Dossier: EXIT – zwischen Leben und Sterben

Entscheidet sich ein Grosselternteil, mit Exit aus dem Leben zu scheiden, ist das nicht nur der Weg dieses Menschen, sondern auch der Weg einer ganzen Familie. Was dabei schwierig und was tröstlich sein kann – davon erzählen in unserem Dossier die Sterbebegleiterin Erica Tanner und zwei Angehörige.

Von Anna Six (Text) und Irene Meier (Illustration)

«Die Schmerzen am Schluss wurden für dich zu gross, und so hast du selbstbestimmt, wie dein ganzes Leben auch war, mit Exit den für dich richtigen Abschied gewählt.»
Zeilen wie diese liest man noch nicht lange in Todesanzeigen. Zu bekennen, dass «unser liebes Mami, Schwiegermutter und Grosi» durch assistierten Suizid aus dem Leben gegangen ist – das wäre für viele Generationen undenkbar gewesen. Seit 1982 gibt es den Verein Exit, der in der Schweiz Freitodbegleitungen durchführt. Lange hatte die Organisation in der öffentlichen Wahrnehmung einen schweren Stand. «Todesengel» wurden ihre Mitarbeitenden auch schon genannt. 40 Jahre nach der Gründung von Exit ist das anders. Umfragen – etwa eine Studie der Universität Zürich – zeigen, dass die Mehrheit der Schweizer:innen die Möglichkeit von Suizidbeihilfe befürwortet.
Dass es hierzulande erlaubt ist, jemandem ein tödliches Medikament zu reichen, damit er sich das Leben nehmen kann, bleibt dennoch ein hochsensibles Thema. Erica Tanner aus Zürich, Jahrgang 1951, ist seit acht Jahren Exit-Begleitperson. Als ihre eigenen Eltern noch lebten, sagte sie ihnen nichts von dieser Tätigkeit. Heute spricht die 71-Jährige offen darüber, was sie mit sterbewilligen Menschen während der letzten Wochen erlebt – und mit deren Angehörigen. «Denn diese», sagt Tanner, «sind im Begleitprozess mindestens so wichtig.»
Wenn Erica Tanner in eine Familie tritt, sind einige Formalitäten bereits erfüllt. Für den Sterbewilligen muss ein ärztliches Zeugnis vorliegen, und seine Urteilsfähigkeit muss bescheinigt sein. Exit begleitet Menschen, wenn sie eine zum Tod führende Erkrankung haben, an subjektiv unerträglichen Schmerzen oder Behinderungen leiden. Zudem gibt es den erleichterten Altersfreitod: wenn keine unmittelbar tödliche Krankheit vorliegt, aber die Altersleiden für jemanden zu gross geworden sind. Bereits heute ist dies, nach Krebs im Endstadium, der zweithäufigste Grund, warum Menschen mit Exit ihr Leben beenden.
Dieser «Bilanzsuizid», wie er auch genannt wird, ist umstritten. Fühlen sich Betagte unter Druck, vorzeitig zu gehen, weil sie niemandem zur Last fallen wollen? Erica Tanner sagt, es sei ihre Pflicht, im Gespräch genau dies auszuschliessen. «Mein Ziel ist ohnehin nicht, dass jede Begleitung mit einem Suizid endet», stellt sie klar. Laut Tanner führt Exit pro Jahr 4000 Gespräche mit Suizidwilligen; von ihnen gehen etwa 1000 tatsächlich bis zum letzten Schritt. Das entspricht ungefähr 1,5 Prozent aller Todesfälle in der Schweiz.

