Funkstille: Wenn der Kontakt zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern abbricht

Von Geraldine Capaul (Interview) und Irene Meier (Illustration)

Ein Kontaktabbruch zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern ist ein schmerzhaftes Ereignis für die ganze Familie. Wir haben mit der Psychologin Beate Schwarz über Gründe und mögliche Versöhnungen gesprochen.

Gruppenchats werden gelöscht, Anrufe ignoriert, Karten und Einladungen nicht beantwortet. Wie es dem erwachsenen Kind geht? Was es macht? Ob sich der Enkel im Kindergarten wohlfühlt? Man weiss es nicht. Wenn erwachsene Kinder den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen, ist das ein einschneidendes Erlebnis. Ein drastischer Schritt, der aber selten passiert. Etwa 1 bis 3 Prozent der jungen Erwachsenen weltweit haben keinen Kontakt zu ihren Eltern. Dieser Umstand zeige sich auch in der Sprache, sagt Beate Schwarz, Professorin für für Entwicklungs- und Familienpsychologie. Man kenne zwar die Begriffe «Exmann» oder «Exfreundin». Aber «Exmuttter», «Exsohn» existierten nicht.

Beate Schwarz
arbeitet an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) als Professorin für Entwicklungs- und Familienpsychologie. Sie ist Leiterin der Fachgruppe Entwicklungs- und Familienpsychologie und forscht unter anderem zum Thema Eltern-Kind-Beziehungen im Erwachsenenalter.

Frau Schwarz, Sie sagen, es gibt sicher viel mehr schlechte Eltern-Kind-Beziehungen, die aufrechterhalten werden, als abgebrochene Beziehungen. Weshalb ist das so?
Beate Schwarz: Die Eltern-Kind-Beziehung ist eine zentrale Beziehung in unserem Leben. Sie ist vielleicht nicht immer gut, aber sie bringt trotzdem eine Art von Stabilität. Und – auch wenn wir immer sagen, wir leben in einer individualisierten Gesellschaft – es gibt eine starke normative Kraft. Es gehört sich nicht, seine Eltern nicht mehr zu sehen. Das sieht man auch an Studien, die sich mit der Pflege der Eltern befassen: Müssen die Eltern gepflegt werden, wird das gemacht, auch wenn die Beziehung schlecht ist. Wenn die Eltern in Not sind, dann hilft man ihnen, auch wenn man es nicht gut miteinander hat. Das sind Gründe dafür, dass der Kontakt so selten abgebrochen wird. Aber wenn es passiert, dann ist das dramatisch für alle Beteiligten. Und es wird nicht gern darüber geredet. «Ich lasse mich scheiden.» – Gut. «Ich habe den Kontakt zu meinen Eltern abgebrochen.» – Schwierig.

Könnte die Dunkelziffer auch höher sein?
Nein, so viel höher wird die nicht sein.

Ist ein Abbruch, gerade weil er so selten passiert, umso erschütternder?
Davon gehe ich aus. In Interviewstudien und Berichten von Therapeutinnen und Therapeuten wird deutlich, dass es ein intensiver Prozess ist, bis diese Entscheidung gefällt wird. Das macht man nicht leichtfertig, sondern es steckt oftmals ein sehr langer Leidensweg dahinter. Einige haben den Kontakt auch schon vorher abgebrochen und später wieder aufgenommen. So ein Hin und Her ist oft der Fall.

Was können Gründe für diesen Schritt sein?
Da waren sich die Studien relativ einig: Es sind meistens massive Grenzüberschreitungen, die auch langfristig wirken. Da wäre der ganze Bereich des Missbrauchs – sexuell, körperlich, psychisch. Und auch da ist bemerkenswert, wie viele Kinder, die von ihren Eltern in irgendeiner Weise missbraucht wurden, den Kontakt halten.

