Gelmer­hütte: Ein Drei-Generationen-Familienbetrieb auf 2412 m ü. M.

Grossvater, Vater und Enkelin: Die Gelmerhütte wird seit über vierzig Jahren von Familie Schläppi geführt. Das ist viel Arbeit, klar. Doch dafür gibt es wilde ­Heidelbeeren für Enkelin Nadine. Und Nächte unter Sternen für Grossvater Walter.

Von Josianne Walpen (Text) und Matthias Luggen (Fotos)

Wer sich auf den Weg zur Gelmer­hütte macht und nicht schon von der Grimselstrasse loslaufen will, kann sich ein gutes Stück weit hochfahren lassen. Falls man sich traut: Denn beim Anblick der Gelmerbahn holt manch eine und einer vermutlich zuerst einmal tief Luft. Das Bahntrassee beginnt steil, um sich dann an den noch viel steileren Hang anzuschmiegen, bevor es über einer Kuppe dem Blick entschwindet. Nichts für Leute mit Schwindel. Und auch die ohne werden einen skeptischen Blick auf die Geleise und die Bahnwagen werfen – alles schon etwas in die Jahre gekommen. Die Steigung von bis zu 106 Prozent adelt die ehemalige Werkbahn mit dem Titel «Steilste offene Standseilbahn Europas». Nadine (8) und ihr Vater Peter Schläppi (41) widmen ihre Aufmerksamkeit nicht der Bahn, sondern der Glace, die sie sich im Bahnhäuschen gekauft haben. Als Walter Schläppi (76) kurz darauf hinzukommt, ist das Trio komplett.


Rückwärts und mit viel Geratter
9 Minuten dauert die Bergfahrt. Die Passagiere fahren rückwärts, es ruckt und rattert und schüttelt. An der Bergstation angekommen, zittern die Knie. Wer weiter will zur Hütte, bekommt seine Beine besser schnell wieder in den Griff: Rund zwei Stunden Aufstieg mit einer Höhendifferenz von 550 Metern gilt es nun zu Fuss zu bewältigen. Nadine bekommt von ihrem Vater noch einen Schluck Wasser, dann machen sie sich auf den Weg. Die beiden Männer mit sicherem, stetem Bergschritt. Nadine hingegen hüpft und springt von einem Stein zum andern – zumindest, solange der Weg entlang dem Gelmersee noch eben verläuft. Dann wird es steiler, geht einen Hang hoch mit Gestrüpp, Felsen und mit Heidelbeerstauden, die an geschützten Plätzen hängend voll mit reifen Beeren stehen.


Zwischenverpflegung
Nadine schert mal links und mal rechts vom Weg aus, pflückt sich hier eine Handvoll und da noch eine. Sie zeigt ihre ­Zunge, die sich vom Beerensaft dunkel­blau verfärbt hat. Walter lacht, lässt sich aber nicht aus seinem Schritt bringen. Er gehe schon mal vor, seine Beine seien nicht mehr so jung, erklärt er. Aber ordentlich schnell sind sie trotzdem: Innert kurzer Zeit ist er ein gutes Stück weiter oben im Hang. Der Weg ist auffallend sorgfältig gemacht, mit Treppen und akkurat ausgelegten Steinen, die den anstrengenden Aufstieg leichter machen. Das sei Walters Werk, erzählt Peter Schläppi, sein Vater stecke viel Zeit und Arbeit hinein. «Etwas muss ich ja noch machen», reagiert dieser mit einem verschmitzten Lächeln auf das Kompliment. Beim «Steinmannli» – mehr als die Hälfte des Aufstiegs ist bewältigt – hat er auf den Rest der Gruppe gewartet. Er zeigt Nadine, wo sie ihre Trinkflasche auffüllen kann.


Ausdauer in den Genen
Nadine marschiert weiter bis zur Hütte – ohne ein einziges Mal zu jammern. «Jetzt bin ich schon froh, oben zu sein», meint sie am Ziel und verschwindet in der Hütte. Mit drei Jahren hätten sie Nadine noch teilweise getragen, erzählt ihr Vater, aber seit sie vierjährig sei, laufe sie den Weg selbst. Das muss in den Genen liegen: Peter wurde einmal als sechsjähriger Bub nach Chüenzentennlen geschickt, um Brot zu holen. Über 800 Höhenmeter alleine runter und wieder hoch – eine beachtliche Leistung für einen kleinen Knirps. Sie hätten von der Hütte aus immer wieder geschaut, ob er auf dem Weg sei, versichert Vater Walter.


