Die vergessene Revolution

Dreissig Jahre ist es her, als das neue Eherecht in Kraft getreten ist. Die ehemalige Nationalrätin Judith Stamm (CVP) erinnert sich an die damalige Debatte und ist gespannt auf die künftigen Diskussionen über die «Ehe für alle».

Von JUDITH STAMM (Text)  und MELANIE BORTER (Zeitstrahl)

Vor dreissig Jahren sank das Patriarchat in unserem Lande lautlos in sich zusammen. Denn am 1. Januar 1988 trat das neue Eherecht in Kraft. Aber so ganz ohne Nebengeräusche ging der Prozess natürlich nicht über die Bühne.

Das ursprünglich geltende Eherecht stammte als Teil des Zivilgesetzbuches vom Anfang des letzten Jahrhunderts, von 1907. Es lohnt sich, einige der markanten Vorschriften nochmals in Erinnerung zu rufen. «Der Ehemann ist das Haupt der Gemeinschaft. Er bestimmt die eheliche Wohnung und hat für den Unterhalt von Weib und Kind in gebührender Weise Sorge zu tragen», hiess es etwa. Klar war die Rollenverteilung geregelt durch den Satz: «Sie führt den Haushalt». Der Mann vertrat die Gemeinschaft nach aussen. Im Rahmen der «Schlüsselgewalt» konnte die Ehefrau «in der Fürsorge für die laufenden Bedürfnisse des Haushaltes» die Gemeinschaft neben dem Ehemann ebenfalls vertreten. War nun die Anschaffung eines Staubsaugers durch die «Schlüsselgewalt» gedeckt?, war eine Frage, die wir während meines Jusstudiums an der Universität Zürich wälzten. Nein, lautete die Antwort. Die Frau hatte vor dem Kauf die Zustimmung des Ehemannes einzuholen! Und ausserhäuslich erwerbstätig durfte sie nur mit ausdrücklicher oder stillschweigender Bewilligung des Ehemannes sein. Sie konnte sich die Bewilligung vor Gericht erstreiten, wenn sie darlegen konnte, dass die Ausübung eines Berufs oder Gewerbes im «Interesse der ehelichen Gemeinschaft oder der Familie» geboten war. Dass sie einen erlernten Beruf aus Freude und Interesse auch nach der Heirat ausüben wollte, war offenbar als Argument nicht gerichtstauglich.

Das sind zum Glück vergangene Zeiten. Erstaunlich ist, dass sie bis 1988 dauerten.

Als ich 1983 in den Nationalrat kam, waren die Beratungen eines neuen Eherechts schon sehr weit gediehen.
Alle Parlamentarierinnen, von rechts bis links, stellten sich in einem gemeinsamen Aufruf hinter dieses Gesetzeswerk. Das war nötig, denn das Referendum war ergriffen worden. Unter dem Slogan «Der Richter im Ehebett» sollte das neue, zeitgemässe Eherecht gebodigt werden. Das neue Recht entthronte den Mann als Oberhaupt der Familie. Es setzte auf partnerschaftliches Zusammenwirken. Da war es ein cleverer Schachzug der Gegner zu unterstellen, dass die Eheleute im Konfliktfall immer wieder zum Kadi laufen müssten oder könnten.

Die Frauen, unterstützt von fortschrittlichen Männern, gingen auf die Barrikaden. Ich erinnere mich an unzählige Veranstaltungen in jenem September 1985, an denen ich teilnahm. «Nicht mit mir», sagte mir ein sichtlich genervter Mann, der sich mit mir und ich mich mit ihm bei einer Standaktion anlegte. Ich musste lachen: «Nein, ganz sicher nicht mit Ihnen», stimmte ich ihm zu!

Am Abend des Abstimmungssonntags schloss die zuständige Justizministerin ihre Information über den Ausgang der Abstimmung am Fernsehen mit einem Augenzwinkern. «Und ich kann alle Eheleute beruhigen», sagte sie sinngemäss, «wenn Sie am nächsten Morgen erwachen, werden Sie immer noch Ihren Partner, Ihre Partnerin neben sich im Ehebett finden, und nicht den Richter.»

In unserem Land wird viel vom Kampf für das Frauenstimmrecht und über Gleichstellung geredet. Dass die Institution der Ehe noch bis 1988 rechtlich ein Hort der Ungleichstellung war, wird wenig thematisiert. Das ist erstaunlich.

Und jetzt? Was wird die Zukunft bringen? Auf Bundesebene ist ein Geschäft «Ehe für alle» in der Pipeline. Präziser gesagt, fordert die grünliberale Fraktion mit einer parlamentarischen Initiative, dass die Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet werden soll. Die Verwaltung wurde beauftragt abzuklären, was für Anpassungen in anderen Gesetzen bei einer Bejahung des Anliegens nötig würden. Dabei handelt es sich unter anderem um das Steuerrecht, das Sozialversicherungsrecht, das Ausländerrecht, das Adoptionsrecht und weitere Bereiche. Unklar ist auch noch, ob die Bundesverfassung ebenfalls geändert werden müsste. Der Bericht steht noch aus. Tempora mutantur nos et mutamur in illis, sagen die Lateiner: Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen». Vater dieses Gedankens soll der römische Dichter Ovid (43 v. Chr.– 17 n. Chr.) gewesen sein.

Ein Merkmal von heute ist es, dass sich die Zeiten rasend schnell ändern, und wir, einige von uns, da nicht immer so rasch mitkommen. Wenn das Geschäft «Ehe für alle» in unserem Land spruchreif sein wird, erwarte ich ausufernde Diskussionen. Immerhin sind uns Irland 2015 mit einer Volksabstimmung und Deutschland 2017 mit einer Entscheidung des Bundestages vorausgegangen. Von «Vorpreschen» also keine Spur!

