Was bewegt Jung und Alt? Mit dem Generationen-Barometer 2020 hat das Berner Generationenhaus in Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut sotomo erstmals eine repräsentative Studie zur Lage der Generationen durchgeführt. Es fühlt den Puls der Schweizer Bevölkerung und will einen gesellschaftlichen Dialog über zukunftsfähige Beziehungen zwischen den Generationen anregen. Für das «Generationen-Barometer 2020» wurden im September 2020 insgesamt 3285 Personen aus der ganzen Schweiz befragt. Die Ergebnisse wurden Anfang November 2020 veröffentlicht. Im Interview hilft der emeritierte Titularprofessor Francois Höpflinger die wichtigsten Erkenntnisse der Studie einzuordnen.
Von Michael Fässler und Detlef Vögeli, Berner Generationenhaus (Interview)
François Höpflinger ist emeritierter Titularprofessor für Soziologie an der Universität Zürich. Er forschte während Jahrzehnten zu Alters-und Generationenfragen und ist unter anderem Mitglied der Leitungsgruppe des Zentrums für Gerontologie. Er ist Autor zahlreicher Studien und Publikationen zum Thema Alter, wie «Die Babyboomer. Eine Generation revolutioniert das Alter» (2009) oder der «Age Report», dessen vierte Ausgabe 2019 erschien.
Berner Generationenhaus: Der Begriff «OK Boomer» ist in aller Munde, seit sich im Jahr 2019 eine junge neuseeländische Abgeordnete mit den Worten gegen einen älteren Kollegen wehrte, der ihr Votum zum Klimaschutz unterbrechen wollte. Die New York Times prophezeite, «OK Boomer» markiere das Ende der freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Generationen. Ist das so?
François Höpflinger: Dass die Generationensolidarität abgenommen hat, lässt sich wissenschaftlich nicht belegen. Auch das Generationen-Barometer 2020 (siehe Box) zeigt, dass aktuell kein genereller Generationenkonflikt wahrgenommen wird. Andere gesellschaftliche Gegensätze, etwa zwischen Arm und Reich oder zwischen Stadt und Land, werden offenbar als tiefgreifender wahrgenommen.
« Die Babyboomer in der Schweiz sind zur
richtigen Zeit am richtigen Ort geboren worden. »
Das Generationen-Barometer zeigt, dass die Babyboomer-Generation, also die heute 65- bis 74-Jährigen, am zufriedensten ist mit dem Leben.
Die Babyboomer in der Schweiz sind zur richtigen Zeit am richtigen Ort geboren worden: Sie haben zuerst das Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg und dann das Aufbrechen der gesellschaftlichen Strukturen durch die 68er-Bewegung erlebt. Am Ende ihrer Karriere profitieren sie nun vom Aufbau des Sozialstaats wie niemand vor oder nach ihnen.
Ihnen gegenüber stehen die Befragten mittleren Alters, die sich in der Rushhour des Lebens befinden und sich stark unter Druck fühlen.
Die mittlere Lebensphase ist die intensivste. Es ist die Zeit, in der viele Menschen ihre Karrieren aufbauen und gleichzeitig eine Familie gründen. Die Gestressten mittleren Alters von heute sind dann diejenigen, die in drei Jahrzehnten pensioniert werden, obwohl sie noch mitten im Leben stehen. Deshalb halte ich die Einführung des Modells einer Lebensarbeitszeit als vielversprechend. Man könnte die Arbeitszeit auf mehr Lebensjahre verteilen und sich in der Mitte des Lebens einmal ein Sabbatical oder eine Teilzeitarbeit leisten.
Im Generationen-Barometer spricht sich die Gruppe der 18- bis 34-Jährigen am deutlichsten gegen das Modell einer Lebensarbeitszeit aus. Wie erklären Sie sich dieses Ergebnis?
Für jüngere Personen, die ihre berufliche Laufbahn erst begonnen haben oder mitten in familial-beruflichen Herausforderungen stehen, ist Lebensarbeitszeit ein eher abstraktes Konzept. Dazu kommt, dass in einer unsicheren Arbeitswelt die längerfristigen Berufsperspektiven unklar sind, was negative Reaktionen gegenüber langfristig angedachten Modellen wie demjenigen der Lebensarbeitszeit auslösen kann.
