Kolumnen von Marah Rikli

Unsere Kolumnistin Marah Rikli (42) setzt sich als Mutter zweier Kinder, als Journalistin und Moderatorin für Diversität und Inklusion in der Gesellschaft ein.

Verbündung
Durchatmen
Zwanzig Jahre
Über das Heim
Allein gelassen
Das Wort “behindert”




Verbündung

Als ich Mutter wurde, genoss ich die Zeit allein mit meinem Kind, wünschte mir aber auch Gemeinschaft und Austausch mit anderen Müttern. Meine Bemühungen, in Kontakt zu kommen, fruchteten zwar, doch oft stellte ich nach ein paar Treffen oder Gesprächen am Sandhaufen fest, dass ich nicht die Verbundenheit spürte, die ich mir vorstellte. Ich wünschte mir einen Austausch über die Erschöpfung als Mutter, legte schnell offen, dass mein Kind ein schlechter Schläfer ist oder auch die Beziehung zu meinem damaligen Partner sich veränderte. Aus­serdem empfand ich die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Baby als belastend oder hatte viele Ängste um mein Kind. Anstatt einer Atmosphäre der Empathie und Solidarität entstand aber eine Art von Wettbewerb. Die Kinder der anderen schliefen gemäss den Müttern alle schon durch, Probleme gab es bei ihnen kaum – ehrlich erschienen mir die Erzählungen nur vereinzelt. In meiner Wut über diese Dynamik wendete ich mich von den Müttern auf den Spielplätzen ab und verurteilte sie innerlich als «stutenbissig». Lieber pflegte ich Beziehungen zu meinen kinderlosen Freundinnen.
Die Geschlechterforscherin und Autorin Franziska Schutzbach hat in ihrem Buch «Revolution der Verbundenheit» (Droemer Verlag, 2024) über die Verbindung unter Frauen geschrieben. Unter anderem analysiert sie auch die Erzählung des sogenannten Zickenkriegs: «Es gibt eine verletzende Geschichte von Konkurrenz unter Frauen. Aber die Erzählung von der Stutenbissigkeit ist gleichzeitig eine patriarchale Erzählung, eine Ideologie, die dauernd wiederholt wird, damit sie wahr wird und Frauen am Ende glauben, sich nicht verbünden zu können», sagte sie in einem Interview im Schweizer Fernsehen. Durch Literatur wie die von Schutzbach erkannte ich in den letzten zehn Jahren auch für mich immer mehr, dass ich dieses Schema unter Frauen durchbrechen und nicht mehr davor flüchten will.
Viele von uns haben gelernt, sei es von unseren Müttern und Grossmüttern oder auch aus Märchen wie Schneewittchen oder Aschenputtel und unzähligen Fernsehserien, dass wir nicht Verbündete, nur Konkurrentinnen sein können. In Bezug auf Mutterschaft zeigt sich das besonders stark. Denn: Wenn wir schon in vielen Bereichen ausgeschlossen sind vom männlichen Arbeitsleben, müssen wir wenigstens im eigenen Heim und mit den Kindern die besten sein. Schutzbach betont im Interview mit SRF: «Es ist wichtig, das Gelingen weiblicher Verbundenheit zu betonen oder aufzuzeigen, wo Frauen einander nicht bekämpfen, sondern unterstützen.» Die Geschlechterforscherin macht das in ihrem Buch, unter anderem indem sie vielen Frauen, die sie im Leben prägten, Briefe schreibt.
Ich habe lange im Wettbewerb der Frauen mitgespielt, auch wenn ich mich dabei unwohl fühlte. Viele meiner Freundinnen und auch ich haben das erkannt und gehen neue Wege. Zusammen haben wir untereinander Solidarität etabliert, egal wie unterschiedlich unsere Lebenswelten sind. Und wir tragen die Erfahrungen damit gemeinsam gegen aussen, ganz so wie es auch Schutzbach als Weg aufzeigt. Zum Beispiel mit Fotos, Texten und durch Erzählung. Heute kann meine Freundin, die «harte» Karrieremutter, beim gemeinsamen Abendessen weinen, weil sie so erschöpft ist, und lässt sich von der anderen Freundin, der Vollzeitmutter, in den Arm nehmen. Oder die Grossmutter im Kreis gibt zu, dass sie lieber eine Reise machen will als Enkel hüten – und am Schluss plant sie zusammen mit der kinderlosen Frau am Tisch gemeinsame Ferien.
Was wir schliesslich davon haben? Mehr liebevolle und stärkende Beziehungen, weniger Erschöpfung und mehr Kraft, uns gegen Ungerechtigkeiten zu wehren. Oder anders: weniger Einsamkeit und mehr Liebe.



