Pasqualina Perrig-Chiello über ihren Grossvater

« Du kannst alles»

Pasqualina Perrig-Chiello, emeritierte Psychologieprofessorin und Autorin, verdankt ihrem Nonno viel. Unter anderem ihre Selbstbestimmtheit und ihr Selbstbewusstsein.

Von Geraldine Capaul (Aufgezeichnet)

«Geh deinen Weg, mach deine Sache recht, dann hast du nichts zu fürchten», dieses Credo hat mein Nonno mir vorgelebt – und ich habe es verinnerlicht. Mein Nonno war alles für mich. Die ersten sieben Jahre meines Lebens haben meine Mutter, meine zwei Schwestern und ich bei meinem Grossvater mütterlicherseits im italienischen Friaul gelebt. Mein Vater war Gastarbeiter in der Schweiz und durfte uns nicht mitnehmen. Er kam uns zwei bis drei Mal im Jahr besuchen. Deshalb war Nonno wie ein Vater für mich, meine männliche Bezugsperson im Leben.
Wir wohnten alle zusammen in einem grossen Haus. Mein Grossvater war Dorfschmied, seine Werkstatt befand sich neben dem Haus. War ich nicht im Kindergarten – wohin mich mein Grossvater brachte und wieder abholte – war ich bei ihm in der Werkstatt. Er schmiedete mir ein Set an Werkzeugen mit Hammer und Zange im Kleinformat. Das hüte ich bis heute wie einen Schatz. Das Feuer und das rhythmische Schlagen des Hammers auf den Amboss faszinierten mich. Nonno war Messerschmied, Kunstschmied, er reparierte Pflüge, Maschinen, wechselte den Pferden Hufeisen, fertigte kunstvolle Gartentore und massive Kreuze. Und er zog regelmässig die faulen oder eitrigen Zähne der Dorfbewohnerinnen und -bewohner. Die Leute waren arm, es gab keinen Zahnarzt weit und breit und Nonno hatte die richtigen Zangen und Schnaps zum Desinfizieren. Die Leute blieben gern zum Plaudern, Nonno war ein stiller Mensch, ein guter Zuhörer und sehr humorvoll und geduldig. Nach getaner Arbeit begleitete ich ihn in die Beiz zu seinem Gläsli Rotwein. Wir waren eigentlich immer zusammen und ich habe ihn bewundert. Nonno schenkte mir Unbekümmertheit. Er war nicht streng mit uns. Wenn meine Mutter mit uns schimpfen musste, hat er uns heimlich zugezwinkert. Dieses lustige Zwinkern und seine aufmunternden Blicke habe ich bis heute vor Augen.
Wir waren Selbstversorger. Wir hatten Hühner, Gänse, Hasen und einen grossen Gemüsegarten. Grossvater war ein sehr guter Koch – ganz im Gegensatz zu meiner Mutter. Fleisch gab es selten. Aber etwa einmal im Monat schlachtete Nonno einen Hasen oder eine Gans und machte daraus einen fantastischen Sonntagsbraten. Wenn jemand von uns krank wurde, opferte er eines seiner Hühner, um uns daraus eine stärkende Brühe zu kochen.
Nonno war tiefgläubig. Jeden Abend nach dem Essen hat er den Rosenkranz gebetet, laut und auf lateinisch. Ich bin zumeist daneben gesessen und habe mich einlullen lassen. Das monoton Rhythmische dieses Gebets hatte für mich etwas total Beruhigendes. Bis heute heimelt es mich an, wenn ich ein «Ave Maria» höre, obwohl ich selber wenig Bezug mehr zur Kirche habe.
1959 zogen wir zu meinem Vater in die Schweiz. Nonno wollte aber in Italien bleiben. Das war sehr schlimm für uns beide. Ich habe ihn unglaublich fest vermisst. Dieser Einschnitt, den ich als Siebenjährige erleben musste, hat mich geprägt. Bis heute interessieren mich Lebensübergänge, auch in meiner wissenschaftlichen Arbeit. Meine Mutter hat Nonno nach etwas mehr als einem Jahr in die Schweiz nachgeholt. Aber er wurde hier in der Fremde nicht mehr glücklich, wurde krank und ist kurze Zeit später verstorben. Sein Tod hat mich tief berührt – ich konnte es nicht fassen, dass er nicht mehr war. Er fehlte mir sehr lange. Heute denke ich mit grosser Dankbarkeit und Liebe an ihn zurück. Manchmal rede ich auch noch mit ihm.
Mein Nonno war selbstbestimmt und selbstbewusst. Er hat sich zwar um die Menschen, aber nicht um deren Meinung gekümmert. Mit dieser Haltung hat er mich geprägt. Er lehrte mich: Lass dich nie einschüchtern. Du kannst alles – egal, woher du kommst. •


Pasqualina Perrig-Chiello (71) aus Ried-Brig (VS) ist emeritierte Professorin für Entwicklungs­psychologie, Psychotherapeutin und Autorin, die zum mittleren und höheren Lebensalter forscht. Sie hat sich auch intensiv mit den Beziehungen zwischen den Generationen auseinandergesetzt. Soeben ist ihr neues Buch «Own your Age» erschienen, das auf grosse Resonanz gestossen ist. Perrig-Chiello ist verheiratet und Mutter von zwei Kindern.


«Own your Age. Stark und selbstbestimmt in der zweiten Lebenshälfte», Beltz-Verlag, 2024.