Die Tochter unserer Autorin hat Legasthenie. Auch deren Grossmutter hat Legasthenie. Der Unterschied: Heute wird dem Kind geholfen. Und neue Studien bringen versöhnliche Resultate.


Von Sabine Born (Text)
Meine Tochter hat Legasthenie. Sie ist zehn, geht in die fünfte Klasse. Sie reitet und schwimmt gerne, trifft ihre Freundinnen, liebt YouTube-Videos und Lifehacks. Sie ist voller Ideen und Fragen über die Welt und was dahintersteckt. Und sie liebt Geschichten, die grossen Abenteuer von Harry Potter, Eragon und Tintenherz.
Ich habe ihr viel vorgelesen, tue es immer noch, denn die dicken Schinken sind für sie ein unerreichbarer Schatz, zu klein die Schrift, zu gross die Anstrengung, auch wenn das Lesen nicht der grosse Stolperstein ist. Die Rechtschreibung verursacht schon eher ein «Chrüsimüsi» und auch Mathe ist eine Welt, die sich ihr nur schwer erschliesst.
Erste Anzeichen erkannte die Lehrerin in der ersten Klasse, als sie ihr Heft falsch herum beschriftete. Später folgten Abklärungen an der Erziehungsberatung und die Diagnose Rechenschwäche und Legasthenie. Ein sogenannter Nachteilsausgleich soll nun Gerechtigkeit schaffen. Wie die Brille bei einer Sehschwäche. In ihrer Klasse haben drei weitere Kinder Legasthenie und eines die Diagnose Dyskalkulie. Das entspricht ungefähr dem Durchschnitt, wonach fünf bis 20 Prozent der Bevölkerung von Legasthenie und/oder Dyskalkulie betroffen sind – in unterschiedlichen Ausprägungen. Nicht selten kommt ein ADHS hinzu, was die Ausgangslage nochmals erschwert.
Mit Intelligenz hat Legasthenie nichts zu tun, sondern vielmehr mit einer anderen Denkweise: Legasthenikerinnen denken bildhaft. Während des Lesens formen sich Wörter zu Bildern, ähnlich einem filmischen Abriss. Zu Spielverderbern mutieren dann all jene Worte, denen kein Bild zugrunde liegt wie «aber», «zu», «jedoch» und bringen den Lesefluss ins Stocken.
Von neurologischen Erkrankungen sprechen die einen, von Lernschwierigkeiten die anderen. Gemeinsam ist den Definitionen die defizitorientierte Sichtweise, die allerdings nicht die ganze Wahrheit wiedergebe, betont Dr. Helen Taylor von der Cambridge Universität in ihrer neuen Forschungsarbeit und verlangt nach einer anderen Definition: «Legasthenie ist keine Schwäche, sondern eine Stärke.»
Das ist an und für sich keine neue Erkenntnis. Belege für einen Zusammenhang zwischen Legasthenie und Kreativität, Erfindergeist oder Unternehmertum erkannten Forscherinnen und Forscher bereits vor ihr.
Das neue an der Arbeit von Helen Taylor ist die evolutionäre Perspektive, die sie einnimmt. Wir Menschen passen uns seit Urzeiten verändernden Umwelten unglaublich flexibel an, und zwar weil wir uns auf zwei ergänzende Suchstrategien spezialisiert haben, die einen auf Exploitation (Verwertung), die anderen auf Exploration (Erkundung).
Was das nun genau mit Legasthenie zu tun hat, lässt sich vielleicht am besten an einem der vielen Kuchen erklären, die meine Tochter gerne backt. Nicht nach Rezepten – da muss man lesen, messen, rechnen und «alles tun, was das blöde Buch sagt» (Verwertung), sondern lieber Freestyle nach eigenen Ideen (Erkundung). Das schmeckt vielfach gut, manchmal weniger – so wie meine rezeptgetreuen Kuchen auch.
Ich bin gemäss Helen Taylor eine auf Verwertung spezialisierte Sucherin, meine Tochter eine Erkunderin und gemeinsam produzieren wir ein Survival-Kit, mit dem sich die Menschheit von der Urzeit bis heute bravourös durchgeschlagen hat. In der Schule war ich allerdings im Vorteil, denn hier erhält gute Noten, wer fliessend liest, die Rechtschreibung im Griff hat und Französisch-Wörter aus dem Ärmel schüttelt. Neues Terrain auf eigene Faust erkunden – das hat wenig Platz und kaum Gewicht im Zeugnis. Das muss man ändern, findet Wissenschaftlerin Helen Taylor, die selbst Legasthenikerin ist.
«Eine interessante Studie», findet Robin Hull, Präsident des Schweizerischen Verbands für Dyslexie (VDS), Autor und Rektor eines englischen Gymnasiums in Zürich. Von den beschriebenen Stärken ist er durchaus überzeugt, hält aber wenig davon, Legasthenie zu romantisieren, statt den Nachteil, den sie nun mal mit sich bringt, beim Namen zu nennen.
«Viel wichtiger scheint mir, Lehrpersonen für Legasthenie und Dyskalkulie zu sensibilisieren, Kinder systematisch abklären zu lassen und ihnen die sonderpädagogische Unterstützung zukommen zu lassen, die ihnen zusteht.» In England werden alle Kinder ab fünf Jahren abgeklärt. Es sei nebst Amerika das legastheniefreundlichste Land der Welt. Denn der Prozentsatz ungeklärter Legastheniker bei uns ist gross, ebenso wie die psychischen Schäden, die daraus resultieren können.
Legasthenie wird vielfach vererbt. Auch die Grossmutter meiner Tochter hatte Mühe mit Lesen und Schreiben. Abgeklärt wurde sie nie und die Schulzeit war eine einzige Strapaze. «Ich fühlte mich dumm», sagt sie rückblickend.
Meine Tochter hingegen wird gut unterstützt, mit Rückschlägen lernt sie umzugehen, und sie sagt pragmatisch: «Mir ist meine Legasthenie eigentlich ziemlich egal.» Ist das eine gute Einstellung? Keine Ahnung. Mir auf jeden Fall gefällt die Vorstellung, dass sie eine Erkunderin ist.
Was mir auch gefallen hat, ist der Vergleich mit den Bienen, den Helen Taylor gezogen hat. Denn interessanterweise liegt bei Bienen der Anteil an Scouts,
die die Futtertruppe eines Volkes bilden und die besonders entdeckerfreudig sind, ebenfalls bei fünf bis 25 Prozent. •