Gemeinsam erinnern – einfach mit Erinnerungsbüchern

Das Schreiben über das eigene Leben liegt im Trend. Doch es muss nicht gleich eine Autobiografie sein. Eine gute Möglichkeit sind auch Erinnerungsbücher, die mit einem Fragenkatalog zum Ausfüllen anleiten. Sie bieten Grosseltern und Enkelkindern Ansporn, über Nebensächlichkeiten des Lebens zu reden, nach denen man bestimmt nie gefragt hätte.

Von Silvia Schaub (Text) und Tibor Nad (Fotos)

Enkelin Annick (22) will mehr erfahren über das Leben ihrer 90-jährigen Grossmutter Marta Herrmann.

Marta Herrmann zuckt mit den Schultern auf die Frage, wie ein normaler Tag in ihrer Kindheit aussah. «Normal eben», meint die 90-Jährige und lacht. «Wir haben alle zusammen zu Mittag gegessen. Nach der Schule habe ich Hausaufgaben gemacht und danach haben wir auf der Strasse gespielt.» Das Himpispiel habe sie am meisten geliebt. Himpispiel? Ihre Enkelin Annick (22) horcht auf und will wissen, wie man das denn gespielt habe. Die beiden sitzen im gemütlichen Wohnzimmer der Grossmutter in Ehrendingen AG. Annick hat das Büchlein «Oma, erzähl mir eine Geschichte» vor sich und notiert darin eifrig, was ihr ihre Gramama auf die vorgedruckten Fragen antwortet. Marta Herrmann klaubt immer wieder alte Fotos aus einer Kartonschachtel heraus und zeigt Annick, wer auf den vergilbten Schwarzweiss-Bildern zu sehen ist.
Welche Streiche hat Oma einst gespielt? Wovon hat sie als junge Frau geträumt? Wer war als Kind ihre Lieblingsfreundin? Welchen Beruf hat sie erlernt? Fragen, die man von den Grosseltern gerne beantwortet haben möchte. Doch Geschichten von früher zu erzählen, ist in unserer schnelllebigen Zeit keine Selbstverständlichkeit mehr. Oft fehlt die Zeit und manchmal einfach auch die richtige Gelegenheit. Und wenn, dann fragt man kaum je nach den Details und Nebensächlichkeiten, die ein Leben ausmachen. Eigentlich schade, dass wir gerade mit uns nahestehenden Menschen wenig über das sprechen, was sie in jungen Jahren in ihrem Alltag beschäftigte.
«Natürlich kenne ich ein paar Geschichten und Anekdoten aus ihrer Vergangenheit», sagt Enkelin Annick. Aber durch das Erinnerungsbüchlein könne sie viel tiefer ins Leben ihrer Grossmutter eintauchen, besser erfahren, wie die Zeit und die Lebensbedingungen damals waren. Zufällig hat Annick Herrmann das Erinnerungsbuch zum Ausfüllen in einer Buchhandlung gesehen und gekauft, weil sie es eine schöne Idee fand. «Damit war ja auch eine Ausfüllpflicht verbunden», sagt die Enkeltochter schmunzelnd. Deshalb setzt sie sich immer wieder mit ihrer Grossmutter an den Stubentisch – manchmal bis zwei Uhr nachts – und stellt ihr Fragen aus dem Erinnerungsbuch. Fragen über ihre Kindheit, über ihre Hobbies, ihre Familie, die Schule oder die Zeitgeschichte. «Es ist sehr spannend, die Fragen gemeinsam zu besprechen, weil sich daraus Gespräche ergeben, bei denen ich Überraschendes, Unbekanntes und mir Fremdes erfahre. Dinge, die sonst nur am Rand erwähnt werden, die aber eigentlich ganz wichtig sind.» Vieles komme auch zwischen den Zeilen zum Vorschein, etwa wenn Gramama von ihrem Zuhause erzähle, wie es eingerichtet war oder ob sie ein eigenes Zimmer hatte. «Die Fragen füllen Lücken aus ihrem Leben», sagt Annick.
Für Marta Herrmann wiederum ist es eine gute Möglichkeit, Bilanz über ihr Leben zu ziehen, eine Art Rückwärtsdenken. «Da kommen Fragen, die ich mir nie gestellt hätte», meint Gramama. Zum Beispiel nach dem schönsten Geschenk, das sie jemals erhalten habe. «Es war ein Ring von meiner Tante, ein simpler Metallring, und trotzdem war er für mich sehr wertvoll.» Es freue sie auch, dass ihre Enkelin so viel Interesse an ihrem Leben zeige, «obwohl es ja eigentlich gar nicht viel Besonderes zu erzählen gibt».
«Ausfüllbücher können ein willkommener Impuls sein, sich mit dem eigenen Leben zu beschäftigen, und das vielleicht zum ersten Mal so ausführlich und strukturiert», ist Sven Stillich überzeugt. Der Autor hat das einfühlsame Buch «Was von uns übrig bleibt» (Rowohlt) geschrieben. Darin begibt sich der Hamburger auf Spurensuche und zeigt, was sich alles finden lässt, wenn man einen aufmerksamen Blick hat. «Wir Menschen hinterlassen unmerklich Spuren an Orten und in den Köpfen anderer Menschen.»
Auch Kulturunternehmer Martin Heller stellt fest, dass in unserer Gesellschaft, in der Menschen mit grosser Lebenserfahrung die Mehrheit bilden, das Bedürfnis nach einem Rückblick aufs eigene Leben wachse. «Menschen in meinem Alter suchen nach gehaltvollen Möglichkeiten, sich produktiv mit der eigenen Lebenserfahrung zu beschäftigen und jüngere Generationen daran teilhaben zu lassen – bei zunehmender Auflösung der tradierten familiären Beziehungen.» Martin Heller (67) ist Kurator und Geschäftsführer von Heller Enterprises, dessen Kulturprojekt Edition Unik seit 2015 zweimal jährlich Teilnehmende beim Aufschreiben ihrer Lebenserinnerungen begleitet (siehe Kasten).