«Zuhören ist das a und O»

Fürs Erstgespräch mit der sterbewilligen Person beruft Erica Tanner jeweils die eng in der Vorbereitung involvierten Angehörigen an den Tisch. «Manche überrascht das, aber ich finde es gut, wenn die wichtigsten Menschen aus der Familie dabei sind und alle das Gleiche hören.» Ein neuer Abschnitt auf dem gemeinsamen Weg beginnt – gleichsam der letzte. Die Sterbewilligen selbst hätten zu diesem Zeitpunkt manchmal fast einen Tunnelblick, beschreibt Tanner. Die Zweifel liegen dann hinter ihnen, der Mut ist gefasst. Und Mut brauche es viel, sich für einen begleiteten Suizid zu entscheiden: «Denn jeder Mensch will eigentlich leben.» Für die Angehörigen hingegen beginne der seelische Prozess jetzt erst. «Manche sind am Anfang schockiert, doch in der Regel verwandelt sich ihre Angst in ein Mittragen.»
Wie geht das? Wie bringt man Ehepartner:innen, Töchter, Söhne und vielleicht sogar Grosskinder dazu, das Ja ihres geliebten Menschen zum Tod mitzutragen? Die Exit-Begleiterin antwortet darauf, für sie sei Zuhören das A und O. «Ich versuche sehr wachsam zu sein für die Bedürfnisse der Angehörigen. Wer braucht was? Nicht nur am Tag X, sondern schon in den Wochen davor.» Hadert beispielsweise ein Sohn mit dem Wunsch des kranken Vaters, ihn am Sterbetermin dabeizuhaben, stellt Tanner Fragen: Worum geht es genau? Fürchtet der Sohn, den Sui­zid zu unterstützen? Sich gar mitschuldig zu machen? «Dann sage ich ihm, dass er auch einfach im Zimmer nebenan anwesend sein kann. Es gilt: Jeder und jede muss die Freiheit haben zu entscheiden, was für ihn oder sie zumutbar ist.»
Wenn Enkelkinder da sind, stellt sich die Frage, wie offen man mit ihnen über das Thema spricht. Erica Tanner versucht Eltern darin zu bestärken, dass sie ihr Kind gut kennen und im Grunde wissen, was sie ihm zumuten können und was nicht. Das Alter spielt dabei eine wichtige Rolle. Zehnjährige und Jüngere müssen aus ihrer Sicht nicht unbedingt erfahren, dass Oma oder Opa mit Exit stirbt. Eines aber ist für Tanner klar: «Wenn Kinder von sich aus fragen, soll man ihnen die Wahrheit sagen.» Aus dem begleiteten Suizid ein Tabu zu machen, damit sei niemandem gedient. «Kinder spüren sowieso ganz vieles.» Hilfreich könne beispielsweise sein, gemeinsam ein Ritual für die Beerdigung vorzubereiten.


In den Armen der Enkelin

Mit etwas älteren Enkelkindern hat Tanner schon höchst berührende Szenen erlebt. Sie erzählt: «In einem Fall waren diese 14 und 16 Jahre alt. Von klein auf hatten sie eine enge Beziehung zur Grossmutter gehabt. Die Enkelin wollte bei der Einnahme des Sterbemittels dabei sein, sie legte sich zur Grossmutter aufs Bett, hielt sie bei den letzten Atemzügen im Arm. Ihr Bruder entschied sich anders; er war den ganzen Tag zuvor bei der Grossmutter und nahm so Abschied.»
Das Beispiel verdeutlicht, was der Exit-Begleiterin wichtig ist: dass alle Beteiligten den für sich stimmigen Platz im Geschehen finden. Nicht selten muss der sterbewilligen Person vermittelt werden, dass die Angehörigen noch etwas Zeit brauchen, um sich aufs Endgültige einzustellen. Gemeinsam wird der Sterbetag festgelegt. Tanner spricht vom «Tag X».
Was läuft da genau ab? Der oder die Sterbewillige nimmt ein überdosiertes Narkosemittel ein, das innert Minuten zum Tod durch Atem- und Herzstillstand führt. Es gibt zwei Wege, sich das Natrium-Pentobarbital selbst zu verabreichen: mit einer Infusion, die man eigenhändig öffnet, oder aufgelöst in einem Glas Wasser. «Manchmal kann die Person nach dem Trinken noch ein paar Worte sagen, bevor ihr die Augen zufallen.» Fliesst das tödliche Medikament hingegen direkt in die Vene, schläft der Patient innert Kürze ein. «Man sieht, wie die Atmung immer flacher wird und irgendwann ausbleibt», sagt Erica Tanner. «Wir rennen dann nicht gleich ans Bett. Die Anwesenden dürfen spüren, dass dieser Mensch gegangen ist.»


