Das Glas war und ist bei uns halb voll

SP-Fraktionschefin Samira Marti wuchs mit zwei selbstbestimmten Grossmüttern auf. Sie waren sehr stolz auf die Enkelin, über die in der Zeitung berichtet wurde. Und die sogar im Fernsehen kam.

Von Geraldine Capaul (Aufgezeichnet)

Samira Marti (30) aus Binningen (BL) ist Ökonomin, Nationalrätin und Co-Fraktionschefin der SP. Von 2017 bis 2020 war Marti Vize-Präsidentin der SP Baselland. Von 2018 bis 2021 übernahm sie das Präsidium der Gewerkschaft VPOD Region Basel. Marti rutschte 2018 in den Nationalrat nach. Sie war bei Amtsantritt die jüngste Nationalrätin. Samira Marti ist Mitglied der Staatspolitischen Kommission und der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit. 2020 wurde sie Vizepräsidentin der SP-Fraktion im Bundeshaus. Heute bildet sie zusammen mit Samuel Bendahan das Fraktionspräsidium. 


Kirschen pflücken – oder noch besser –
direkt essen: Samira und ihre Schwester
in den Baselbieter Kirschbäumen der
Grosseltern Marti

Als Christiane Brunner 1993 nicht in den Bundesrat gewählt wurde, reiste meine Mutter zusammen mit meiner Grossmutter väterlicherseits, Anna Marti, nach Bern an die Demo. Auf dem Bundesplatz reckte meine Mutter die Hand in die Luft und streckte den Mittelfinger Richtung Bundeshaus. Änni war zuerst überrascht, ja vielleicht auch etwas schockiert. Doch dann tat sie es meiner Mutter gleich. So standen die beiden Frauen, Schwiegermutter und -tochter, mit dem Mittelfinger in der Luft da und schrien sich ihren Frust von der Seele. Es war für Änni ein politischer Erweckungsmoment. 

Änni war eine selbstbestimmte Frau. Aus wohlhabenden Verhältnissen stammend, hat sie sich gegen den Willen ihres Vaters für eine Ehe mit meinem Grossvater entschieden, der aus einer einfachen Familie kam. Das war eine Revolution. Sie zog rasch weg aus dem Kanton Bern in die kleine Oberbaselbieter Gemeinde Diegten. Änni war eine Kämpferin, hat fünf Kinder grossgezogen, das Geld war knapp. Aus dem kleinen Dorf kam sie kaum raus. Aber das machte sie zu einer Tugend. Sie hat sich für den Naturschutz engagiert. Zum Beispiel hat sie ehrenamtlich Blumen im Wald gezählt, um Statistiken zur Biodiversität zu erfassen. Sie pflegte einen grossen Gemüse- und Blumengarten und hat das Fliegen bereits abgelehnt, als es noch absolut salonfähig war. Obwohl sie selbstbestimmt und politisch vor allem in Frauen- und Klimafragen interessiert war, hatte sie bis zur AHV kein eigenes Konto. Als es nach der Pension hiess, ihr Geld werde nur auf ein Konto einbezahlt, das auf ihren Namen lautet, schrieb sie der AHV einen Brief: «Liebe AHV, vielen Dank, dass Sie mir ein Konto möglich gemacht haben…»

Mit Änni

Änni war mit Leib und Seele Grossmutter. So hat sie zum Beispiel für alle neun Enkelkinder ein persönliches Foto-Album gestaltet. Wunderschön. Ich und meine beiden Geschwister waren sehr oft bei ihr und meinem Grossvater. Es war unsere Oase: Draussen sein, im Garten arbeiten, drinnen backen, die Häsli streicheln und Spiele spielen. Änni hat leidenschaftlich gern Spiele gespielt, was immer zum Streit mit meinem Grossvater führte, weil er doch eher ein unambitionierter Spieler war. Auf ihrem Stück Land haben wir Baselbieter Kirschen gepflückt – also wir Kinder haben vor allem gegessen. Änni war sehr musikalisch und hat trotz fehlendem Musikstudium als Klavierlehrerin gearbeitet. Zudem war sie eine hervorragende Orgelspielerin – und konnte sogar zweistimmig pfeifen! Musik war ein zentraler Pfeiler in ihrem Leben. Über meinen Vater hat sie das an mich weitergegeben. 

Meine Grossmuttter mütterlicherseits, Hanni Hauser, war politisch weniger energisch als Änni. Aber sie war bis ins hohe Alter eigenständig. Sie hatte sich früh von meinem Grossvater getrennt – zu einer Zeit, in der Scheidungen noch seltener als heute waren. Grossmami war eine humorvolle und gesellige Frau. Man hat sie im Dorf gekannt: als Mitwirkende in verschiedenen Chören, als Mitarbeiterin im Volg. Ja, sie hat sich eine eigenständige Biografie aufgebaut. 

Grossmami hat über Jahre hinweg am Freitag bei uns zuhause Mittagessen für uns drei Kinder gekocht. Das waren die besten – und nicht immer die gesündesten – Essen der Woche. Hörnli-Auflauf mit Schinken und viel Käse. Béchamelsauce mit Blumenkohl. Ihr geselliges Wesen und ihre Frohnatur haben sicher auf mich abgefärbt. Das Glas war und ist bei uns halb voll. Grossmami war nicht gern allein, der Austausch mit Menschen hat ihr immer Energie gegeben. Da geht es mir gleich. Grossmami hatte eine Lach-CD zuhause. Da war tatsächlich nur Lachen drauf. Wenn es ihr mal schlecht ging, hat sie einfach diese CD gehört. Irgendwann musste sie einfach mitlachen. 

Kuscheln mit Grossmami

Grossmami fand es sehr toll, dass ich Politik mache, auch wenn sie nicht immer meiner Meinung war. Ihre Freundinnen haben sie immer angerufen, wenn sie mich im Fernsehen gesehen haben. Dann wurde diskutiert. 

Beide Grossmütter sind mittlerweile leider gestorben. Aber sie haben meine politische Karriere noch erlebt und genau verfolgt. Sie haben jeden noch so kleinen Zeitungsartikel ausgeschnitten und aufgehoben. Und sie freuten sich jedes Mal, wenn sie mich im Fernsehen sahen. Sie waren sehr stolz auf mich.