Was sind weitere Ursachen?
Unangemessenes Elternverhalten. Eltern, die schon in der Kindheit extrem autoritär sind, viele Vorgaben machen, extrem viel kritisieren, emotional sehr kalt sind. Oder die die Kinder sehr stark ausnutzen, die wollen, dass die Kinder nur für ihre Bedürfnisse funktionieren. Kinder, die von frühster Erinnerung an das Gefühl haben, nicht in diese Familie zu gehören, nicht willkommen zu sein. Das ist natürlich immer die Sicht der erwachsenen Kinder. Tiefe Vertrauensbrüche sind mögliche Auslöser. Familiengeheimnisse, die unter dem Deckel gehalten werden. Und dann natürlich Aspekte wie Alkoholismus, Drogenkonsum, psychische Krankheiten. Mehr als genug Gründe, die aber dennoch oft aus Sicht der Eltern nicht klar sind.

Damit sprechen Sie etwas an: Es gibt viele Eltern, die sich den Kontaktabbruch nicht erklären können. Wie ist das möglich?
Es ist tatsächlich so, dass Eltern es häufig nicht verstehen. Die erwachsenen Kinder sind zwar überzeugt davon, dass sie immer wieder erfolglos versucht haben, etwas zu ändern. Ihre Konsequenz ist der Abbruch, ein Schritt, den sie oft mit therapeutischer Unterstützung machen. Viele Eltern haben die Versuche davor vielleicht wirklich nicht realisiert, weil es dafür sehr viel Reflexionsfähigkeit braucht. Zudem haben sie ja auch ihre eigene Geschichte. Der Prozess, der nach dem Abbruch einsetzen muss, ist für sie sehr schmerzhaft.

Geht es den Kindern nach einem Abbruch besser?
Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt diesen Moment nach dem Kontaktabbruch, bei dem man denkt: «Jetzt geht’s mir besser.» Diese Treffen, bei denen man emotional leidet, fallen nun weg. Es ist eine Erleichterung. Aber natürlich ist es auch ein Trauerprozess.

Auch wenn man selber diesen Schritt gewählt hat?
Ja, man verzichtet auf eine wichtige Beziehung. Deshalb bleibt bei einigen trotzdem der Wunsch, dass die Beziehung irgendwann wieder aufgenommen werden kann und besser wird.

Und wie fühlen sich die verlassenen Eltern?
Für die ist es ein enormer Verlust, eine grosse Trauer. Aus ihrer Sicht sind sie die Opfer. Sie haben diese Entscheidung nicht selber initiiert. Weil es keine Gespräche mehr gibt, fehlt ihnen scheinbar die Möglichkeit zu erfahren, warum es so ist.

Ist ein Kontaktabbruch für Grosseltern ein doppelter Verlust?
Ja, das würde ich vermuten. Die Beziehung zu den Enkeln ist für die Grosseltern unter normalen Umständen sehr befriedigend und bedeutsam. Eine Beziehung, die eigentlich glücklich macht.

Gibt es Erhebungen darüber, wie Kontaktabbrüche vollzogen werden?
Da gibt es alles, von angekündigt bis zum stillen Rückzug.

Geschehen sie aus Selbstschutz oder zur Bestrafung?
Selbstschutz. Es geht darum, das eigene Leiden zu beenden.

Nochmals zurück zur Eltern-Kind-Beziehung: Sie sagen, das ist eine der wenigen, die fürs Leben bestimmt ist.
Genau, sie prägt uns von Anfang an. Durch die familiären Bindungen können wir diese Beziehung nicht einfach kappen. Gerade in unseren Zeiten, in denen es zu vielen Scheidungen kommt, in der man später heiratet, später Kinder bekommt, stehen sich die Generationen innerhalb einer Familie oftmals noch näher. Wenn man Hilfe braucht, auf wen greift man zurück? Auf die Familie. Bei Erwachsenen sind es auch die Freunde, aber halt sehr oft die Eltern.

Die familiären Beziehungen sind heutzutage also enger als früher?
Das ist so. Viele Erwachsene haben ganz viel Kontakt zu ihren Eltern. Es gibt regen Austausch und Unterstützung auf beide Seiten und das ist für viele enorm wichtig. Also nochmals:
So ein Abbruch ist wirklich eine sehr krasse Entscheidung, die niemand leichtfertig macht.

Können auch psychische Erkrankungen bei den Kindern dazu führen, dass sie den Kontakt abbrechen?
Ja. Es kann durchaus auch auf Seiten der Kinder psychische Erkrankungen geben, die nichts direkt mit ihrer Biografie, ihrer Sozialisation und ihrer Erziehung zu tun haben.