Durchatmen

«Dreimal durchatmen, Ronja», sage ich immer wieder zu meiner Tochter, wenn sie sich aufregt. Inzwischen hat sich dieses kleine Ritual bei ihr fest verankert: Sobald ich es ausspreche, nimmt sie drei tiefe Atemzüge und beruhigt sich zunehmend von selbst. Dieser Fortschritt ist das Ergebnis vieler Übungen und hilft uns immer wieder.
Ronja hat durch ihre Behinderung sehr starke Vorstellungen davon, wie Dinge ablaufen müssen. Pünktlichkeit und feste Routinen sind darum für sie sehr wichtig. Abweichungen vom ursprünglichen Plan bringen sie aus dem Gleichgewicht. Vor kurzem standen wir vor einer besonderen Herausforderung. Nach der Schule hatten wir einen Arzttermin um vier Uhr nachmittags. Doch als wir in der Praxis ankamen, war das Wartezimmer überfüllt, und die Termine waren mindestens eine halbe Stunde verzögert. Für Ronja eine Katastrophe. Sie wurde unruhig, begann zu weinen und fragte unaufhörlich nach der Ärztin. «Bist du wütend?», fragte Ronja nach ein paar Minuten, als sie meine unzufriedene Miene bemerkte. «Ja, Mami ist auch wütend, weil der Termin verschoben wurde», antwortete ich ehrlich. Ronja schaute mich an und machte mir das Ein- und Ausatmen vor, das ich ihr beigebracht hatte. Obwohl sie nur wenig Lautsprache hat, brachte sie damit deutlich zum Ausdruck, dass auch ich durchatmen sollte. Ich musste lachen, atmete tief ein – und konnte mich dann wieder voll auf Ronja konzentrieren: Ich hielt sie, wenn sie nervös wurde, strich ihr beruhigend über den Rücken, spielte mit ihr und nahm ihre Gefühle an, anstatt gegen ihre autistischen Züge zu kämpfen. Ich co-regulierte sie.
Das Konzept der «Co-Regulation» stammt aus der Psychologie und beschreibt, wie Menschen gegenseitig ihre emotionalen Zustände beeinflussen und harmonisieren können. Besonders in Beziehungen, sei es zwischen Eltern und Kindern oder zwischen Partnern und Partnerinnen, ist diese Fähigkeit entscheidend. Für Kinder wie Ronja, die eine kognitive Behinderung haben, ist Co-Regulation besonders wichtig. Sie benötigen zusätzliche Unterstützung, um ihre Emotionen zu verstehen und auszugleichen. Eben wie diese Atemübung, die ich Ronja früh vermittelte. Durch die gemeinsame Erfahrung mit mir lernte Ronja erst, wie sie sich selbst beruhigen kann, und schliesslich sogar, mich zu beruhigen.
Natürlich gelingt das nicht immer. Es gibt viele Momente, in denen Ronja ihre Emotionen nicht alleine regulieren kann und ich sie dabei unterstütze und auch mit Co-Regulation keine Ruhe einkehrt. Das ist zwar kräftezehrend, aber ich habe dadurch viele wertvolle Werkzeuge für den Umgang mit ihr und auch mit anderen Menschen in meinem Leben gelernt.
Früher versuchte ich, gegen Ronjas Wut anzukämpfen. Heute weiss ich, dass es viel hilfreicher ist, ihre Gefühle anzunehmen: «Ich verstehe, dass du wütend bist. Ich wäre auch wütend, wenn mein Arztbesuch verschoben würde», sagte ich zum Beispiel im Wartezimmer. Diese empathische Haltung, die ich durch Ronja bekommen habe, hilft mir mittlerweile auch in anderen Konfliktsituationen. Und ich bin achtsamer mit meinen eigenen Gefühlen geworden, kann sie besser benennen und einordnen. Durch die Reflexion mit Ronja bin ich also auch versöhnlicher mit mir selbst.
Die Erziehung eines Kindes mit Behinderung ist oft herausfordernd und anstrengend, das will ich nicht abstreiten. Doch das Leben mit Ronja ist auch die beste Lebensschule, die ich je besucht habe.