Die Ansprüche ändern sich
Es waren andere Zeiten, als Walter und seine Frau Ruth 1979 die Hütte übernahmen. Strenge Jahre waren es, auch wenn die Ansprüche der Alpinisten damals noch nicht hoch waren. Am Abend wurden die mitgebrachten Fertigsuppen der Hüttengäste in einem Topf angerührt und das Resultat aufgeteilt. «Wir hatten ab und zu sogar noch Gelegenheit, tagsüber selbst in die Berge zu gehen», meint Walter. Heute sei das unmöglich. Nachdem die Gelmerbahn 2001 für Personentransporte freigegeben wurde, kommen die ersten Tagesgäste bereits vor dem Mittag bei der Hütte an. Auch die kulinarischen Ansprüche sind längst über einen Teller Suppe hinaus gewachsen.


Ein Generationenprojekt
Walter hängt an der Hütte. Er ist froh, hat sich sein Sohn entschlossen, sie zu übernehmen. Für Peter war das kein einfacher Entscheid: Als Bergführer musste er gut abwägen, ob er Beruf, Hütte und seine Familie unter einen Hut bringen und allem gerecht werden kann. Seit 2012 führt er die Hütte zusammen mit mehreren Angestellten. Seine Frau – sie heisst Ruth wie seine Mutter – bleibt mit Nadine und den beiden älteren Brüdern Silvan und Ramon (14 und 11) unten im Tal. Ob es Nadine denn manchmal ein wenig langweilig sei auf der Hütte, fragen wir sie. Ja, das schon, sagt sie. Ihre Brüder kommen nicht mehr immer mit – sie haben mit Fussballtraining und anderen Engagements am Wochenende ihr eigenes Programm. Die Hütte steht da nicht mehr an oberster Stelle.


Hilfe ist willkommen
Am Abend steht Nadine stolz neben ihrem Vater und bläst in ein kleines Horn – das Signal zum Abendessen ist unüberhörbar. Seit ihrer Ankunft in der Hütte sind alle drei am Werken. Die Hütte ist corona­bedingt nur halb voll, aber zu tun gibt es trotzdem viel. Nadine hat in der Küche Hand angelegt und Patrizia und Heike, den beiden Angestellten, geholfen. Walter ist überall am Arbeiten, beantwortet Fragen der Gäste oder unterhält sich mit ihnen. Dazwischen nimmt er aber auch am grossen Tisch in der Hüttenküche neben Nadine Platz und begutachtet ihre Zeichnungen.
Ob Grossätti wieder draussen schlafe, dann könnte sie ja sein Bett haben, fragt Nadine mit treuherzigem Blick, als es für sie Zeit zum Schlafen ist. Sie darf, Walter ist einverstanden. Er zügelt eine Matratze, Schlafsack und Kissen auf den Helikopterlandeplatz. So oft es geht, nächtigt er da – unter der Sternendecke sei der schönste Platz zum Schlafen. Nadine hingegen ist es in Grossvaters Bett wohl, die Müdigkeit nach dem langen Tag hilft auch – es geht jedenfalls nicht lange, bis sie eingeschlafen ist. Die Hüttenmannschaft lässt den Tag mit einem Schlummertrunk in der gemütlichen Küche ausklingen.
Tritt man vor dem Schlafengehen nochmals vor die Hütte, dann kommt man sich wie eine Königin oder ein König vor: Der dunkelblaue, seidige Nachthimmel ist übersät von glitzernden Sternen, die Luft klar und frisch, die Berge nah und imposant. Man könnte Walter glatt um seinen Schlafplatz auf dem Helikopterlandeplatz beneiden.


Die Gelmerhütte

Anreise: Ab Bergstation Gelmerbahn (Plätze reservieren!) sind es 2 Stunden und 550 Höhenmeter, ab dem Parkplatz Chüenzentennlen via Gelmersee
rund 3 Stunden und 820 Höhenmeter.

Gelmerbahn: Reservation unter grimselwelt.ch/bahnen/gelmerbahn

Preis einfache Fahrt: 16 Franken, Kinder bis 15 Jahre: 8 Franken.

Übernachtung Gelmerhütte (2412 m ü. M.): Informationen und Reservation gelmerhuette.ch

Ausflugsmöglichkeiten: Die Gelmerhütte ist Ausgangspunkt für verschiedene alpine Touren, Klettertouren oder Wanderungen, beispielsweise zum Ofenhornsee (ca. 2 Std.) oder auf die Moräne oberhalb der Hütte (½ Std.). Zum Klettern gibt es auch einfachere Routen für Kinder oder Jugendliche. Ansonsten lässt sich der Abstieg nach einer Übernachtung mit einer Seeumrundung erweitern.