«Entweder wir beide oder keiner von uns»

Die Eltern von Abdullah (15) sind bereits in Deutschland, er könnte nachgezogen werden. Aber er will nicht, weil er seine Grossmutter Samina (72) dann zurücklassen müsste. Zusammen sind sie aus Pakistan geflüchtet
und sitzen nun in Bosnien fest.

Sie ist für ihn wie eine Mutter. Und er ihr wie ein Sohn. Samina und Abdullah, seit 2016 auf der Flucht, im Norden Bosniens.

Abdullah S., erst 15, hebt den Arm, er duckt sich, lauscht in die Nacht hinein, ihm ist, als hätte er Stimmen gehört. Dann richtet sich der Pakistani wieder auf, er winkt die kleine Gruppe dunkler Gestalten heran, nagt nervös an der Lippe, zieht die Kapuze über und stapft weiter durchs Unterholz, steigt über Hecken, zwängt sich an Dornbüschen vorbei.
Es ist kalt an diesem Sonntag Mitte Februar, ein paar hundert Meter vor der bosnisch-kroatischen Grenze, bitterkalt. Seit einer Woche fegt ein Sturm über den Westbalkan. Abdullah kennt den Weg, er ist ihn schon bei Tageslicht gegangen, um auf alles vorbereitet zu sein. Doch jetzt kommen ihm Zweifel, er berät sich mit Riaz A., dem Iraker, dann entscheiden sie umzudrehen. Schon wieder. Einmal war es das Gebell von Hunden, ein andermal der Vollmond, sie hatten Angst, von der kroatischen Grenzpolizei entdeckt und malträtiert zu werden. Und nun dieser Fluss, der eiskaltes Wasser führt, mehr als sonst. Abdullah weiss, wäre er allein, er würde ihn durchwaten, würde vielleicht auf den Steinen ausrutschen und klitschnass werden, doch was soll’s, er würde sich aufrappeln, durchatmen und weitergehen, immer weiter, inschallah. Aber so: nein.
Abdullah, der so viel älter aussieht als er ist, blickt zu Samina hinüber, und Samina, die 72-jährige drahtige Frau mit Kopftuch und Brille, weiss genau, welche Gedanken ihr Enkel in genau diesem Augenblick hat.

Viele der Geflüchteten auf den Balkanrouten sind, wie Abdullah und seine Grossmutter, auf
eigene Faust unterwegs, sie geben sich in die Hände von Schleppern oder suchen eigene
Wege. Und leben dann, wie diese Geflüchteten nahe der serbisch-ungarischen Grenze, in
verfallenen Gebäuden.

600 Kilometer in zwei Monaten
«Ich will ihm keine Last sein, nur das nicht.» Samina faltet und entfaltet das Papiertaschentuch in ihren Händen wie ein Stück edles Tuch, sie ist wütend und traurig in einem. Inzwischen scheint die Sonne, die kleine Gruppe von gestern sitzt im Park von Velika Kladuša, einer mehrheitlich muslimischen Kleinstadt im Nordwesten Bosniens, keine fünf Kilometer von Kroatien entfernt: Samina, ihr Enkel Abdullah, Riaz mit seiner Frau Ashtar und ihrem 9-jährigen Sohn, dem wunderhübschen Dilan. Gefunden haben sich die fünf im Norden von Albanien, in Shkodra, das war irgendwann letzten Sommer. Riaz mit Familie kam von Bagdad mit Schleppern hierher, Samina und ihr Enkel flohen 2016 aus Angst vor den Taliban aus einer Kleinstadt unweit von Karatschi und gelangten von der Türkei über Griechenland auf den Balkan.

Auch die albanischen Alpen haben Samina und Abdullah zu Fuss überquert.