Zwanzig Jahre

Während ich diese Kolumne schreibe, sitze ich im Flugzeug. Das erste Mal seit zwanzig Jahren mache ich zwei Wochen am Stück Ferien ohne meine Kinder. Bisher lagen nie mehr als ein paar Tage drin. Zwanzig Jahre – diese Zahl erscheint mir absurd. Vor allem, weil sie für die Hälfte meines Lebens steht und damit für das Bewusstsein darüber, dass ich mein halbes Leben schon Mutter bin.
Zwei Jahrzehnte Muttersein. Das sind zwei Jahrzehnte in meinem Leben, in denen viel passierte, was ich nicht erwartet hatte: Ich gebar einen Sohn per Notkaiserschnitt, da ich in den letzten Wochen der Schwangerschaft an einem HELLP-Syndrom erkrankte, der stärksten Form einer Schwangerschaftsvergiftung. Tim* kam glücklicherweise gesund zur Welt, ich jedoch kämpfte mehrere Tage um mein Leben. Keine Minute hatte ich erwartet, dass genau mich diese Krankheit treffen könnte, die sehr selten ist. Auch dank meines jungen Körpers erholte ich mich schnell, die Nachwehen davon spüre ich jedoch bis heute.
Zehn Jahre nach Tim kam meine Tochter Ronja* zur Welt, dank Vorsorge und Medikamenten wurde ich nicht krank. Ich durchlief eine gesunde Schwangerschaft und einen geplanten Kaiserschnitt. Nach der Geburt bewegte sich Ronja aber anders, als ich es von Neugeborenen kannte. Sie trank wenig, nahm ab und nicht zu, was mir Panikattacken und Schlafstörungen bescherte. Knapp zwei Jahre später erfuhren wir von Ronjas Behinderung – auch darauf war ich nicht gefasst.
Vor zwanzig Jahren hatte ich von Schwangerschaft, Geburt, Mutterschaft und der Planbarkeit im Leben ein völlig anderes Bild als heute. Ich dachte, Frau müsse sich nur genug anstrengen, um eine gute Mutter zu sein. Frau müsse sich nur genug aufopfern, dann käme alles wie geplant mit den Kindern. Und dies, obwohl ich selbst mit einer Mutter aufwuchs, die dem bereits widersprach. Schon sie kämpfte für bessere Bedingungen und auch ihre Mutter und Grossmutter erlebten Schicksalsschläge, auf die sie nicht gefasst waren. Meine jugendliche Arroganz und vermutlich auch die Sehnsüchte nach der vermeintlich perfekten Mutter, die ich mir dank Hollywood-Filmen vorstellte, liessen mich im Irrglauben, ich sei für mein Glück immer und in allem selbst verantwortlich.
Wenn mein Sohn so früh Vater wird wie ich Mutter, könnte ich bald Grossmutter werden. Ich empfehle ihm zu warten und erst noch einige Male mehrere Wochen am Stück allein Ferien zu machen. Und auch meiner Tochter, die bereits auf ihrem Kommunikationsgerät ihren Kinderwunsch formuliert, erkläre ich oft, dass ein Baby zu bekommen sehr viel Arbeit bedeutet und sehr streng ist. «Ronja Baby», sagt sie dann mit ihren zehn Jahren und zeigt auf ihren Bauch. Dabei sehe ich jedes Mal meine nächsten zwanzig Jahre und die weiteren Fragen und Überraschungen vor mir.
Ich hadere nicht mit den unergründlichen Wegen, die mir das Leben bis jetzt bescherte und allenfalls noch bescheren wird. Ich hadere jedoch mit der Tatsache, dass Mütter wie ich sich erst nach zwanzig Jahren zwei Wochen am Stück erholen dürfen. Und dass manche Mütter von Kindern mit Behinderungen oder solche, die selbst krank sind, solche Erholung gar nie erleben werden, da weder die Behörden noch die Väter es ihnen ermöglichen.
Was mein Plan ist für die nächsten zwanzig Jahre? Weitermachen. Und mich für diese Frauen einsetzen – und für Menschen wie meine Kinder, die beide nicht der Norm entsprechen. Jetzt aber steige ich erst einmal aus dem Flugzeug und bin gespannt, wie sich die Tage ohne Verpflichtungen anfühlen. •