Beeinflussen Ereignisse wie zum Beispiel das Gründen einer eigenen Familie einen Abbruch oder auch eine Wiederaufnahme des Kontakts?
Dazu gibt es keine Ergebnisse. In Studien über Familien ohne Kontaktabbruch finden sich Hinweise, dass das erste Kind den Kontakt zwischen den Generationen intensiviert, vor allem zwischen Tochter und Mutter. Das hat auch mit Kinderbetreuung zu tun. Die Geburt von Kindern ist sicher ein Moment, der dazu führen kann, solche Entscheidungen wie Kontaktabbruch zu überdenken. Ob es dann tatsächlich zur Konsequenz führt, dass man den Kontakt wieder sucht, weiss ich nicht. Wenn die Enkelkinder älter sind, werden auch Fragen kommen zu Oma und Opa. Diese können bei der mittleren Generation Überlegungen in diese Richtung aktivieren: Ist jetzt der richtige Zeitpunkt, es nochmals zu versuchen? Von daher: Klar, eigene Kinder können eine Wiederaufnahme des Kontakts beeinflussen. Das heisst nicht, dass es dann gut geht.

Ist es möglich, dass man über die Enkel Kontakt hält?
Das stelle ich mir schwierig vor. Wie soll das gehen? Wiederum aus Studien zu Familien ohne Kontaktabbruch weiss man, dass die Qualität der Beziehung der Grosseltern zu ihren Enkelkindern immer auch davon abhängt, wie gut ihre Beziehung zu ihren Kindern und Schwiegerkindern ist. Vor allem die Mütter sind Gatekeeper, also Torwächter. Wenn die Beziehung zur Mutter nicht gut ist, wirkt sich das häufig auf die Beziehung zu den Enkeln aus. Und von daher schliesse ich: Wenn es einen Kontaktabbruch gibt und es auf der Ebene zwischen den erwachsenen Kindern und ihren Eltern keinen Kontakt gibt, ist es sicher sehr selten, dass Grosseltern eine Beziehung zu den Enkeln pflegen.

Aber dürfen sie ihren Enkeln eine Karte zum Geburtstag schreiben oder ein Geschenk in den Briefkasten legen?
Ich würde, wenn möglich, fragen oder bitten, das tun zu dürfen. Damit das Enkelkind weiss, dass es Oma oder Opa gibt. Einfach machen ist wieder ein Signal dafür, dass Eltern das Bedürfnis ihrer erwachsenen Kinder ignorieren. Und es ist auch ein wenig übergriffig.

Ganz konkret: Was kann man tun, wenn man als Grosseltern keinen Kontakt hat zu seinen Kindern und Enkeln?
Das ist sehr schwer zu sagen. Weil jeder Fall einzigartig und entsprechend unterschiedlich ist. Und es hängt natürlich auch davon ab, wie der Kontakt abgebrochen wurde. Gibt’s überhaupt die Möglichkeit, ein Signal zu senden, dass man da ist?

Was wäre aber die Voraussetzung für eine Versöhnung auf Seiten der Grosseltern?
Eine gewisse Bereitschaft zur Selbstreflektion und Eigenkritik müssen signalisiert werden. Sonst ist es für die Kinder weiterhin so, dass sich nichts geändert hat. Man sollte sich Hilfe suchen, bei einer Selbsthilfegruppe oder einer Therapeutin, einem Therapeuten.

Die Eltern entschliessen sich zur Therapie, gehen auf das Kind zu, aber es reagiert nicht drauf. Dann ist eigentlich alles ausgeschöpft, oder?
Ja, zumindest in dem Moment. Man kann niemanden zu einer Beziehung zwingen. •

Da die Studienlage zum Thema dünn ist, bleiben in diesem Interview aus Sicht der Betroffenen vermutlich einige Fragen unbeantwortet. Diese müssten individuell und mit einem Therapeuten behandelt werden.
Selbsthilfegruppen: selbsthilfeschweiz.ch


Dieser Artikel stammt aus dem Grosseltern-Magazin 1/2021.
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