Wie viele andere nahmen sie nicht die Route über Serbien. Seit Ministerpräsident Viktor Orbán an der ungarisch-serbischen Grenze einen 170 Kilometer langen Zaun errichten liess, ist dort angeblich kein Durchkommen mehr. Und so liefen sie westwärts und überquerten die albanischen Alpen in Richtung Montenegro. Dort verbrachten sie einige Tage in einem Camp des Roten Kreuzes, bevor sie weiter nach Norden aufbrachen. Bis zur bosnischen Grenze waren es 200 Kilometer. Einmal wurden sie von Einheimischen im Auto mitgenommen, den Rest liefen sie zu Fuss.
«Ich bin leicht, meine Gelenke sind stark, ich brauche nicht viel zum Essen und nur wenig Schlaf», sagt Samina, und es ist Trotz in ihrer Stimme. Abdullah, der sich dazusetzt, lächelt: «Grossmutter ist eine Löwin. Und sie hat immer recht.» Doch bis an die kroatische Grenze waren es noch über 400 Kilometer quer durch Bosnien. «Kälte und Nässe machten uns zu schaffen. Kamen wir an Dörfern vorbei, wussten wir nicht, ob wir willkommen sind oder ob die Einwohner die Polizei holen. Oft mussten wir uns tagelang verstecken, wir hatten Hunger und Durst», erzählt Samina.
Als sie in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo ankamen und für einige Wochen in einem Flüchtlingslager blieben, hörten sie von einem grossen Camp im Nordwesten Bosniens nahe des Grenzflusses Una. Und so machten sie sich auf und erreichten, wieder zu Fuss, Ende Oktober letzten Jahres die Kleinstadt Bihać. Dort meldeten sie sich bei der International Organization for Migration (IOM) und wurden zuerst in Borići einquartiert, einer mehrstöckigen Ruine am Stadtrand von Bihać, und später nach Bira übersiedelt, in eine ehemalige Lagerhalle ausserhalb der Stadt, welche die bosnische Regierung in den vergangenen Monaten mithilfe von EU-Geldern zu einem Camp mit Betten, Duschen und Strom für fast 2000 Geflüchtete ausbauen liess. Doch schon bald erkannten Samina und ihr Enkel Abdullah, dass sie hier nicht weiterkamen. «Es gab Familien aus Syrien oder Afghanistan, die waren schon viele Monaten hier. Wir hatten Essen und Kleidung, ja, aber keine Perspektive. Niemand konnte uns helfen, am wenigsten die Regierung.»

Zelte in einer gigantischen Lagerhalle: Die bosnische Regierung ist zögerlich in Sachen
Flüchtlingspolitik, immerhin hat sie, mit EU-Geldern, mit dem Camp «Bira» ausserhalb von
Bihac eine Unterkunft für fast 2000 Geflüchtete errichtet

Solidarität mit den Vertriebenen
Amira Hadzimehmedovic, Camp-Koordinatorin von IOM in Bihać, weiss um die Kritik an der bosnischen Regierung und kann sie nachvollziehen. «Unser Regierungssystem ist das komplizierteste der Welt, weshalb sich niemand verantwortlich fühlt.» Hadzimehmedovic spielt auf das Friedensabkommen von Dayton aus dem Jahre 1995 an, ein Erbe des Bosnien-Krieges, der zwischen 1992 und 1995 stattfand. Weil man es allen Parteien recht machen wollte, wurde das Land damals in zwei «Entitäten» unterteilt: in die Föderation Bosnien-Herzegowina mit heute
2,3 Millionen Einwohnern, bestehend aus katholischen Kroaten und Bosniaken, den muslimischen Bosniern. Und in die Republika Srpska, die von 1,­3 Millionen überwiegend orthodoxen Serben bewohnt wird. Beide Gebiete wurden in Kantone und Bezirke gegliedert und alle wichtigen politischen Ämter paritätisch mit je einem Vertreter der Bosniaken, Kroaten und Serben besetzt – und zwar vom Präsidium über die Ministerien bis hin zum Gemeinderat. Das ist bis heute so, was dazu führt, dass Bosnien über 14 Parlamente verfügt, 136 Minister und drei Präsidenten, die sich in einem Turnus von acht Monaten im Amt des Staats­präsidenten abwechseln. «Kein Wunder, ist unser Land praktisch unregierbar geworden», kommentiert Hadzimehmedovic bitter.

Als Abdullah und seine Grossmutter im Herbst 2018 den Norden Bosniens erreichten, gab es
in Velika Kladusa ein provisorisches Lager, wo sich bis 400 Geflüchtete «illegal» aufhielten.
Inzwischen wurde es geräumt.

Die Untätigkeit der bosnischen Regierung in Sachen Flüchtlingspolitik stösst auch der Bevölkerung sauer auf. In Bihać gab es deswegen letzten Herbst erste Proteste. Trotzdem sei die Solidarität mit den Geflüchteten gross, sagt Hadzimehmedovic. «Selbstverständlich ist das nicht. Unsere Wirtschaft ist am Boden, die Arbeitslosigkeit beträgt 40 Prozent, damit liegen wir hinter Dschibuti und dem Kongo weltweit auf Platz drei.» Entsprechend gross ist die Abwanderung. Lebten vor dem Krieg 1991 4,5 Millionen Menschen in Bosnien, sind es noch 3,6 Millionen. Allein in den vergangenen zwei Jahren haben 80 000 Bosnier ihr Land verlassen, weil sie keine Perspektiven mehr sahen. Ihnen stehen 20 000 Geflüchtete aus Syrien, dem Irak, Pakistan, Afghanistan oder Nordafrika gegenüber, die seit 2018 ins Land gekommen sind.

