«Der Wald war unser Spielplatz»
Von Eveline Rutz (Aufgezeichnet)
Wie ihre Grosseltern ist Julia Stierli sehr familien- und naturverbunden. Die Nati-Spielerin aus Muri AG sagt, sie verdanke den Generationen vor ihr viel. «Ich kann mein Leben frei gestalten und den Traum einer Fussballkarriere verfolgen.»

Julia Stierli gehört zu den erfolgreichsten Fussballerinnen der Schweiz. Sie spielt im Frauen-A-Team und ist seit dieser Saison beim Deutschen Erstligisten SC Freiburg verpflichtet. Die 27-Jährige ist in Muri AG aufgewachsen, wo sie sich mit acht Jahren dem lokalen FC anschloss. Als Jugendliche trainierte sie im Ausbildungszentrum Huttwil, absolvierte ein Sportgymnasium und wechselte zum FC Aarau. Später spielte sie beim FC Zürich Frauen, mit dem sie sechs Mal den Schweizer-Meister-Titel und fünf Mal den Cup- Pokal gewann. Julia Stierli war in den ersten Jahren ihrer Karriere Stürmerin; inzwischen wird sie vor allem als Innenverteidigerin eingesetzt. Sie hat Physiotherapie studiert.
Mit meinen Grosseltern verbindet mich die Liebe zur Natur. Mein Grossvater väterlicherseits, Leonz Stierli, war als Waldarbeiter tätig. Mit meinen Eltern und meinem älteren Bruder habe ich ihn oft besucht, wenn er am Holzen war. Dann haben wir ein Feuer gemacht und zusammen gegessen. Für uns Kinder war das etwas vom Schönsten. Wir liebten es, Zeit im Wald zu verbringen – er war für uns ein grosser Spielplatz.
Mein Grossvater mütterlicherseits, Jakob Hunziker, war ebenfalls sehr naturverbunden. Er besass ein Stück Wald und konnte uns viel über Bäume erzählen. Er hatte zudem ein Bienenhaus und produzierte Honig. Auch mit ihm waren wir häufig draussen unterwegs – daran erinnere ich mich gerne. An seine Frau, Lotti Hunziker, habe ich dagegen keine eigenen Erinnerungen. Sie starb, als ich zwei Jahre alt war.
Sie backte besonders leckere «Schenkeli» und «Chröpfli», wie ich sie später nie mehr gegessen habe.
Die Mutter meines Vaters, Marie Stierli, habe ich ein bisschen besser kennengelernt. Sie lebte, bis ich vier Jahre alt war. Sie backte besonders leckere «Schenkeli» und «Chröpfli», wie ich sie später nie mehr gegessen habe. Bei diesen Grosseltern bin ich ein- und ausgegangen. Sie wohnten direkt neben uns und hielten als Nebenerwerb Tiere; Schweine und Kaninchen. Ich turnte gerne in ihrem Heustock herum, und ich durfte dabei sein, wenn sie im Herbst Most gepresst haben.
Leonz Stierli starb sechs Jahre nach seiner Frau. Er war ein Dorforiginal. Er hatte Humor und einen sturen Kopf – wie alle Stierlis. Das ist nicht negativ gemeint. Wir sind beharrlich und ehrgeizig. Wenn wir uns etwas vorgenommen haben, dann bleiben wir dran. Das hat mir in meiner Karriere geholfen. Diszipliniert und pflichtbewusst zu sein, habe ich aber auch von der Familie meiner Mutter gelernt. Da sind sich beide Seiten ähnlich. Meine Grosseltern haben alle viel und hart gearbeitet. Für Hobbys oder Ferien hatten sie kaum Zeit.
Die Begeisterung für den Fussball kommt von meinem Vater und dessen Zwillingsbruder. Sie haben viele Jahre im FC Muri gespielt. Wenn sie einen Match hatten, haben wir Kinder uns am Spielfeldrand getummelt. Das Geschehen auf dem Platz interessierte uns weniger. Es ist heute noch so: Ich gehe selten als Zuschauerin an einen Fussballmatch – ich spiele lieber selbst. Dieser Onkel und seine Familie waren auch Nachbarn. Meine Cousinen, mein Cousin, mein Bruder und ich sind zusammen aufgewachsen.
Wir haben im Garten gekickt und erste Tricks geübt. Später trainierten wir im FC Muri. Bis ich es mit 14 Jahren ins Ausbildungszentrum Huttwil schaffte und den Club wechselte, spielte ich bei den Buben. Das war nicht immer einfach, hat mir vom Niveau her aber entsprochen. Die Mädchenteams hatten meist schlechtere Bedingungen. Der Frauenfussball erhielt damals insgesamt wenig Aufmerksamkeit. In den Medien wurde er kaum thematisiert. Ich kannte keine berühmten Fussballerinnen. Das kam dann in Huttwil, wo ich auf grosse Namen wie Lara Dickenmann oder Ramona Bachmann aufmerksam wurde. Meine Cousine Michelle spielt heute auch auf Spitzensport-Niveau. Sie ist Verteidigerin beim FC Aarau.
Meine Grosseltern haben an den Hobbys aller ihre Enkelkinder Anteil genommen. Es war allerdings nicht so, dass sie mich ins Training oder an Matches begleitet hätten. Der Fussball hatte in unserer Beziehung keine besondere Bedeutung. Im Fernsehen wurden erst einzelne Begegnungen von Frauenteams gezeigt. Jakob Hunziker sah sich diese gerne an. Mich hat er jedoch nie in einer TV-Übertragung gesehen. Er starb, als ich 18 Jahre alt war.
Ich verdanke den Generationen vor mir viel. Ich bin sehr privilegiert aufgewachsen und kann mein Leben frei gestalten. Ich konnte studieren und kann meinen Traum einer Fussballkarriere verfolgen. Meine Grosseltern und Eltern hatten weniger gute Voraussetzungen. Sie haben bescheidener gelebt und viel gearbeitet. Uns allen sind die Familie und die Natur wichtig. Im Wald kann ich gut abschalten. Hier finde ich Ruhe – und ein Gefühl von Heimat.