Barbara Schmid-Herrmann, Tochter von Marta Herrmann und Tante von Annick, hat sich anstecken lassen und füllt nun für ihre Enkelkinder ebenfalls ein Erinnerungsbuch aus. «Je älter man wird, desto mehr denkt man zurück», sagt die 68-Jährige. «Ich sehe bei meiner Mutter, dass sie vieles nicht mehr weiss.» Ihr war es bei einigen Fragen gleich ergangen. «Deshalb bin ich froh um das Buch, das mir als guter Leitfaden dient.» Sie stelle beim Ausfüllen auch fest, dass über viele Ereignisse in der Familie nicht gesprochen wurde, etwa darüber, dass ihre Grossmutter unehelich geboren worden war, oder über die Kriegsjahre.
«Manches will auch vernarbt bleiben, weil es nicht leicht war, die Wunden zu schlies-sen», glaubt Sven Stillich. Schliesslich sei ja niemand gezwungen, alle Fragen zu beantworten. «Manchmal aber warten Menschen darauf, dass einer fragt.» Natürlich ist dadurch die Gefahr gross, dass die Antworten nur das beleuchten, was auch erzählt werden will. «Schliesslich wissen die Ausfüllenden oder Befragten: Dieses Buch ist das, was eines Tages von ihnen übrig bleibt. Man will ja in einem guten Licht erscheinen.» Man wählt Erinnerungen aus, hebt hervor, verschweigt, biegt zurecht. Für Barbara Schmid-Herrmann sind tatsächlich einige Fragen zu persönlich. Über die schönsten Erinnerungen des ersten Verliebtseins zu schreiben, sei ihr etwas peinlich. Lieber lässt sie deshalb eine Frage aus, statt sie zurechtzubiegen. «Auch Grossmütter sind und waren nicht immer perfekt!»
Da kann es einfacher sein, das Erinnerungsbuch für oder mit dem Enkelkind auszufüllen, statt für die eigenen Kinder. «Beziehungen zwischen Grosseltern und Enkeln sind völlig anders als zwischen Eltern und Kindern», betont Martin Heller. Grosseltern seien ein Stück weniger direkt an der Routine und Hektik des Alltags beteiligt und könnten so zu ihren Enkeln eine besondere Beziehung aufbauen. «Auch hilft es, dass sich die Lebensrealitäten zur übernächsten Generation stärker verändert haben und mehr Anlass liefern, sich über beträchtliche Unterschiede und Veränderungen auszutauschen.» Deshalb geschieht es häufig, dass das explizite Weitergeben von Lebenserfahrungen eine Generation überspringt. Dank dem Austausch der Erinnerungen von Grosseltern zu Enkelkindern werden die sozialen Fortschritte oft viel erlebbarer.
Zudem gebe es zwischen Grosseltern und Enkeln wenig Ungesagtes, Vergrabenes, Brodelndes, betont Sven Stillich. Man habe bei den Heranwachsenden nichts falsch gemacht. «Die werfen einem ihr eigenes Leben nicht vor, da gibt es selten ein schlechtes Gewissen.» Und: Die Enkel fragen auch eher und unbelasteter. Oft kann dadurch eine besondere Nähe und Intimität zwischen den Generationen geschaffen werden. «Die Enkel werden diese Zeit nicht vergessen», ist der Autor überzeugt.
So bleiben Lebensgeschichten, die in Erinnerungsbüchern aufgeschrieben wurden, erhalten und können wiedergelesen werden. Kein Wunder, liegt das Schreiben über das eigene Leben im Trend. Der Erfolg von Büchern, die mit einem Fragenkatalog zum Erzählen zwischen den Generationen anleiten, ist gross. Für manche sind sie aber nicht das richtige Format. Martin Heller findet, dass das Format der Ausfüllbücher mit Fragen nicht zu überzeugen möge, weil sie viel zu viel vorgeben würden. «Vielleicht sind die Themen, die mich beschäftigen, gar nicht diejenigen, die mir diese Bücher nahelegen, oder ich möchte meine Gedanken völlig anders strukturieren und ausdrücken.» Fragebücher dieser Art seien ein zu enges Korsett, um eine wirklich gültige Reflexion und ein stimmiges Weitergeben des persönlich Erlebten anzugehen.
Gut möglich, dass das Ausfüllen eines Erinnerungsbuches dazu ermuntert, die eigene Lebensgeschichte noch detaillierter in ein Buch zu schreiben. Dieses Bedürfnis hat Marta Herrmann jedoch nicht. Sie ist froh um den Impuls durch das Erinnerungsbuch, endlich Kontakt mit ihrer liebsten Schulfreundin aufzunehmen. «Das hätte ich sonst nicht gewagt, wenn Annick mich nicht dazu angeregt hätte.» Im Gegenzug weiss Annick nun, wie das Himpispiel funktioniert. Bei diesem Spiel gilt es, mit einem Bein über die auf dem Boden aufgezeichneten Felder von der Erde in den Himmel zu hüpfen, ohne dabei den Fuss auf einen der gezogenen Striche zu setzen. •


