enkelinnen auf die Flucht Richtung Deutschland.
Und dann waren sie plötzlich überall, sie besetzten Regierungsgebäude, fuhren mit den Panzern durch die Strassen, versteckten ihre Heckenschützen. Später warfen sie Bomben auf den Flughafen nur wenige Kilometer ausserhalb der Stadt. Da begannen die Menschen zu fliehen. Zuerst waren es nur wenige, die Sack und Pack auf das Dach ihres Autos schnürten, dann tausende, zehntausende. Viele fuhren nach Westen, manche ostwärts, von wo noch mehr Panzer anrollten. Auch Elena* hatte Angst. Das Donnern der Raketen wurde lauter mit jedem Tag. Sie sass in ihrem Haus am Stadtrand, allein, der Mann voriges Jahr verstorben, ihre Tochter Nadja mit dem Ehemann und den beiden Kindern 700 Kilometer weit weg. «Pack das Nötigste zusammen, komm zu uns», hatte Nadja am Telefon gesagt. Elena zögerte. Hier war sie geboren worden, hier war sie zur Schule gegangen, hatte geheiratet und gearbeitet. Irgendwann lagen Tote auf der Strasse vor ihrem Haus. Mit dem Koffer und einer Handtasche stieg sie in den Zug und fuhr zu ihrer Tochter.
DIE ZWEITE FLUCHT
Das war im April 2014 in Donetsk, ganz im Osten der Ukraine. Fast acht Jahre später, am 25. Februar 2022, und dreissig Kilometer nördlich von Kyiv holten Sirenen, Schüsse und Sprengsätze die inzwischen 68-jährige Elena wieder ein. Ihre Enkelin Diana (15) wird es später so schildern: Zuerst sei da nur ein grelles Licht gewesen, das sich ausdehnte vor ihren Augen wie ein grosser weisser Ballon, dann kam der Knall, dumpf, ein zweiter und ein dritter, Menschen hätten geschrien und seien in alle Richtungen gerannt und der Himmel habe sich verfärbt, grosse schwarze Wolken überall, wie in einem Trickfilm sei das gewesen. Eine halbe Stunde später hatten sie ihre Rucksäcke gepackt: Pässe, Kleider und Schuhe, ein paar Andenken, Schminke, ein Buch, den Laptop. Als Elena und die Familie am selben Abend bei Freunden in einem Luftschutzkeller Unterschlupf fanden, gingen die Bilder von den Raketeneinschlägen und zerstörten Brücken in der Ortschaft Irpin, nur wenige Kilometer von ihrem Zuhause entfernt, bereits um die Welt.
Wie alle Ukrainer zwischen 18 und 60 Jahren wurden die beiden Männer ins Militär eingezogen. Für wie lange und was sie erwartet, das wissen sie nicht.
Sieben Tage harrte die Familie im Bunker aus, dann fuhren sie im Bus nach Kyiv, wo Kristina, Elenas ältere Enkelin und Nadjas Tochter, sie erwartete. Dort nahmen sie Abschied: von Evgeni, Nadjas Ehemann, und von Kristinas Freund, bei dem sie wohnte. Wie alle Ukrainer zwischen 18 und 60 Jahren wurden die beiden Männer ins Militär eingezogen. Für wie lange und was sie erwartet, das wissen sie nicht.
Mit dem Nachtzug fuhren die Frauen nach Záhony, einem kleinen Grenzbahnhof auf der ungarischen Seite. Dort wurden ihre Pässe kontrolliert, Hilfsorganisationen, unter ihnen viele christliche, nahmen sie in Empfang, sprachen tröstende Worte, schöpften warmes Essen. Die Nacht verbrachten sie in der Turnhalle der Schule, die im Auftrag der Gemeinde von Záhony in ein Massenlager umfunktioniert wurde. Wie viele der hunderttausenden Ukrainer, die bis jetzt die ungarische Grenze überquert haben, haben die vier Frauen ein Ziel; sie wollen nach Deutschland. Dort leben Bekannte von Elena. Sie stammen ebenfalls aus Donetsk in der Ostukraine und mussten 2014 in den Westen fliehen. «Viele vergessen, dass in unserem Land schon seit acht Jahren Krieg ist», sagt Nadja. Nach den Maidan-Protesten im November 2013 in Kyiv nahm Wladimir Putin im März 2014 die Halbinsel Krim ein und sicherte wenig später den prorussischen Separatisten im Donbas, wie die umkämpfte Region in der Ostukraine genannt wird, seine unbedingte Unterstützung zu. Daraufhin besetzten diese die Gebiete um Donetsk und Luhansk und riefen sie als unabhängige Volksrepubliken aus. Als Reaktion schickte die ukrainische Regierung ihr Militär in die Ostukraine. Der seit damals andauernde Krieg trieb 1,5 Millionen Menschen in die Flucht und forderte 13 000 Tote, unter ihnen 3300 Zivilisten – die Opfer seit diesem Februar nicht mitgezählt. Für die 47-jährige Nadja, die ihre Kindheit im Donbas verbrachte, war ein Leben in Ungewissheit lange Zeit Normalität. Erst als sie Anfang zwanzig und frisch verheiratet mit ihrem Ehemann in die Nähe von Kyiv zog – dort fand sie, anders als im wirtschaftlich maroden Osten, wenigstens Arbeit –, kehrte so etwas wie Ruhe in ihr Leben ein. Ihre Mutter dachte keinen Moment daran, wegzuziehen. «Was soll ich in einer Stadt wie Kyiv?», fragte Elena damals. Der Westen ist ihr bis heute irgendwie fremd geblieben, vielleicht zu modern; Elena ist gläubig, spricht russisch, sie schaute russisches Fernsehen, hörte russisches Radio. In Donetsk sei sie aber nicht aus politischen Gründen geblieben, mit dem Kreml habe sie nichts am Hut, sagt Elena. «Ich will bloss, dass dieser Krieg endlich aufhört, nach so langen Jahren.»
