Wenn die Kleinen streiten, mischen sich die Grossen schnell ein: Die Kinder sollen friedlich sein, nachgeben, teilen. Und auf keinen Fall hauen! Immer mit der Ruhe, sagen die Experten. Wer streitet, lernt.
Geht das Geschrei im Spielzimmer schon wieder los? Können Kinder sich denn nie einigen, ohne dass erst Tränen fliessen müssen? Wir halten unsere Kleinen im Streit oft für ungeduldig, ruppig und grob, für impulsiv und egoistisch. «Doch Kinder verfügen über ein erstaunlich breites Repertoire, sich in Konflikten miteinander zu verständigen», sagt die Pädagogin Mechthild Dörfler. Erwachsene unterschätzen regelmässig, wie gut schon kleine Kindern darin sind, Probleme zu lösen. Denn: Wir bekommen von ihren Meinungsverschiedenheiten meist erst etwas mit, wenn diese laut oder handgreiflich werden. Das ist jedoch nur ein kleiner Teil aller Situationen, die Kinder täglich untereinander aushandeln.
Drei Prinzessinnen, na und?
Als Dörfler in den Neunzigerjahren zu erforschen begann, wie Kinder streiten, machte gerade das (statistisch übrigens nicht belegte) Schreckgespenst von der zunehmenden Jugendkriminalität die Runde. Ihre Auftraggeberin, das Deutsche Jugendinstitut in München, wollte entsprechend wissen, ob eine erhöhte Gewaltbereitschaft allenfalls bereits im Kindergarten spürbar sei. Dörfler und ihre Kolleginnen Kornelia Schneider und Gisela Dittrich filmten dazu Mädchen und Jungen in Spielsituationen und analysierten deren Interaktionen. Sie stellten rasch fest: Es kommt kaum vor, dass ein Kind einfach drauflosschlägt. Sie sei selbst erstaunt gewesen, sagt die ehemalige Kitaleiterin, was wir Erwachsenen normalerweise alles übersehen. «Wir sollten uns bei der raschen Beurteilung kindlicher Konflikte zurückhalten.»
Kinder sind im Spiel ständig damit beschäftigt, unterschiedliche Interessen auszumachen. «Erwachsene brauchen sie dafür in den meisten Fällen nicht», schreibt Dörfler im gemeinsam mit dem Pädagogen Lothar Klein verfassten Buch «Kinder brauchen Konflikte». Oft sei uns gar nicht bewusst, wie ernst es den Kindern mit der Suche nach einer guten Lösung sei. Schliesslich geht es bei einem Streit nie nur um die Sache – sondern immer auch um Beziehung. Das wissen auch die Kleinsten. Entsprechend verhandeln Freunde miteinander anders als Fremde, Geschwister anders als Freunde. Dort, wo mehr auf dem Spiel ist, streitet man ausdauernder und erfinderischer, aber wird sich auch häufiger einig als mit Kindern, die einem nicht so wichtig sind.
Zudem kämen wir gar nicht auf die originellen Lösungen, mit denen Kinder ihre Probleme aus der Welt schaffen: Dann gibts halt heute drei Prinzessinnen Elsa im Theaterstück statt nur einer. Dann darf ausnahmsweise die Schiedsrichterin ein Tor schiessen, weil sich Stürmerin Julia am Knie verletzt hat. Dann wird eben das Bett der Eltern zur Raumstation, wenn der grosse Bruder sein Zimmer nicht mehr dafür hergeben will. Trotzdem glauben wir oft, dass unsere Regeln ab Stange besser passen als die massgeschneiderten Lösungen unserer Kinder. «Erwachsenen entgeht auch vieles, weil sie der gesprochenen Sprache zu grosse Bedeutung beimessen», sagt Dörfler. Gestritten, gedroht und getrotzt wird schliesslich längst nicht nur in Worten: Da werden Wege versperrt und böse Blicke geschossen, Bauklotztürmchen angetippt und Sprachfehler nachgeäfft. Ein vorgestrecktes Kinn reicht als Signal, dass man dem andern nicht zu nahe kommen soll. Ein fieses Grinsen tut manchmal mehr weh als ein Schubs.
Lernchance statt lästiger Störung
Konflikte sind uns Erwachsenen meistens lästig. Wir verfallen wahlweise in hektischen Aktionismus, übernehmen ungebeten das Ruder und beenden Streitereien brüsk – oder schauen zu lange weg und ignorieren Spannungen. Wenn wir von Konfliktfähigkeit sprechen, scheinen wir eher das Vermeiden von Konflikten zu meinen: Kinder sollen besonnen und bedacht nach Kompromissen suchen, stets die Bedürfnisse der Gegenseite im Blick. «Gerade im Bereich der Sozialerziehung wird deutlich, wie überhöht bis heute die pädagogischen Erwartungen der Erwachsenen an Kinder sind», schreiben Dörfler und Klein in ihrem Buch. Dabei bedeutet Streit weder erzieherisches Versagen von Eltern und Lehrkräften noch mangelnde Sozialkompetenz der Kinder.