Trauer und Nähe

Nach fünf bis zehn Minuten stellt die Exit-Begleiterin die fehlenden Lebenszeichen fest. Weil ein Suizid rechtlich als aussergewöhlicher Todesfall gilt, muss zu diesem Zeitpunkt die Polizei benachrichtigt werden. In der behördlichen Untersuchung wird geprüft, ob alles vorschriftsgemäss abgelaufen ist.
Etwa zwei Wochen nach einem Todesfall kontaktiert Erica Tanner nochmals die Familie. Oft höre sie dann, dass die Zeit des Verabschiedens bei aller Trauer auch als schön empfunden worden sei, Nähe hergestellt habe. Im Idealfall sind alle mit der Entscheidung des Verstorbenen im Reinen – und stehen sogar mit einer Todesanzeige dahinter, in der es zum Beispiel heisst: «Du hast mit Exit den für dich richtigen Abschied gewählt.»•


Die Rechtliche Situation

Die Hilfe zur Selbsttötung ist in der Schweiz nicht verboten, solange keine selbstsüchtigen Motive vorliegen. So steht es in Artikel 115 des Schweizerischen Strafgesetzbuches. Der Verein Exit spricht von Freitodbegleitung, andere Bezeichnungen sind assistierter Suizid, Suizidbeihilfe oder auch Sterbehilfe (wobei dieser Begriff ungenau ist). Der suizidwilligen Person wird die tödliche Substanz Natrium-Pentobarbital vermittelt; diese muss sie aber selbst einnehmen. Für das Medikament ist ein ärztliches Rezept erforderlich. Damit sei die Hilfe beim Freitod «in der Schweiz klar auch ärztliche Sterbehilfe», schreibt Exit auf seiner Website.
Freitodbegleitung darf gemäss Gesetz nur dann erfolgen, wenn die sterbewillige Person urteils- und handlungsfähig ist, von Dritten nicht beeinflusst wird, mögliche Alternativen zum Sterbewunsch kennt und dieser dauerhaft ist. Exit begleitet nur volljährige Vereinsmitglieder mit Schweizer Bürgerrecht oder mit Wohnsitz in der Schweiz. Langjährige Mitglieder haben dabei Vorrang gegenüber kurzfristig beigetretenen. Nach dreijähriger Mitgliedschaft ist die Suizidbegleitung kostenlos, andernfalls bezahlt man zwischen 1100 und 3700 Franken. Aktuell zählt Exit rund 155 000 Mitglieder. In der Schweiz existieren noch weitere Organisationen für Suizidbeihilfe. Die bekannteste unter ihnen, Dignitas, bietet ihre Dienste auch Menschen an, die zum Sterben aus anderen Ländern in die Schweiz reisen.


Exit in Heimen

Sind begleitete Suizide in den Schweizer Alters- und Pflegeheimen zugelassen? «Es gibt keine schweizweit geltende Regelung zu Exit in Alters- und Pflegeheimen. Wenn es keine kantonale Verpflichtung im Gesetz gibt, kann die Institution bestimmen, ob sie innerhalb ihrer Räumlichkeiten begleitete Suizide zulässt oder nicht», schreibt Curaviva, der Branchenverband der Dienstleister für Menschen im Alter. Curaviva ist Teil von Artiset, einer Gesamtorganisation verschiedener Verbände
in der Sozial- und Pflegebranche.
Viele Kantone verzichten auf eine einheitliche Regelung. Ausnahmen sind etwa Waadt oder der Kanton Genf, der sich am Waadtländischen Gesetz orientiert. Dieses gewährleistet den Bewohner:innen von Alters- und Pflegeheimen sowie den Patient:innen von privaten und öffentlichen medizinischen Einrichtungen die Möglichkeit, Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen. Es wird eine Aufsichtskommission eingesetzt, die hinzugezogen werden kann, wenn Zweifel an der Entscheidungsfreiheit oder Urteilsfähigkeit einer Person bestehen, die das möchte.
Curaviva empfiehlt Institutionen, die kantonal nicht verpflichtet und auch nicht bereit sind, Suizidbegleitung in ihren Räumlichkeiten zuzulassen, dies gegenüber der Bewohnerin oder dem Bewohner beim Eintritt klar zum Ausdruck zu bringen. Im Jahr 2021 fanden 147 (15 %) Freitodbegleitungen in Heimen und 784 (81 %) in privaten Haushalten statt.