Zum Lesen und Spielen

«Oma, erzähl mir eine Geschichte», Miriam Dorn, Books on Demand, 20 Franken. Zahlreiche weitere Grosseltern-Fragebücher im Buchhandel erhältlich.


«Sag mal, Oma», Elma van Vliet, Knaur, 17 Franken. Bei diesem Fragespiel stellen sich Grosseltern und Enkel abwechselnd lustige, überraschende und interessante Fragen und haben so die Gelegenheit, auf ganz neue Weise miteinander ins Gespräch zu kommen.


«Was von uns übrig bleibt», Sven Stillich, Rowohlt Verlag, 2018, 288 S., 34.90 Franken. Wissenschaftliches Buch, das sich mit den Spuren beschäftigt, die wir hinterlassen, wenn wir lange an Orten gelebt haben, wenn wir Menschen begegnen und sie kennenlernen und wenn wir die Welt verlassen. Und darüber, was Menschen über die Jahrhunderte angestellt haben, um in Erinnerung zu bleiben.


Praktische Anleitung zum biografischen Schreiben

Edition Unik: Das Angebot umfasst vier Schreibveranstaltungen in Bern, Basel oder Zürich, eine exklusive Schreibsoftware, die Schritt für Schritt durch den Schreibprozess führt, und verschiedene Formen der persönlichen Unterstützung beim Niederschreien der eigenen Geschichte. Dauer: 17 Wochen, in denen die eigene Schreibzeit frei eingeteilt werden kann. Zum Abschluss gibt es zwei gedruckte Bücher. Kosten: 550 Franken. Die Edition Unik hat für ihr «sorgfältig entwickeltes, facettenreiches Angebot» den Design Preis Schweiz 2019/20 in der Kategorie «Communication Design» gewonnen.
edition-unik.ch

Meet-my-Life: Online-Plattform für autobiografisches Schreiben, die mit Unterstützung des Institutes für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich entstanden ist. Meet-my-Life hilft den Schreibenden anhand von Fragen, die eigene Biografie zu strukturieren. Keine persönliche Unterstützung. Zeitlich ist man frei. Austausch mit anderen Schreibenden ist möglich. Bereits geschriebene Biografien von anderen Programmteilnehmern stehen online zur Verfügung. Meet-my-Life ist Veranstalterin des jährlich vergebenen Schweizer Autobiografie Awards. Kosten: Freiwilliger Gönnerbeitrag.
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