«Viele vergessen, dass in unserem Land schon seit acht Jahren Krieg ist», sagt Nadja.
Tatsächlich wird vieles, was Putin diese Tage verlauten lässt, Elena bekannt vorkommen. Von «guten Ukrainern» redet der russische Präsident nun schon seit Jahren und meint damit die Bewohner von «Neurussland», ein Ausdruck aus der Zarenzeit, der die südliche und östliche Ukraine benennt. Nur sie gehörten, wie die Belarussen, zum Brudervolk Russlands. Die «schlechten Ukrainer» dagegen kämen aus dem Westen und seien darauf aus, den Menschen im Osten ihre Werte aufzuzwingen. Schon bald bezeichneten die prorussischen Separatisten im Donbas sie als «Nazis». Diesem Narrativ entsprechend sprach Putin kurz nach dem Angriff denn auch davon, die Ukraine zu «entnazifizieren». «Putin gefällt nicht, in welche Richtung sich unser Land entwickelt», sagt Kristina, die 26-jährige Enkelin von Elena. Alle wüssten, dass eine unabhängige, ins westliche Bündnis strebende Ukraine für den russischen Präsidenten einen Affront auf der ganzen Linie darstelle. Und doch seien die meisten überrascht gewesen. Dass Putin im Frühjahr 2021 seinen Angriff in die Wege leitete, wie Geheimdienste warnten, nahm die ukrainische Bevölkerung kaum wahr. Damals stationierten sich im Rahmen einer russisch-belarussischen Militärübung an der ukrainischen Grenze Truppen, die nach Ende des Manövers nicht mehr abzogen. Die «Washington Post» zitierte eine anonyme Quelle aus dem US-Geheimdienst, wonach Putins Regierung Anfang 2022 eine Grossoffensive auf die Ukraine plane. Auch Kristina fürchtet inzwischen das Schlimmste: «Sie werden sich Kyiv holen. Erst kommen sie mit ihren Panzern, und wenn das nicht reicht, werfen sie Bomben über die Stadt.» Sie ruft jeden Tag den Vater an und redet mit ihrem Freund, er sei in Sorge, er fürchte sich und wisse nicht, was als Nächstes komme. «Ich versuche, ihn zu unterstützen so gut es geht, erzähle ihm, dass wir in Sicherheit sind und es uns an nichts fehlt.» Am liebsten wäre Kristina geblieben. Ihr Freund, ein paar Jahre älter als sie, ist Uhrenmechaniker, sie hat Biologie studiert, arbeitete bis vor vierzehn Tagen im Büro eines Unternehmens. Ein gutes Leben war das, sagt sie, als wäre es für immer vorbei.
Der Westen ist ihr bis heute irgendwie fremd geblieben, vielleicht zu modern; Elena ist gläubig, spricht russisch, sie schaute russisches Fernsehen, hörte
russisches Radio.
Eigentlich hätten Elena und ihre Familie das Land über die polnische Grenze verlassen wollen, dann aber war von langen Wartezeiten die Rede. Als sie in Záhony ankamen, waren sie überrascht, wie unkompliziert sie einreisen konnten, wie herzlich sie am Bahnhof empfangen wurden. Tatsächlich können Geflüchtete aus der Ukraine ohne Visabestimmungen mit einem «Solidaritätsticket» problemlos etwa nach Budapest weiterreisen. Damit trägt Ungarn den Entscheid der EU für eine schnelle und unkomplizierte Aufnahme ukrainischer Geflüchteter vollumfänglich mit. Was erstaunen mag, hat sich doch der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán seit dem Beginn der sogenannten Migrationskrise 2015 innerhalb der EU mit einer teils offen rassistischen Migrationspolitik positioniert.
Inzwischen ist am Bahnhof von Záhony auf Gleis 1 der Zug nach Budapest eingefahren. Kristina hat sich den zu grossen Pullover ihres Freundes übergezogen, Diana stapft in ihrer Astronautenjacke voran, Nadja und Elena folgen ihnen. Die Zugreise nach Budapest wird vier Stunden dauern, dann will die Familie weiter nach Deutschland. Tags darauf poppt auf dem Handy eine Nachricht einer der Enkelinnen auf: «Sind angekommen, müde, aber es geht uns gut.» •
Bei Redaktionsschluss Mitte April war die Familie in Deutschland, Diana hat die Schule begonnen, Kristina sucht Arbeit, bis dahin vergeblich. Vater und Freund sind beide in der Nähe von Kiew, sie waren bis jetzt nicht in Kriegshandlungen involviert und entsprechend wohlauf.
* alle Namen geändert
Mitarbeit: Sara Steiner