Nachgefragt bei Ruth Baumann-­Hölzle,

Theologin und Leiterin des Instituts für Ethik im Gesundheitswesen der Stiftung Dialog Ethik. Diese widmet sich der Frage nach dem bestmöglichen Handeln im Sozial- und Gesundheitswesen. Unter anderem berät die Stiftung Patient:innen und Angehörige zum Thema Patienten­verfügung und bietet ein umfassendes Vorsorgedossier an. dialog-ethik.ch

Frau Baumann-Hölzle, die Stiftung Dialog Ethik ist bekannt für eine kritische Sicht auf den begleiteten Suizid. Droht Suizidhilfe die Solidarität der Gesellschaft mit Alten und Schwächeren zu unterwandern?
Im Jahr 2022 haben 15 % mehr Menschen Suizidbeihilfe bei Sterbehilfeorganisationen in Anspruch genommen. Auch in den Alters- und Pflegeheimen nimmt die Zahl kontinuierlich zu. Der existenzielle Entscheid, sich mit Hilfe anderer töten zu wollen, wird nicht im luftleeren Raum getroffen. Die sozialen Rahmenbedingungen beeinflussen diesen stark. Die Pflege und Betreuung von kranken und abhängigen Menschen sind in unserer Gesellschaft finanziell unter Druck. Denn was keinen Gewinn abwirft, wird rationiert. Hinzu kommt ein gravierender Fachkräftemangel. Die Folge davon sind oft prekäre Lebens- und Sterbesituationen. In diesem Kontext wird der Suizid zum Ausweg, denn er scheint effizient und kostensparend. Auf den ersten Blick sind Suizide von urteilsfähigen Menschen selbstbestimmt. Dies ist in einzelnen Situationen auch tatsächlich der Fall. Oft aber sind sie die Folge fehlender Sorgebereitschaft und Sorgeangebote der modernen Leistungsgesellschaft. Indirekt legt diese damit kranken und polymorbiden Menschen den Suizid nahe. So hat Yusuke Narita, ein japanischer Wirtschaftswissenschafter, Anfang dieses Jahres den Suizid bei alten Menschen als Rezept gegen die grosse Zunahme an alten Menschen propagiert. Darin zeigt sich der inhumane Kern der modernen Gesellschaft, in der das Leben selbst zunehmend von ökonomischen Zwängen vereinnahmt wird. Entsprechend lukrativ sind Sterbehilfeorganisationen.

Viele Menschen finden den Entscheid, mit Exit aus dem Leben zu scheiden, mutig. Was bedeutet aus Ihrer Sicht Mut am Lebensende?
Die Mutigen werden bewundert, Feiglinge hingegen werden verachtet. Verachtung ist feindselig. Die Kehrseite der Bewunderung von Suizidanten ist Verachtung vulnerablen Menschen gegenüber, die sich nicht töten wollen. Damit wird ihnen nicht nur der Anspruch auf Behandlung, Pflege und Betreuung abgesprochen und der Suizid nahegelegt, sondern in letzter Konsequenz wird aus dieser
Haltung auch die Fremdtötung als aktive Sterbe­hilfe ohne Einwilligung denkbar. Eine Entwicklung, die zur Vorsicht mahnt. Mut am Lebensende bedeutet, die eigene Vergänglichkeit und die Grenze menschlicher Machbarkeit als Teil des Lebens zu begreifen im Wissen darum, dass menschliche Grenzenlosigkeit zuerst zu Überheblichkeit und dann in den Abgrund führt.


