Die Schriftstellerin Simone Meier über ihre Grosseltern

von SIMONE MEIER (Text)

Ich suche gerade nach der ersten Erinnerung an meine Grossmutter. Doch da sind unzählige frühe Erinnerungen, aber keine erste. Mit meiner Grossmutter war es wie mit meinen Eltern: Meine Eltern waren immer da, aber meine Grossmutter war auch immer da. Und bei einigen Dingen weiss ich nicht mehr, wer sie mir beigebracht hat. Ich bin mir zum Beispiel ziemlich, aber nicht ganz sicher, dass mir meine Grossmutter, die nach dem frühen Tod ihres Mannes einen starken Halt im Kirchlichen fand, das Vaterunser beigebracht hat. Auf jeden Fall kam mit ihr Folgendes in mein Leben: Eine einfache Spinatwähe mit Speckwürfeli, knusprige Bricelets aus dem Bretzeleisen, sogenannter Handytoast aus der Toastpresse, Monopoly, Glitzerstoffe und ein Pferd. Gut, das Pferd war weder echt noch ein Schaukelpferd, das Pferd bestand aus meiner Grossmutter selbst.

1 Vor ihrer Heirat war Hedi Baumann Näherin in der Fabrik des Textilimperiums der Firma Fehlmann in Schöftland. Hier ist eins der wenigen überlieferten Fotos von ihrem Nebenjob als Mannequin für die Fehlmann-Kataloge zu sehen, vermutlich um 1940.
2 Ein Sommertag in den 70ern bei uns zu Hause, Grosi und mein Bruder (rechts) posieren, ich versuche, möglichst wenig Platz im Bild einzunehmen.
3 Am 1. Mai 1968 heirateten meine Eltern. Im Bild meine beiden Grossmütter Frieda (mütterlicherseits, links) und Hedi oder Hedwig, wie sie sich gerne nannte.
4 Im Sommer 1944 heiratet Hedi Baumann den Fussballer, Maler und Angestellten der Wynental- und Suhrental-bahn Walter Meier. Sie ist 23, er 30 Jahre alt. Als mein Vater im Som­­mer 1945 zur Welt kommt, ist er das erste Nachkriegs-Baby von Schöftland. Sagt jedenfalls die Legende.
5 1972 an der Taufe meines Bru­ders Samuel. Ich bin das Kind, das versucht, aus dem Bild zu laufen, meine Grossmutter besticht durch ihr kühn gemustertes und höchstwahrscheinlich selbst genähtes Kleid.
6 Grosi 1996.

Als ich 1970 zur Welt kam, war sie 49 Jahre alt und seit einigen Monaten Witwe. Mein Grossvater war an einer Lungenentzündung gestorben, er habe sich, sagte sie, von ihr mit den Worten verabschiedet: «Ich habe geträumt, ich wäre im Himmel, es war sehr schön dort.» Sie sagte auch, dass ich und mein Bruder, der zwei Jahre nach mir kam, ihr das Leben gerettet hätten. Vielleicht liess sie sich deshalb dazu überreden, mein Pferd zu sein. Ich wollte nämlich als Kind jahrelang mit ihr «Schneewittchen» spielen, und dabei war es wichtig, dass sie alle Rollen übernahm, die ich selbst nicht spielen wollte, also alle ausser dem Schneewittchen. Sie war die böse Königin, der Jäger im Wald, der Prinz und vor allem das Pferd des Prinzen, auf dem auch Schneewittchen gerne viel Zeit verbrachte. Nur die Zwerge liessen wir weg, denn die fand ich damals doof. Und so drehten wir denn wieder und wieder unsere Runden durch unser Haus oder die Wohnung meiner Grossmutter, sie auf allen Vieren und ich auf ihrem Rücken sitzend. Sie muss damals ein paar Jahre älter gewesen sein als ich heute, und ich würde mich bedanken, wenn mich jetzt ein Kind darum bäte, sein Pferd zu sein.
Später spielten wir tagelang in ihrer Blockwohnung im aargauischen Schöftland an einem kleinem Campingtisch Monopoly und bereicherten uns schamlos. Dazwischen assen wir Spinatwähe und zum Dessert gab es Vanillecreme mit einem Schuss Strohrum. Und ich durfte so lang in Grossmutters Glitzer-Gilet oder mit ihrer schwarz-goldenen Stola rumspazieren, wie ich wollte. Schliesslich hatte meine Grossmutter eine Ahnung von Mode. Als junge Frau hatte sie in einer Fabrik Kleider genäht, und weil sie ausnehmend hübsch war, durfte sie in den Kleidern, die sie unter der Woche fabrizierte, am Wochenende für die Kataloge ihres Arbeitgebers modeln. Und an der Basler Mustermesse als Mannequin über den Laufsteg schreiten. Sie hat mir diese Episoden wieder und wieder erzählt und dabei aus einem sehr bescheidenen Frauenleben einen Roman gemacht. Hat leuchtende Akzente gesetzt – auf einen Bühnenkuss beim Theaterspielen oder auf das Schneegestöber, in dem sich ein Liebespaar verabschiedet. Ich habe sie für diese Fähigkeit sehr bewundert.

In meiner Agenda aus dem Jahr 2012 steht am Sonntag, dem 29. Januar, genau eine Woche vor ihrem 91. Geburtstag: «16.10 Uhr, Grosi gestorben.» Ich kam kurz danach bei ihr an, mein Vater und seine Geschwister waren schon da, das Licht war sanft und ich wagte fast nicht, sie anzublicken, so bestimmt war ihr Gesicht in seinem letzten Schlaf. So königlich und vornehm. Wie eine, die Zeit ihres Lebens nichts anderes gemacht hat, als selbst auf Pferden zu sitzen.•


Simone Meier (50) ist eine Schweizer Journalistin und Schriftstellerin und sie lebt mit ihrer Partnerin in Zürich. Als Kultur- und Gesellschaftsredaktorin, heute beim Newsportal watson, schreibt sie Fernseh-
kritiken über den «Bachelor», Analysen zu gesellschaftlich relevanten Themen wie etwa Opferhass im Internet oder Porträts über Persönlichkeiten wie Judi Dench. Mittlerweile hat sie drei Romane veröffentlicht. Ihr erster – «Mein Lieb, mein Lieb, mein Leben» (Hoffmann und Campe Verlag) – ist eine Hommage an ihre Grossmutter (siehe Text). Ihr neuster Roman «Kuss» kam 2019 beim Kein & Aber Verlag heraus. Zusammen mit Nadia Brügger und Güzin Kar hat sie letztes Jahr zudem einen wichtigen Diskurs lanciert, indem sie unter dem Hashtag #dichterdran so über Schriftsteller twitterte, wie normalerweise nur Männer über Autorinnen schreiben. Die Tweets der drei Frauen sind in
einem Buch («Hemingways sexy Beine. #dichterdran», Kein & Aber Verlag, Zürich 2019) gesammelt erschienen.
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