Kinder dürften sich solche Gedanken kaum machen. Wo unterschiedliche Interessen aufeinandertreffen, gibt es halt auch regelmässig Streit. Dieser ist mal leiser, mal lauter, aber meist rasch wieder vergessen. Und überhaupt: Ist es nicht erstaunlich, was Kinder in diesen Auseinandersetzungen alles lernen? Recht einfordern und Rücksicht nehmen. Grenzen ausloten, Widersprüche ertragen, Mut beweisen. Machtstrukturen etablieren und aufbrechen. Gesellschaftliche Regeln festlegen und moralische Werte austarieren.
Vom Raufen mit Feingefühl
Wenn wir an Konflikte denken, sind die Begriffe Aggression und Gewalt meist nicht weit. «Diese dürfen jedoch nicht miteinander verwechselt werden», sagt Dörfler, die heute als freiberufliche Referentin und Supervisorin tätig ist. Handgreiflichkeiten seien ebensowenig ein klares Indiz für Gewalt wie verbales Kommunizieren umgekehrt garantiere, dass keine Gewalt im Spiel sei. «Eine Rauferei ist keineswegs zwingend schlecht und nicht immer Grund für Erwachsene, einzugreifen.» Oft reiche aufmerksames Beobachten: Stellen sich die Kinder gleichermassen der Konfrontation, ist sie von beiden gewollt? Huscht da hin und wieder ein Lächeln übers Gesicht? Gibt es Momente der Entspannung?
So grob uns solche Auseinandersetzungen manchmal erscheinen, Dörfler und Klein sind überzeugt: Sie fördern auch das zwischenmenschliche Fingerspitzengefühl. «Selten sind Kinder mehr gefordert, die Grenzen des Gegenübers und von sich selbst herauszuspüren, als in einer solchen Situation», sagen die Pädagogen. Schliesslich wissen auch die Kleinen: Wer einfach drauflosschlägt, findet bald niemanden mehr, der sich auf einen freundschaftlichen Kampf einlässt. Körperliche Auseinandersetzungen grundsätzlich zu verteufeln, greift auch aus einem weiteren Grund zu kurz: Denn was ist mit dem Mädchen, das seit Wochen von seinen Kameradinnen gehänselt wird – und nun endlich seinen Mut zusammengenommen hat und der Anführerin einen Tritt in den Hintern verpasst? Was mit dem Jungen, der zwei Buben aus der Parallelklasse grob wegschubst, weil sie seinen besten Freund in eine Ecke drängen?
Natürlich gibt es auch Kinder, die scheinbar grundlos Streit suchen. «Nicht jedem gelingt es gleich gut, die Absichten und Gefühle der Kameraden richtig einzuschätzen», sagt Dörfler. Gerade wer zu Hause viel Druck oder sogar Gewalt erlebt, dem fehle der Raum, um Einfühlungsvermögen und Vermittlungsgeschick ausreichend zu entwickeln. So fühlen sich solche Kinder oft rascher angegriffen als andere. Sie unterstellen ihrem Umfeld feindselige Absichten und reagieren entsprechend heftig. Doch auch hier darf nicht vergessen gehen: Kein Kind handelt ohne Grund. Unglücklicherweise werden solche Erfahrungen nicht selten zur selbsterfüllenden Prophezeiung: Je häufiger das Kind soziale Interaktionen negativ interpretiert und aus Sicht der anderen überreagiert, desto eher wird es mit der Zeit tatsächlich unbeliebter und ausgeschlossen.
Die begrenzte Magie der Entschuldigung
Entschuldigung – es ist das Zauberwort, von dem wir uns einen Schlussstrich unter jegliche Streiterei erhoffen. «Die Aufforderung an Kinder, sich zu versöhnen», sagt Dörfler, «beruhigt vor allem die Erwachsenen und täuscht ein Ende des Konflikts lediglich vor.» Kinder würden aus dessen Einsatz in erster Linie lernen, dass einen die Grossen so rasch wieder in Ruhe lassen. Versöhnung braucht Zeit. In der Hitze des Gefechts ist den wenigsten nach Eingeständnissen und Selbstreflexion. Fehler zuzugeben und jemanden um Verzeihung zu bitten, ist keine leichte Angelegenheit und kostet Überwindung. So wie bei den Auseinandersetzungen unter Kindern sollten Erwachsene zudem auch beim Friedenschliessen nicht davon ausgehen, dass Kinder alles Wesentliche in Worten mitteilen: Manchmal schlichtet ein schiefes Lächeln einen Disput, manchmal reicht dafür eine kleine Umarmung oder das Angebot, sein Znünibrot mit dem anderen zu teilen.
Zudem halten Kinder die damit einhergehende Schuldzuweisung durch die Erwachsenen nicht immer für fair – zu Recht. In Konflikten gibt es keine objektive Wahrheit, jeder handelt aus seiner Sicht aus gutem Grund. «Kinder brauchen keine Schiedsrichter», sagen Dörfler und Klein. Im Vorbeigehen erfassen wir zudem häufig nicht die ganze Situation: So hat Opa vielleicht mitbekommen, dass Jan seiner Schwester Laura ans Schienbein getreten hat – nicht aber, dass Laura ihn davor einen minderbemittelten Idioten genannt hatte. Wenn wir Erwachsenen wollen, dass sich Kinder nach einem Streit auch entschuldigen, dann gehen wir am besten mit gutem Beispiel voran.•
Buchtipp: «Konflikte machen stark», Mechthild Dörfler und Lothar Klein, Verlag Herder, 2003 (antiquarisch).
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