Nachgefragt bei Georg Bosshard,

Facharzt für Allgemeine Innere Medizin, spezialisiert auf Geriatrie, Privatdozent für Klinische Ethik an der Universität Zürich und Mitglied der Ethikkommission von Exit.

Herr Bosshard, wieso braucht es eine Freitod­begleitung durch Exit, wenn es eine umfassende Palliative Care gibt?
Zum einen verbleiben auch bei optimaler Palliative Care immer Situationen, wo die Kontrolle von Symptomen wie Schmerz, Atemnot, Unruhe am Lebensende etc. nicht gelingt. Zumindest nicht ohne die Option eines ärztlich induzierten terminalen Tiefschlafes («terminale Sedation»). Zum anderen wählen manche Menschen den assistierten Suizid nicht primär wegen Angst vor Schmerzen oder Atemnot am Lebensende, sondern weil sie zum Beispiel eine schwere körperliche Abhängigkeit vermeiden wollen, wie sie im Endverlauf mancher Krankheiten oft nicht vermeidbar ist – auch nicht bei optimaler Palliative Care.

Ist es entweder Palliative Care oder Exit? Oder ein Miteinander?
Für die Gesellschaft als Ganzes handelt es sich keinesfalls um ein Entweder-Oder. Vielmehr sollte in einer modernen Gesellschaft beides verfügbar sein: eine hoch entwickelte und breit zugängliche Palliative Care und die Möglichkeit des assistierten Suizids. Wobei es in der Schweiz so ist, dass die beiden Bereiche (anders als etwa in Belgien) klar getrennt sind, sich aber gegenseitig respektieren.

Sie sind in der Ethik-Kommission von Exit und werden beratend hinzugezogen, wenn besonders schwierige Umstände vorliegen. Können Sie eine solche Situation schildern?
Eine konkrete Situation zu schildern, möchte ich aus Gründen der strikten Vertraulichkeit vermeiden. Allgemein lässt sich aber sagen, dass die der Kommission vorgelegten Fälle fast nie Menschen mit einer eindeutig zum Tod führenden Krankheit am Lebensende betreffen, sondern oft chronische, nicht selten auch psychiatrische Krankheitsbilder. Und die Begleit­umstände dieser Fälle sind immer komplex. Ein Beispiel sind schwierige Familiensituationen, in denen sich die Frage des adäquaten Umgangs mit nahen Angehörigen stellen kann, wenn eine sterbewillige Person kategorisch verlangt, diese sollten nicht über den geplanten Schritt informiert werden.


Palliative Care

Das Bundesamt für Gesundheit definiert Palliative Care folgendermassen: «Die umfassende Betreuung und die Behandlung von Menschen mit unheilbaren, lebensbedrohlichen und/oder chronisch fortschreitenden Krankheiten. Sie beugt Leiden und Komplikationen vor und beinhaltet medizinische Behandlungen,
pflegerische Interventionen sowie psychologische, soziale und spirituelle Unterstützung am Lebensende.» In der Palliative Care geht es darum, die Selbstbestimmung des schwerkranken Menschen zu stärken, indem das Leiden gelindert und somit eine bestmögliche Lebensqualität bis zum Ende ermöglicht werden soll. Pallifon, die kostenlose telefonische Notfallberatung für Palliativpatienten und Pflegende: 044 687 21 21


Büchertipps

In vielen Gesprächen hat der pensionierte Pfarrer Werner Kriesi der Autorin aus seinem Leben und von seinen Freitodbegleitungen erzählt. Eingeschoben sind Passagen über philosophische und theologische Fragen, über die Geschichte des Freitods und der Schweizer Sterbehilfe und über den gesellschaftlichen Wandel im Umgang mit dem Sterbewillen kranker und verzweifelter Menschen.

Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer
Werner Kriesi hilft sterben

Suzann-Viola Renninger. Limmat Verlag, 2021.
256 Seiten, 34 Franken.

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Das Sterbemittel Natrium-Pentobarbital kann nur von einer Ärztin oder einem Arzt verschrieben werden. Diese werden dabei mit moralischen Fragen konfrontiert, etwa: Darf ein Mensch im hohen Alter selbstbestimmt steraKrankheit hat? In Porträts kommen Betroffene und Angehörige zu Wort. Das Buch will das Gespräch über den assistierten Suizid ermöglichen.

Sterben müssen – sterben dürfen?
Freitodbegleitung und die Rolle des Arztes

Christophe Huber, Isabell Rüdt. Stämpfli Verlag, 2021.
160 Seiten, 34 Franken.

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Erfahrungsbericht

Vor acht Jahren starb der Vater von M. D. mit Exit.
Die ganze Familie stand hinter diesem Schritt.

«Mein Vater hatte zeitlebens gesagt, er wolle nie ein Pflegefall werden – und keine Chemotherapie je über sich ergehen lassen. Auf die Frühpensionierung freute er sich so. Eine Woche später erhielten wir die Diagnose: Krebs. Er schickte sich rein, es gab eine Operation und Chemotherapie. Er litt darunter. Auch, dass ihm seine vollen Haare ausfielen. Zwei Jahre später überkam ihn eine schwere Depression. Man fand heraus, dass ein Hirntumor diese auslöste. Als meine Schwester und ich ihn im Spital besuchten, weinten wir alle. Wir hatten ihn davor nie weinen sehen.
Im Zürcher Universitätsspital hiess es, eine neue Therapieform könnte erfolgreich sein. Er nahm mich mit zum Gespräch. Er fragte die Ärztin, ob ihm durch diese Therapie die Haare wieder ausfallen würden. Und wie lange er weiterzuleben hätte. Die Antwort: Ja – und zwei bis vier Jahre. Nach dem Termin sassen wir auf einem Bänkli vor dem Spital, die Sonne schien uns ins Gesicht. Es ist eines der Bilder aus jener Zeit, die ich nie mehr vergesse. Und einer dieser Sätze. Mein Vater sagte: ‹Ich mache das nicht mehr, verstehst du das?› Zwei bis vier Jahre seien wenig im Vergleich zum ganzen Leben – vor allem mit all seinen Beschwerden. Ich fragte mich, ob es meine moralische Pflicht sei, dagegenzuhalten. Mein erstes Kind war noch nicht lange auf der Welt. Ich sagte zu Papi: ‹In vier Jahren hättest du vielleicht einen weiteren Enkel.› Doch er bat mich, den Kontakt zu Exit aufzubauen. Das tat ich. Meine Schwester, meine Mutter und ich – wir alle standen immer hinter diesem Wunsch.