Das Generationen-Barometer zeigt auch: Das Wunschalter bei den 50-Jährigen liegt bei 39 Jahren, bei den 79-jährigen bei 56 Jahren. Ist es in unserer Gesellschaft gar nicht mehr erstrebenswert, jung zu sein?
Vielleicht könnte man es so formulieren: Man will zwar jung sein, aber nicht jugendlich. Dass sich immer mehr Menschen jung fühlen, ist historisch betrachtet eine neue Entwicklung. Das führt aus meiner Erfahrung mit generationenübergreifenden Projekten manchmal auch zu Konflikten, weil sich niemand der Involvierten als alt bekennen will.
Ist es an der Zeit, sich von gesellschaftlichen Generationenzuschreibungen zu lösen, weil sie in unserer individualisierten Welt gar nichts mehr über eine Gruppe von Menschen aussagen können?
Wir müssen uns nicht davon lösen, aber wir müssen uns im Klaren sein, wovon wir sprechen, wenn wir von Generationen sprechen. Sprechen wir von familialen Verhältnissen, historischen Prägungen oder unterschiedlichen Lebensperspektiven? Auf den Generationenbegriff verzichten könnte man aus meiner Sicht, wenn wir vom sozialpolitischen Generationenvertrag sprechen.
Ähnlich wie beim Klimawandel geht das Defizit der Altersvorsorge zulasten der nachkommenden Generationen – inklusive jener Generationen, die noch nicht geboren sind.
Weshalb?
Weil es kein Generationenvertrag ist, sondern ein finanzielles Umlagerungsverfahren von den Erwerbstätigen zu den Pensionierten: Diejenigen, die heute erwerbstätig sind, zahlen ein für diejenigen, die pensioniert sind. Der Begriff des Generationenvertrags stammt aus dem 18. Jahrhundert, als man innerfamiliär akribisch festgehalten hat, auf welche Güter und Lebensmittel die älteste Generation auf dem Hof am Lebensabend Anrecht hatte. Übertragen auf die Gesellschaft ist dieser Ansatz aber nicht mehr zukunftsfähig, da wir eine negative Generationenbilanz haben: Weil wir immer älter werden, zahlen immer weniger Leute für immer mehr Begünstigte ein. Wollen wir dieses System aufrechterhalten, müssen die Jüngeren mehr einbezahlen, länger arbeiten oder damit rechnen, später eine kleinere Rente zu erhalten. Ähnlich wie beim Klimawandel geht das Defizit der Altersvorsorge zulasten der nachkommenden Generationen – inklusive jener Generationen, die noch nicht geboren sind.
Wie schätzen Sie die Tatsache ein, dass es aufgrund der demografischen Entwicklung immer mehr ältere Menschen geben wird, die eine jüngere Minderheit überstimmen können?
Es ist ein Fakt, dass die unter 25-Jährigen in der Schweiz politisch stark untervertreten sind. Es kann gefährlich sein, wenn sich die ältere Generation nicht an neue Entwicklungen anpasst und damit Reformen blockiert, von denen primär jüngere Generationen profitieren. Glücklicherweise leben wir aber in einem Land mit einer starken Zivilgesellschaft, sodass man auch unabhängig von der herrschenden Mehrheit viel bewegen kann. Und die älteren Generationen werden auch über ihre Enkelkinder für andere Lebenswelten sensibilisiert. •
Generationen-Barometer 2020
Was bewegt Jung und Alt?
Mit dem Generationen-Barometer 2020 hat das Berner Generationenhaus in Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut sotomo erstmals eine repräsentative Studie zur Lage der Generationen durchgeführt. Es fühlt den Puls der Schweizer Bevölkerung und will einen gesellschaftlichen Dialog über zukunftsfähige Beziehungen zwischen den Generationen anregen. Für das «Generationen-Barometer 2020» wurden im September 2020 insgesamt 3285 Personen aus der ganzen Schweiz befragt. Die Ergebnisse wurden Anfang November 2020 veröffentlicht.