Von Ümit Yoker (Text) und Irene Meier (Illustration)
Finn schreit schwedisch und Laura deutsch. Babys können nämlich viel mehr, als ihre Muttersprache einfach wiederzuerkennen: Sie vermögen sie zu imitieren.
Bereits Neugeborene erkennen Stimme und auch Sprache ihrer Mutter, und sie ziehen sie allen anderen Stimmen und Sprachen gegenüber vor, das weiss man schon länger. Der Spracherwerb beginnt also keineswegs erst, wenn das Baby die ersten Silben formt oder Wörtchen spricht. Im letzten Trimester der Schwangerschaft fängt der Fötus an, Geräusche und Töne aus der Aussenwelt zu verarbeiten. Silben und Wörter dringen zwar nur verzerrt durch die Bauchdecke, dafür treten die sogenannten prosodischen Aspekte der Sprache umso stärker hervor: Melodie, Intonation, Rhythmus. Ein neugeborenes Baby nimmt seine Muttersprache zu Beginn also nicht anhand der Wörter und Sätze wahr, die wir in seiner Gegenwart sagen – sondern anhand der Weise, wie wir diese betonen. Doch, fragte sich die Biologin und Anthropologin Kathleen Wermke irgendwann, prägt die Muttersprache vielleicht auch, wie Neugeborene sich äussern, konkret: Weinen deutsche Babys deutsch? In einem ersten Experiment hat Wermke gemeinsam mit den Wissenschaftlerinnen Birgit Mampe, Angela Friederici und Anne Christophe deshalb wenige Tage alte Babys, in deren Umfeld ausschliesslich deutsch gesprochen wurde, mit Neugeborenen verglichen, deren Eltern zu Hause nur französisch redeten. Jedes Mal, wenn eines der Neugeborenen zu weinen begann, schalteten die Forscherinnen das Aufnahmegerät ein, und siehe da! Tatsächlich verschafft der kleine Émile seinem Unmut anders Luft als der kleine Emil, wie die Leiterin des Zentrums für vorsprachliche Entwicklung und Entwicklungsstörungen des Universitätsklinikums Würzburg und ihre Kolleginnen feststellten. Denn im Weinen der beiden Babys spiegeln sich Charakteristiken der jeweiligen Sprachmelodie wider: Steigt bei Émile die Tonhöhe zum Ende einer Sequenz hin an, wie es für das Französische typisch ist, schluchzt Emil mit fallender Intonation.
Bereits nach der Geburt haben Babys also die dominante Sprachmelodie ihres Umfelds nicht nur abgespeichert, sondern können sie auch reproduzieren. «Neugeborene sind äusserst motiviert, das Verhalten ihrer Mutter zu imitieren, um diese an sich zu binden», schreiben die Forscherinnen dazu als mögliche Erklärung. «Die Sprachmelodie ist vermutlich der einzige Aspekt der mütterlichen Sprache, den Babys schon so früh im Leben imitieren können.»
In den vergangenen Jahren hat Wermke ausserdem beobachtet, dass die Klagemelodien von Neugeborenen je nach Muttersprache auch unterschiedlich komplex ausfallen. So verglich sie deutschsprachige Babys unter anderem mit Neugeborenen aus China und Kamerun, deren Eltern Mandarin beziehungsweise Lamnso sprachen, eine Sprache aus dem Nordwesten des afrikanischen Landes. Sowohl Mandarin als auch Lamnso sind tonale Sprachen. Das bedeutet, dass der Ton beziehungsweise dessen Höhe und Verlauf fester Bestandteil eines Wortes oder Wortteiles sind. In nicht tonalen Sprachen wie Deutsch hingegen beeinflussen Melodie und Intonation die Bedeutung eines Wortes nicht. Sie dienen dort einzig dazu, grammatikalische Strukturen wie etwa Fragen zu markieren oder bestimmte Satzglieder hervorzuheben. Chinesische und kamerunische Neugeborene weinen entsprechend in weit mehr Tonvariationen als deutsche Babys.
Ähnliches stellten Wermke und Kollegen bei schwedischsprachigen Neugeborenen fest: Auch sie lassen ihr Umfeld in komplexeren Melodieverläufen wissen, dass sie gerade müde oder hungrig sind. Schwedisch ist zwar keine eindeutig tonale Sprache. Aber sie unterscheidet sich aufgrund der verschiedenen Wortakzente, die ihr den charakteristischen Singsang verleihen, doch klar von nicht tonalen Sprachen wie Deutsch.
Doch was nützt es, zu wissen, dass die eigene Enkelin anders weint als der schwedische Nachbarsbub, wenn sie schon den ganzen Morgen untröstlich ist? In erster Linie helfe aufgebrachten Babys natürlich, dass man selbst möglichst viel Ruhe ausstrahle, sagt Wermke am Telefon. Aber es gebe noch einen anderen Weg: die intensive Frequenzmodulation. «Ich mache Ihnen das gleich einmal vor», ergänzt die Forscherin, und schon erklingt am anderen Ende der Leitung ein langgezogenes Jaulen, fast, als heule ein Wolf den Mond an. «Das habe ich schon öfter in der Kita meiner Enkelin ausprobiert», erzählt Wermke lächelnd. «Funktioniert jedes Mal.»•