Silvia Binggeli, Chefredaktorin der «Schweizer Illustrierten», wuchs die ersten Jahre bei ihrer Grossmutter auf. Die Verbindung der beiden blieb tief und innig. Bis zu Brösmelis Tod – und darüber hinaus.
Exgüsé. Aber vielleicht kommen mir beim Erzählen die Tränen. Nicht aus Trauer. Sondern aus einem Gefühl des Gerührtseins und einer tiefen Dankbarkeit, dass ich eine solch nahe Bezugsperson in meinem Leben haben durfte. Als Brösmeli, wie ich sie nannte, meine Grossmutter mütterlicherseits, gestorben war, hat jemand zu mir gesagt: Sie war Heimat für dich. Und das war sie tatsächlich: Sie gab mir ein Gefühl von Heimat.
Meine Mutter, der ich ebenfalls sehr viel verdanke, war alleinerziehend und musste auch finanziell für uns sorgen. Tagsüber blieb ich deshalb bei Brösmeli – meine Grossmutter hiess eigentlich Jda. Wir wohnten nach dem Tod meines Grossvaters in meinen ersten Lebensjahren zu dritt in ihrem Haus in einem kleinen Berner Dorf auf einem Hügel. Das war eine Villa Kunterbunt, es gab viel zu entdecken, in und ums Haus. Wenn es nachts geschneit hat, sind wir zum Beispiel raus und haben um elf Uhr noch einen Schneemann gebaut. Zum Haus gehörte eine elektrische Mühle, die noch in Betrieb war, wo die Bauern ihr Korn zum Mahlen brachten. Das bedeutete viel Arbeit für meine Grossmutter. Und Abenteuer für mich.
Auch sonst war meine Grossmutter im Dorfleben verankert. Ich bin ihr bei all ihren Tätigkeiten einfach hinterherspaziert, wie ein Schatten: beim Holzholen zum Feuermachen im Ofen und bis auf den Friedhof und in die Kirche, wo sie sich um die Gräber kümmerte und Blumen arrangierte – beide Orte wurden für mich zu Spielplätzen. In jungen Jahren durfte ich sogar bei ihr im Bett schlafen. Als Kind habe ich gedacht: Brösmeli darf nie sterben! Falls doch, muss ich sie ausstopfen.
Wir hatten eine offene Türe, die Leute kamen und blieben gern auf einen Kafi fertig. Denn meine Grossmutter war eine sehr warmherzige, gesellige und lustige Person. Auch ein Tanzfüdli, sie ging auch gerne mal bis zwei Uhr morgens an ein Fest in einem umliegenden Ort tanzen, sie tanzte hervorragend, besonders gerne Englisch Walzer. Die Herzen flogen ihr zu und man fühlte sich aufgehoben bei ihr. Das heisst aber nicht, dass sie immer nur lieb und nett war. Sie konnte wunderbar wettern, wenn ihr etwas nicht passte.
Brösmeli hat nicht gewertet, andere nicht vorschnell in eine Schublade gesteckt, sie hatte lange Geduld, aber wenn sie mal ein Urteil gefällt hatte und man bei ihr aus gutem Grund in Ungnade fiel, war das sehr schwer zu revidieren. Von Natur aus war meine Grossmutter unfassbar grosszügig. Im Denken, im Handeln, im Andere-Sein-Lassen, wie sie sind. Das gab mir Raum zur Entfaltung und ich glaube, damit hat sie mich am meisten geprägt. Sie hat mich nicht vor allem materiell verwöhnt – aber ich durfte vor dem Mittagessen auch mal ein Stück Schokolade essen, länger aufbleiben, wenn spannender Besuch da war, mit den älteren Kindern draussen länger spielen. Sie lehrte mich Neugier. Aber es gab auch Grenzen – und dann konnte sie sehr streng werden.
Einmal im Hochsommer wollten mein Cousine, die zu Besuch war, und ich unbedingt auf einen Ponyhof in der Nähe. Es war vor dem Mittagessen und meine Grossmutter verbot es uns. Wir düsten trotzdem mit den Velos ein paar Kilometer den Berg hinunter. Unten waren wir schnell, nur um festzustellen, dass die Ponys nicht da waren. Und nun mühsam den Hang wieder hoch? Wir riefen unsere Grossmutter an und baten sie, uns schnell mit dem Auto abzuholen. Keine Chance. Sie sagte nur: «Wenn ihr alleine runter konntet, könnt ihr auch wieder alleine hoch. Viel Spass.»
Obwohl meine Grossmutter aus einfachen Verhältnissen stammte und sie nicht viel von der Welt gesehen hat, war sie immer offen und neugierig. Sie wäre eine gute Journalistin gewesen. Sie selbst hat ihre Fähigkeiten leider zeitlebens unterschätzt. Aber mir hat sie immer gesagt: «Ach, du kannst doch alles! Trau dich nur.»
Als ich Chefredaktorin der «Annabelle» wurde, war ihr erster Tipp: «Jetzt musst du gut umrühren.» Ich fragte verwundert wieso – sie war schon über 90, aber noch messerscharf in ihren Kommentaren. Ihre Antwort: «Na, damit nichts anbrennt.» Meine Ernennung zur Chefredaktorin der «Schweizer Illustrierten» hat sie leider nicht mehr miterlebt. Aber es gibt ein Cover der SI mit ihr, das ich ihr zum 80. Geburtstag geschenkt hatte – zu einer Zeit, wo ich bei der Schweizer Illustrierten meine Ausbildung zur Journalistin machte.
Wir blieben immer in engem Kontakt, ob ich nun in Zürich wohnte, als Journalistin durch die Welt reiste oder in New York weilte. Brösmeli und ich haben uns ernst genommen, sie besuchte mich bis kurz vor ihrem Tod in Zürich. Zwischen uns gab es diese unglaublich tiefe Verbindung. Als sie später in einer Pension lebte, erinnerte sie sich daran, dass sie doch einmal in die Toskana fahren wollte. Also packten mein damaliger Freund und ich sie ins Auto und fuhren nach Italien. Auf der Rückreise fanden wir bis spät in die Nacht hinein partout kein Hotel mehr. Brösmeli, 90 Jahre alt, auf dem Rücksitz am Dösen, sagte unaufgeregt: «Dann schlafen wir doch einfach am Strand!»
Sie war bis zum Schluss präsent, nie gefällig und vielleicht gerade deshalb eine sehr gute Ratgeberin. Auch heute denke ich täglich an sie und unterhalte mich in Gedanken mit ihr. Wenns sein muss, kann sie mir auch immer noch einen verbalen Tritt in den Hintern versetzen.•