„Die Blase ist ein Organ wie jedes andere auch“

Über ein Drittel der 60-Jährigen sind in der Schweiz von Urininkontinenz betroffen. Höchste Zeit, darüber zu reden. Das findet auch Karin Kuhn von Inkontinex.

8 Prozent der unter 60-Jährigen und 35 Prozent der über 60-Jährigen leiden in der Schweiz an Urininkontinenz . Was sind die Ursachen?
Es gibt verschiedene Formen von Urininkontinenz. Die häufigsten sind die hyperaktive Blase und die Belastungsinkontinenz. Beide Formen können auch gleichzeitig auftreten.

Worin liegt der Unterschied?
Die Ursachen der Belastungsinkontinenz können eine geschwächte Beckenbodenmuskulatur nach Schwangerschaften und Geburten sein oder durch die hormonelle Umstellung während der Wechseljahre hervorgerufen werden. Ein geschwächtes Bindegewebe, chronischer Husten, das Heben von schweren Lasten und Verstopfung können den Beckenboden ebenfalls schwächen. Die Folgen sind geringe Mengen an Harnverlust durch den erhöhten Druck auf die Blase wie beim Laufen, Springen, Heben, Lachen, Niesen oder Husten. Die hyperaktive Blase hat ihre Ursache im Zusammenspiel von Blase und Gehirn. Der Blasenmuskel zieht sich unkontrolliert zusammen, obwohl die Blase nicht richtig gefüllt ist. Die Betroffenen verspüren vielfach einen heftigen Harndrang ohne oder mit nur kurzer Vorwarnzeit, müssen für kleine Urinmengen sehr häufig auf die Toilette gehen oder verlieren unkontrolliert Urin.

Wie sehr schränkt das Leiden ein?
Urininkontinenz schränkt Betroffene in vielen Aspekten des Lebens ein. Physisch wenn Betroffene erzählen, dass sie nicht mehr ins Training gehen mögen, weil sie bei jedem Hüpfen auf dem Trampolin unfreiwillig Urin verlieren. Sozial wenn etwa Grosseltern erzählen, dass sie sich kaum mehr getrauen, ihre Enkelkinder aufzuheben, weil es auch da zu einem Urinverlust kommen kann. Oder dass Betroffene sich sozial zurückziehen, weil sie Angst haben, ungewollt Urin zu verlieren und das Umfeld das dann merken könnte. Das kann Betroffene in eine soziale Isolation treiben, die bis zu depressiven Verstimmungen führen. Ich habe in diesen 20 Jahren so viele persönliche Geschichten von Betroffenen gehört, dass sich damit ein Buch füllen könnte.

Sie schreiben, dass es sich dabei um ein Tabu handelt. Warum hilft es, darüber zu reden?
Ganz wichtig für Betroffene ist es, zu wissen, dass es sich bei der Urininkontinenz um ein körperliches Beschwerdebild handelt. Wenn jemand ein Herzproblem oder Probleme mit der Niere hat, sprechen wir ja auch darüber. Darum sollte auch bei Blasenbeschwerden möglich sein, ohne Scham darüber zu sprechen, die Blase ist ja ein Organ wie jedes andere Organ auch. Ebenso hilft es zu wissen, dass es weltweit unzählige Menschen gibt, die unter dem gleichen Problem leiden. Deshalb ermuntern wir die Betroffenen, bei Blasenbeschwerden so schnell wie möglich eine Fachperson aufzusuchen, damit die Ursache der Urininkontinenz abgeklärt und eine entsprechende Therapie eingeleitet werden kann. Nur so kann den Betroffenen auch schnell und zuverlässig geholfen werden.

Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
Bei der Behandlung von Belastungsinkontinenz ist der erste Schritt das Beckenbodentraining. Mit einer ausgebildeten Fachperson lernen Betroffene anhand von Übungen, den Beckenboden bewusst zu trainieren. Falls das nicht möglich ist, gibt es die Möglichkeit von Elektrostimulation und konservative Hilfsmittel wie Pessare oder Konen. Wenn diese Möglichkeiten ausgeschöpft sind, gibt es als weitere Therapiemöglichkeit dann die Operation. Bei der Behandlung der hyperaktiven Blase wird ein Trink- und Blasentraining gemacht. Weiter können blasenentspannende Medikamente das Leben der Betroffenen vereinfachen. Wenn das nicht hilft, kann ein Therapieversuch mit Botox gemacht werden, wodurch sich die Hyperaktivität der Blase vermindert. Als weitere Option könnte ein Beckenbodenschrittmacher helfen, die Blase zu kontrollieren. Hier wird eine Elektrode mit einem kleinen implantierbaren Neurostimulator verbunden, der im oberen Gesässbereich unter der Haut platziert wird, wo er praktisch kaum stört und kosmetisch unauffällig ist. ~CAP

Weitere Infos bei der Schweizerischen Gesellschaft für Blasenschwäche unter www.inkontinex.ch oder unter info@inkontinex.ch.

*Karin Kuhn engagiert sich seit 20 Jahren unter anderem als Geschäftsführerin bei Inkontinex der Schweizerischen Gesellschaft für Blasenschwäche für Betroffene