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Vor 1870

Schon früh forderten Frauen, oft vermögende Bäuerinnen, Gewerbetreibende und Frauen der Oberschicht, eine Verbesserung ihrer Stellung im kantonalen Privatrecht. Auf eidgenössischer Ebene werden erste Frauenrechtlerinnen um 1870 aktiv.

1907

Das neue ZGB tritt in Kraft. Die erste Schweizer Juristin, Emilie Kempin-Spyri (1853–1901), setzt sich kritisch mit der zivilrechtlichen Stellung der Frau auseinander und macht Vorschläge für das künftige ZGB.

1962/65

Die Studienkommission des EJPD schlägt vor, die hierarchische Organisation der Ehe aufzuheben, den Entscheid über die Berufsausübung der Ehefrau allein zu überlassen, und stellt als neuen Güterstand die Eigenverwaltung zur Diskussion. Trotz eher negativen Reaktionen in der Vernehmlassung 1966 baut die Expertenkommission das partnerschaftliche Konzept weiter aus.

1966

Es kommt zu einem rasanten Anstieg der Scheidungshäufigkeit, was die Idee der Ehe als unauflösliche Institution erschüttert. In den 70er-Jahren wird deshalb das kurz bevorstehende Ende der Ehe prophezeit.

1971

Formell wird das Frauenstimmrecht in der Schweiz am 16. März 1971 wirksam.
Bis zur Einführung des Fr
auenstimmrechts in allen Kantonen vergehen allerdings noch weitere 20 Jahre. Appenzell Innerrhoden führt 1990 als letzter Kanton das Stimmrecht für Frauen ein.

1978

Kinder verheirateter und nichtverheirateter Eltern werden mit dem neuen Kindsrecht juristisch gleichgestellt. Die Eltern üben hrend der Ehe die elterliche Gewalt über die Kinder gemeinsam aus. Neu steht dem Vater bei Uneinigkeit der Eltern nicht mehr der Stichentscheid zu.

1981–1984

Der Entwurf zum neuen Eherecht erhält in beiden Kammern starke Unterstützung. Ein rechtsbürgerliches «Komitee gegen ein verfehltes Eherecht» um den damaligen Nationalrat Christoph Blocher (SVP) ergreift dennoch das Referendum. Das neue Eherecht übergehe die Bedürfnisse der Familie zugunsten der individuellen Bedürfnisse der Eheleute.

1985

In der Volksabstimmung vom 22. September wird das neue Eherecht mit 54,7 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Hohe Ja-Stimmenanteile (61 Prozent) verzeichnen die stark mobilisierten Frauen. Die Männer lehnen die Vorlage mit einem Nein-Stimmenanteil von 52 Prozent mehrheitlich ab.

1988

Das neue Eherecht tritt auf den 1. Januar in Kraft. Im Zentrum stehen die gleichberechtigte Partnerschaft sowie die gemeinsame Verantwortung der Ehegatten für die Kinder und den Familienunterhalt. Im bestehenden Recht nicht berücksichtigt sind die vielfältigen Formen familiären Zusammenlebens ausserhalb einer traditionellen Ehe.

Ab 1990

Das Scheidungsrecht, das noch aus dem Jahr 1907 stammt, soll revidiert werden. Im Zentrum steht neben der Abkehr vom Verschuldensprinzip die Forderung, die Altersvorsorgegelder, die in der zweiten Säule angespart werden, je hälftig aufzuteilen.

1996

Frauen stehen nach einer Scheidung materiell schlechter da als ihre Ex-Gatten. Zwei Drittel der Frauen, die während der Ehe nicht oder nur geringfügig erwerbstätig waren, verfügen nicht über das Existenzminimum.

2000

Nachdem kein Referendum zustande gekommen ist, tritt das neue Scheidungsrecht in Kraft. Wichtigste Neuerungen sind die hälftige Teilung der erworbenen Ansprüche an die berufliche Vorsorge sowie die Möglichkeit des gemeinsamen elterlichen Sorgerechts.

2004

Gewalthandlungen in Ehe und Partnerschaft werden neu von Amtes wegen als Delikte verfolgt und sanktioniert.

2013

Das neue Namensrecht ermöglicht, dass beide Eheleute ihren Namen behalten können und sich das Ehepaar frei für einen gemeinsamen Familiennamen entscheiden kann:
für den Ledignamen der Frau oder für den Ledignamen des Mannes. 

2017

Eine neue Regelung des Vorsorgeausgleichs bei Scheidung tritt in Kraft: Es kommt auch dann zur Teilung des Pensionskassenvermögens, wenn ein Ehepartner bereits in Rente oder invalid ist.
Damit werden die Benachteiligungen von Personen aufgehoben, die in einer Ehe Betreuungsaufgaben wahrgenommen haben und deshalb nicht über eine ausreichende berufliche Vorsorge verfügen.

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Judith Stamm (84) vertrat die CVP von 1983 – 1999 im Nationalrat, den sie 1996/97 präsidierte. Sie war 1989 – 1996 Präsidentin der Eidgenössischen ­Kommission für Frauenfragen und 1998 – 2007  Präsidentin der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft. Dieser Text erschien erstmals als Kolumne auf der städtischen Internetplattform Luzern60plus.
www.luzern60plus.ch

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Dieser Artikel stammt aus dem Grosseltern-Magazin 18/05, die sie gerne hier bestellen können und hier einen Blick hineinwerfen können.