Über das Heim

Wie möchten Sie alt werden? Zuhause mit Ihrer Partnerin, Ihrem Partner? In einer inklusiven Wohngruppe mit jungen und alten Menschen oder Freund:innen? Oder sind Sie vielleicht doch glücklicher in einem Heim? Darüber hat sich die Autorin und Journalistin Katrin Seyfert viele Gedanken gemacht. Ihr Partner erkrankte Anfang 50 an Alzheimer. Ab da pflegte sie ihn, sorgte für das Einkommen und zog drei schulpflichtige Kinder gross. Bis der Tag kam, an dem es für sie nicht mehr zu stemmen war und sie sich für einen Heimplatz entschied. Dort war ihr Partner überraschend glücklich. Im Buch «Lückenleben» schildert sie, wie er zum Beispiel entlastet war durch externe Pflege – endlich musste er sich keine Mühe mehr geben, die Krankheit zu überspielen oder stark zu sein vor der Familie. Die Autorin erzählte mir in einem Interview: «Wie viele Menschen hatte ich eine romantische Vorstellung vom Umgang mit Krankheit. Ich hatte Bilder verinnerlicht von der dementen Grossmutter, die am Kachelofen sitzt und von der Familie liebevoll begleitet wird.» Für Seyfert war es daher ein langer Prozess, loszulassen und die Pflege abzugeben. Das Heim sei ein Glückstreffer gewesen, sagt sie.
Auch mich wird die Frage nach einem Heimplatz wohl irgendwann einholen. Meine zehnjährige Tochter hat eine Behinderung, gemäss den Fachpersonen wird sie nie ohne Unterstützung wohnen können. Auch wenn ich in mich hineinflüstere, dass die Fachpersonen falsch liegen könnten, beklemmt mich der Gedanke, dass es so sein könnte. In meinem Umfeld gibt es behinderte Menschen, die sehr glücklich sind mit der Wohnlösung in einer Institution. Viele jedoch haben Mühe mit den engen Strukturen, den Hierarchien oder dem Personalmangel.
Ausserdem stelle ich einen Generationenunterschied fest: Die älteren Generationen von Menschen mit Behinderungen wurden zu mehr Hilflosigkeit und einem schlechteren Selbstwert erzogen. Die neue Generation, die meiner Kinder, zu mehr Selbstbestimmung und Selbstbewusstsein. Eindrücklich erlebte ich den Unterschied an einer Kundgebung in Zürich. Eine ältere Heimbewohnerin sprach mir gegenüber einzig von ihren Defiziten und sagte mir, sie sei in der «normalen Welt» eben nicht zu gebrauchen. Ein junger Mann mit kognitiver Behinderung, der in der gleichen Institution lebt, schilderte mir das Gegenteil. Er sieht sich selbst richtigerweise als wichtiges Mitglied der Gesellschaft und hat ein starkes Selbstbewusstsein. Er erzählte mir, wie er seine Rechte im Heim einfordere: Zum Beispiel sehe er als erwachsener Mann nicht ein, warum er sein Handy am Abend abgeben soll.
In vielen Heimen gibt es wenig Spielraum für individuelle Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen, es fehlt an Augenhöhe und die Medikation ist oft zu hoch. Der Nationalrat und Inklusionsaktivist Islam Alijaj wünscht sich daher mehr Selbstbestimmung und individuelle Wohnlösungen; er kritisiert den Einfluss der Heimlobby sowie fehlende Möglichkeiten für Lohnarbeit und Altersvorsorge. «Ich will die Behinderten­revolution», sagt Alijaj dazu gegenüber den Medien. Ob meine Tochter lieber, wie Katrin Seyferts nun verstorbener Partner, in einem Heim leben will oder so, wie ich es mir für sie wünsche, nämlich möglichst selbstbestimmt – das weiss ich noch nicht. Ich wünsche mir jedoch, dass Menschen mit Behinderungen in ihren Bedürfnissen und Wünschen ernst genommen werden. Dazu gehört auch das Wohnen und Älterwerden.•