Herr S. kam ins Spiel, der Sterbebegleiter. Mein Vater war so krank, dass er jederzeit zum Pflegefall hätte werden können. Doch Exit begleitet nur urteilsfähige Personen. Es musste also schnell gehen. Herr S. erklärte uns, dass die Diagnose Depression im Arztzeugnis aufgehoben werden müsse, damit der Sterbewunsch nicht wie das Resultat einer akuten Krise wirke. Als mein Vater das benötigte Zeugnis erhielt, drehte er sich zu mir um mit nach oben gestrecktem Daumen, wie um zu sagen: Geschafft! Dabei war es ja sein Todesurteil. In den zwei Wochen bis zum Termin hoffte ich jeden Morgen, dass meine Mutter anruft und sagt, er sei eingeschlafen. Mein Vater verabschiedete sich von seinen Geschwistern, einigen guten Freunden und unseren Cousinen. Ausser der engsten Familie wusste aber niemand das Datum. Wir zelebrierten vieles. Es gab ein letztes Mal Hörnli und Ghackets mit den Mädchen meiner Schwester, damals 8 und 5. Ihr Vater sagte zu ihnen: ‹Umarmt den Opa heute nochmals fest.› Zwischen meinen Eltern waren in diesen zwei Wochen Ruhe und Nähe. Mich führte mein Vater in seine Bankgeschäfte ein, wir besprachen die Abdankung. Wir schrieben zusammen den Lebenslauf. Auch die Lieder wählte er selbst aus.
Es gibt noch so einen Satz, den ich nie vergesse. Herr S. sagte zu Papi: ‹Es ist bestimmt nicht einfach zu gehen, wenn man eine solche Familie hat, oder?› Er gab zur Antwort: ‹Vielleicht ist es gerade deshalb einfacher – denn ich weiss, dass sie einander haben.›
Am Morgen des festgelegten Tages kamen wir zu meinen Eltern, es war strahlend sonnig, alles blühte. Papi sagte, er fände es schön, im Frühling zu sterben. Mein Mann verabschiedete sich als Erster, weil er danach alle Kinder betreute. ‹Trag ihnen Sorge›, sagte mein Vater zu ihm – und meinte mich und unser Kind. Später trank er ein Glas Wein, schliesslich ging er mit Herrn S. ins Schlafzimmer, um alles vorzubereiten. Seine treue Hündin forderte er auf, mitzukommen, aber sie blieb vorne bei der Wohnungstür liegen.
Mein Vater legte sich aufs Bett, meine Schwester, ihr Mann, meine Mutter und ich sagten weinend Tschüss. Wir blieben bei ihm. Der Sterbebegleiter sagte: ‹Herr D., wenn Sie diesen Infusionshahn öffnen, werden Sie einschlafen und nicht mehr aufwachen.›
Dass danach Polizei, Kantonsarzt und Staatsanwalt vorbeikamen, war eine Formsache. Aber wir waren erschöpft und niemand wusste, was sagen. Als alle wieder weg waren, tranken wir auf der Terrasse ein Glas Champagner. Das hätte meinem Vater gefallen. Mein Schwager, der Arzt ist, sagte: ‹Das ist das wahre Leben. Das ist existenziell. Leben und Tod so nahe beisammen – purer geht es nicht.› Heute sind wir alle Mitglieder bei Exit, die ganze Familie.
Mein Vater fehlte mir mehr, als ich es für möglich gehalten hätte. Diese Endgültigkeit, das stellst du dir vorher nicht vor. Ich denke aber gerne an das Gefühl zurück, das ich beim Abschied hatte: Er geht nur voraus. Er geht für uns quasi rekognoszieren.»
Die Namen in den Texten sind geändert.