600 Kilometer in zwei Monaten, das meiste zu Fuss: Über die albanischen Alpen
durch Montenegro bis an die Grenzflüsse von Bosnien und Kroatien.

«Krieg, Flucht, Armut und das Gefühl, von der Welt vergessen zu werden. Wir kennen das alles und deshalb wissen wir, wie sich die Geflüchteten jetzt fühlen.» Für den 50-jährigen Isaak Krajišnik, ein Bosniake, liegt in der jüngeren Geschichte Bosniens der Grund für die ungewöhnliche Solidarität der lokalen Bevölkerung mit den Geflüchteten. Isaak ist Besitzer des Restaurants «Slasticarna Krajišnik» im Zentrum in Velika Kladuša, ein Lokal, wo Geflüchtete ihre Handys umsonst aufladen können und Getränke zu einem Spezialpreis kriegen. Für jene, die auf eigene Faust über die Grenze nach Kroatien wollen, ist Velika Kladuša oft die letzte Hoffnung – und Krajišniks Lokal die erste Anlaufstelle.

Weinen, wenn Abdullah schläft
Auch Abdullah kehrte ins «Slasticarna Krajišnik» ein, als er diesen Februar von Bihać ins nahe gelegene Velika Kladuša kam, zuerst allein, um die Wege über die Grenze auszukundschaften. Dann holte er seine Grossmutter nach. Für fünf Euro pro Nacht und Kopf quartierten sie sich im Dachgeschoss von Krajišniks Restaurant ein. Und dorthin kommen sie noch immer zurück, wenn sie beim «illegalen» Grenzübertritt scheitern. «Wir werden es wieder und wieder versuchen. Was bleibt uns übrig, wir können ja nicht zurück», sagt Samina.
Manchmal weine sie nachts, wenn Abdullah schläft. «Er darf nicht sehen, dass ich schwach bin, er soll sich keine Sorgen machen.» Es ist ein besonderes Band, das die beiden verbindet. Immer schon wohnten sie unter einem Dach, Samina, ihre Tochter, deren Mann und Abdullah, der Sonnenschein. Als die Taliban ihren Schwiegersohn an Leib und Leben bedrohten, ergriffen Abdullahs Eltern die Flucht, sie kamen 2012 nach Deutschland, bauten sich dort ein Leben auf. Abdullah blieb bei der Grossmutter, aus freien Stücken, wie er sagt. «Ich wollte das College machen.» Als der politische Druck weiter zunahm, entschieden auch Samina und Abdullah, ihr Land in Richtung Europa zu verlassen. Für Abdullah wäre es ein Leichtes, nach Deutschland einzuwandern, er würde wegen seiner Eltern die Bewilligung erhalten. Nicht aber seine Grossmutter. Er hätte sie zurücklassen müssen. Doch niemals würde er das tun, sagt Abdullah. Seine Worte klingen wie ein Schwur. «Sie ist wie eine Mutter für mich. Entweder wir beide oder keiner von uns.»

Samira (72) sitzt im Stadtpark von Velika Kladuša, nachdem sie und ihr Enkel Abdullah (15) auf ihrem Weg über die Grenze nach Kroatien zurückkehren mussten. «Ich will ihm keine Last sein, nur das nicht», sagt sie und faltet und entfaltet das Papiertaschentuch in ihren Händen.

Das war Mitte Februar an jenem sonnigen Tag im Stadtpark von Velika Kladuša, nachdem Abdullah und seine Grossmutter auf ihrem Weg über die Grenze nach Kroatien zurückkehren mussten. Jetzt, fast zwei Monate später, schreibt Abdullah per Whatsapp: «Sind noch immer in Velika Kladuša. Haben es vier Mal über die Grenze versucht, kein Erfolg. Grossmutter ist geschwächt, aber voller Hoffnung, dass Gott uns den Weg zeigen wird. Ich bin sicher, sie hat recht – wie immer.» •

Von Klaus Petrus (Text und Bilder)

Diese Arbeit entstand im Rahmen des Projektes «Kein Weg nirgends» von Andrea Jeska und Klaus Petrus, das vom «Kartographen» Stipendium von Fleiss + Mut und der Mercator Stiftung unterstützt wird.