Allein gelassen

Als Ronja* zur Welt kam, war ihr Bruder Tim* neun Jahre alt. Regelmässig kam ich bereits damals an die Grenze meiner Kräfte, um meine bezahlte Arbeit und die Erziehungs- und Hausarbeit zu vereinen. Als Ronja 18 Monate alt war, wurde klar, dass sie sich nicht so entwickelt, wie es Kinder in der Regel tun. Ab da kumulierten sich die Belastungen – psychisch und physisch. Während der nächsten drei Jahre war ich deshalb immer wieder an der Grenze zu einem Burn-out.
Drei Jahre lang durchlief Ronja unterschiedlichste Abklärungen. Zuerst gab es mehrstündige Termine in der Entwicklungspädiatrie, es folgten Untersuchungen und ein MRI mit Sedierung im Kinderspital, um Stoffwechselerkrankungen und Tumore auszuschliessen. Sie durchlief die Abteilung der Genetik und die der Hals-Nasen-Ohren-Krankheiten. Wöchentlich gab es für Ronja Therapien zu Hause und extern, und wir lernten im Selbststudium die Porta-Gebärdensprache, um mit ihr zu kommunizieren. Nebenbei kam mein Sohn in die Pubertät und benötigte mehr Unterstützung in der Schule. Jede Minute war durchgetaktet.
Obwohl Ronjas Vater und ich beide Teilzeit arbeiteten, galt ich für fast alle dieser Stellen als primäre Ansprechperson. Sehr viel der unsichtbaren Denkarbeit, des sogenannten Mental Loads, lag bei mir und brachte mich an den Rand der Erschöpfung. Mehrmals reduzierte ich mein Arbeitspensum oder wechselte die Arbeitsstelle – zu Lasten meiner finanziellen Unabhängigkeit und Altersvorsorge. Sehr oft stand ich im Zwiespalt zwischen «du musst für dich selbst sorgen können» und «du musst für dein behindertes Kind da sein». Zur terminlichen Belastung kam eine psychische Belastung, da wir regelmässig Verdachtsdiagnosen für Ronja erhielten, die unter anderem mit einer verkürzten Lebenszeit einhergingen. Dazu nahm das herausfordernde Verhalten von Ronja zu, und ich erlebte dadurch im öffentlichen Raum immer mehr Diskriminierung. Unterstützung oder Beratung gab es kaum, und wenn, dann war die Suche danach erneut mit Denkarbeit und Stunden am Computer verbunden.
Heute ist Ronja neun Jahre alt. Ich habe mittlerweile gelernt, mit meinen Ressourcen zu haushalten, die Arbeit mit ihrem Vater aufzuteilen und den Stellen immer wieder zu kommunizieren: Ich bin nicht die einzige Person im Familiensystem, die zuständig ist. Dennoch bin ich enttäuscht und wünschte, es wäre auch für zukünftige Mütter einfacher. Denn wir Mütter von Kindern mit Behinderungen werden im Schweizer System sehr oft alleine gelassen und unnötig überbelastet, obwohl wir schon durch die Pflege der Kinder extrem eingespannt sind.
Kürzlich fragte mich mein Vater, Ronjas Grossvater, wie er mich darin unterstützen könne. Er fühle sich oft hilflos. Ich antwortete: «Am meisten hilft mir, wenn du meine Gefühle annimmst und ich ab und zu Dampf ablassen darf.» Ich bin sehr dankbar, dass ich das bei ihm sowieso schon darf. Denn oft passiert mir mit anderen Menschen das Gegenteil. Menschen reden meine Anstrengung klein und ermahnen mich zu Dankbarkeit, da es in der Schweiz immerhin besser sei als in anderen Ländern. Oder sie haben Mitleid. Doch beides bringt mir und auch anderen Müttern keine Entlastung. Verändern müssen sich dafür nämlich die Politik, die Sozialsysteme und die gesamte Gesellschaft. Im Privaten jedoch braucht es vor allem Liebe und Annahme darüber, dass es sehr oft ein Kampf ist.•