Erfahrungsbericht

Was bedeutet Mut am Lebensende? Das fragt sich L. G. nach dem Tod ihres Schwiegervaters mit Exit.

«Mein Schwiegervater litt seit langem an mehreren unheilbaren Krankheiten. Vor drei Jahren hatte er sich bei Exit angemeldet, um sich diese Option zu eröffnen, falls es einmal unerträglich werden würde. Sein Alltag war geprägt von Arztbesuchen, Medikamenten und Schmerzen. Ende letzten Jahres hatte er das Gefühl, dass sein Zustand sich verschlechtere und nächstens auch der Geist betroffen sein könnte. Davor hatte er Angst. Denn wenn jemand nicht mehr fähig ist, seinen freien Willen zu bekunden, kann die Suizidbeihilfe nicht stattfinden.
Anfang Dezember eröffnete uns mein Schwiegervater, dass er möglichst bald sterben wolle. Ich konnte seinen Wunsch gut nachvollziehen. Für uns war klar, dass wir vor den Kindern kein Geheimnis daraus machen. Beide hatten eine enge Beziehung zum Grossvater; sie sollten sich bewusst von ihm verabschieden können. Meine neunjährige Tochter bat ihn, ein letztes Mal mit allen zusammen Weihnachten zu feiern. Doch das wollte er nicht: Weihnachten sei für ihn das Fest der Hoffnung, und er habe keine mehr. So direkt sagte er das seiner Enkelin allerdings nicht.
Wir trafen ihn noch mehrmals, spielten Scrabble mit den Kindern, und wie immer wollte er gewinnen. Ich fand es hart, zu sehen, wie hier jemand ganz präsent im Leben ist – und gleichzeitig zu wissen, dass er in zwei Wochen nicht mehr da sein würde. Die Tage unmittelbar vor dem Sterbetermin waren für mich kaum zu ertragen. Die Kinder kannten das Datum nicht. Mein zwölfjähriger Sohn hatte gesagt, er möchte nicht eines Morgens aufstehen und wissen, heute stirbt sein Grosspapi. Man muss extrem sensibel darauf sein, was die Kinder wissen wollen und was nicht.
Der Schwiegervater hatte alle Verwandten und Freunde informiert. Viele kamen noch zu Besuch, um sich zu verabschieden. Es gab auch kritische Stimmen; jemand versuchte ihn umzustimmen. Auch mein Mann fragte, ob es wirklich keinen anderen Weg gebe. Doch der Vater war sehr klar. Er sagte: ‹Ich weiss, für euch ist es härter als für mich. Ich hatte ein gutes Leben, und jetzt reicht es.›
Mit Exit zu sterben ist anders, als wenn jemand aus dem Leben gerissen wird. Man kann sich sagen: Diese Person wollte es so. Das schafft Distanz, kann tröstlich sein. Das Verabschieden hat auf jeden Fall etwas Schönes. Ich konnte letzte Fragen stellen. Einige Antworten habe ich auf Tonband aufgenommen, um sie später mit den Kindern zu hören. Mit diesem Prozess nimmt man das Trauern vorweg: Man trauert, wenn der Mensch noch da ist – sogar mit ihm. Wenn ich zu Besuch war, heulte ich die ganze Zeit.
Der Vater bat seine zwei Söhne, am Sterbebett dabei zu sein. Mein Mann und sein Bruder taten sich zunächst schwer mit diesem Wunsch. Ist man es dem Vater schuldig, den letzten Weg mit ihm zu gehen? Oder darf man den Wunsch ausschlagen? Jemandem beim Sterben zu helfen, widerstrebt uns Menschen im Innersten. Die Brüder waren in einem Dilemma. Letztlich waren die Söhne, die Ehefrau und eine Nichte am Tag X dabei. Sie fanden es friedlich. Sie erzählten, dass mein Schwiegervater auf dem Bett liegend noch winkte. Es ging schnell.
Meine Schwiegereltern waren 55 Jahre verheiratet. An jedem Hochzeitstag hatten sie die Kerze von ihrer Trauung für kurze Zeit angezündet. Jetzt war sie nur noch ein Stummel. Sie brannte auch an jenem Morgen. In dem Moment, als der Vater für immer gegangen war, ging die Kerze aus. Erlosch einfach.
Meine Erfahrung ist: Obwohl man diesen Tod kommen sieht, wird man überrumpelt. Mit den Kindern versuchen wir, die Erinnerungen an ihren Grossvater in den Alltag zu integrieren. Wir sagen zum Beispiel: ‹Jetzt hätte der Grosspapi dieses oder jenes gemacht›. Meine Schwiegermutter ist sehr aktiv, das hilft ihr. Aber das Alleinsein ist schwierig für sie. Ich finde, sie macht es sehr gut. Sie unterdrückt nichts. So war es auch an unserem Weihnachtsfest. Wir weinten, aber wir hatten auch keine Angst zu lachen.
Mein Schwiegervater hatte immer gesagt, er wolle nicht ‹gaga› werden, nicht pflegebedürftig sein. Viele Menschen fanden, sein Entscheid sei mutig. Auch ich. Aber heisst das im Umkehrschluss, man ist feige, wenn man den geistigen Zerfall auf sich zukommen sieht und trotzdem weiterlebt – im Wissen, dass einen andere Menschen pflegen werden? Das ist eine schwierige Frage und ich denke, diese sollten wir auch als Gesellschaft diskutieren.»


Dieses Dossier stammt aus dem Grosseltern-Magazin 2/2023, das im April erschienen ist.
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