Das Wort „behindert“

«Hast du getrunken in der Schwangerschaft oder geraucht?» – «Habt ihr denn keine Tests gemacht?» – «Hat sie wegen dem Kaiserschnitt eine Behinderung?» Solche und viele andere Fragen mit einer subtilen Schuldsuche höre ich seit der Geburt meiner Tochter immer wieder. Auch deshalb hatte ich lange Hemmungen, meine Tochter als Kind mit Behinderung zu bezeichnen. Als ich es dann trotzdem tat, kamen prompt weitere Reaktionen: «Gibt es kein schöneres Wort als behindert?», sagte mir einmal ein Mitfahrer im Tram, als er mich und meine Tochter zurechtwies und ich erklärte, dass sie eine Behinderung hat. Eine Bekannte hatte zudem Mitleid mit meiner Tochter: «Es ist nicht gut für ein Kind zu hören, dass es behindert ist.»
Erst viel später erkannte ich: Wir verbinden in unserer Gesellschaft mit dem Wort «behindert» generell etwas Negatives. Der Inklusionsaktivist und Buchautor Raùl Krauthausen sagte mir dazu in einem Interview: «Eine Behinderung ist eine Eigenschaft wie eine Haar- oder Augenfarbe. Das Problem ist nicht die Behinderung, sondern die Bewertung, die darin steckt.» Die behinderte Aktivistin Luisa L’Audace erklärt in ihrem Buch «Behindert und stolz», wie in der Gesellschaft oft auch sogenannte Euphemismen verwendet werden, um eine Behinderung zu beschönigen. Zum Beispiel ‹Menschen mit Beeinträchtigung› oder ‹Menschen mit Handicap›. L’Audace sagt: «Eine Behinderung ist aber letztlich nichts Negatives 01und hat es nicht nötig, beschönigt zu werden.»
Die negativen Gefühle gegenüber Behinderungen haben wir aber fast alle verinnerlicht. Unter anderem durch Geschichten, Schulbücher oder Filme. Zum Beispiel durch «Heidi». Fast alle kennen die Geschichte: Heidi muss unfreiwillig zu ihrem Grossvater auf die Alp ziehen. Dann – kaum hat sie sich eingelebt – zwingt man sie in die Grossstadt nach Frankfurt. Dort freundet sich das Bergmädchen mit Klara an, die im Rollstuhl sitzt. Schuld an Klaras Behinderung sei unter anderem die ungesunde Stadtluft, heisst es im Buch von Johanna Spyri. «Heilung» bringt Klara eine Reise zum Grossvater in die Schweizer Berge, wo sie Alpenluft atmet und Ziegenmilch trinkt. Bald schon kann Klara gehen und Peter stösst den Rollstuhl die Klippen hinunter. Zwischendurch unterstellt Peter Klara sogar, sie sei zu faul zum Laufen. Dabei könnten solche Geschichten auch anders lauten, zum Beispiel so: Klara hat einen Rollstuhl, die Kinder sind drei Freund:innen, die einen mit, die anderen ohne Behinderungen. Sie kämpfen gemeinsam gegen die rigide Pädagogik der damaligen Zeit und geniessen die Freiheit der Natur.
Ich spreche mittlerweile in meinen Texten und Reden öffentlich aus, dass meine Tochter eine Behinderung hat. Ich lehre sie gerade, auf ihrem Kommunikationsgerät einzugeben: «Ich habe eine Behinderung.» Denn ich möchte, dass sie ihre Behinderung nicht als Defizit, sondern als etwas Normales ansehen darf. Und fragen mich Menschen heute danach, warum sie behindert sei, sage ich: «Ich weiss es nicht, genauso wie ich nicht weiss, warum du und ich keine haben.»