«Langeweile fühlt sich in jedem Alter gleich an»

Der Entwicklungs- und Bildungspsychologie Thomas Götz forscht zum Thema Langeweile. Wir haben mit ihm über den schlechten Ruf von Langeweile, den Einfluss von Smartphones und putzen geredet.

Interview: Geraldine Capaul

Thomas Götz, ich gehe regelmässig schwimmen. Ich mache es gern und es tut mir gut. Aber ehrlich: Manchmal langweilt es mich ein wenig. Spricht das für oder gegen das Schwimmen?
Das spricht eindeutig gegen das Schwimmen an sich oder die Art und Weise, wie man schwimmt. Langeweile ist eine sogenannte «Passungsemotion». Sie signalisiert uns, dass das, was wir gerade tun, nicht wirklich zu uns passt und wir besser etwas anderes tun sollten. Dass uns Langeweile zu anderen, erfüllenderen Tätigkeiten motiviert, ist auch der Grund, warum es die Langeweile überhaupt gibt.

Dann muss ich im Wasser eindeutig mehr grosse Fragen wälzen. Oder mit Kraulen anfangen. Machen Sie auch Sachen, die Sie langweilen und die Sie trotzdem mögen?
Nein – wenn man etwas wirklich mag, langweilt man sich dabei nicht. Wenn ich etwas eigentlich mag, mich aber dabei langweile, versuche ich, die Tätigkeit so zu verändern, dass sie mir Spass macht. Zum Beispiel beim Putzen der Wohnung – eigentlich mache ich das gerne, und wenn ich mich dabei ertappe, mich zu langweilen, ändere ich die Situation, indem ich z.B. Musik anmache oder das Putzen als meditative Handlung uminterpretiere.

Ist Langeweile ein Gefühl wie Trauer oder Freude?
Ja, Langeweile ist eine Emotion. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich negativ anfühlt, man das Gefühl hat, die Zeit vergeht sehr langsam, man lieber etwas anderes machen würde und körperlich wenig aktiviert ist.

Wer Kinder betreut, kennt die Aussage «Mir ist langweilig!». In der heutigen Zeit ein Gefühl, das wir kaum noch aushalten können, sowohl für uns selber als auch bei den Kindern. Ist es wichtig, dass sich Kinder langweilen dürfen, können?
Ja, Langeweile bei Kindern kann ein guter Impuls sein, etwas Neues, also Interessanteres, zu machen. Allerdings ist es wichtig, dass dieses Neue auch etwas Erfüllendes und Gutes ist. Langeweile führt nicht automatisch zu positiven Dingen. Beispielsweise führt sie oft zu ungesundem Essverhalten bis hin zu kriminellen Handlungen.

Was tun, wenn bei Kindern Langeweile aufkommt? Dagegen halten oder aushalten?
Ich empfehle, sie kurz auszuhalten, um sie als Signal auch wahrnehmen zu können. Wir sollten uns jedoch nicht zu lange langweilen, sondern vielmehr überlegen, was wir alternativ an positiven Dingen machen könnten.

Sprechen wir vielleicht zu schnell von Langeweile? Nur, weil ein Kind mal fünf Minuten nicht weiss, was es als Nächstes tun soll, heisst das ja nicht, dass es sich langweilt …
Langeweile ist gegeben, wenn das bereits genannte Erleben vorliegt. Oft wird Langeweile mit Musse verwechselt. Musse fühlt sich jedoch im Gegensatz zur Langeweile nicht negativ an, und man möchte auch nichts anderes machen.

Gibt es einen Unterschied zwischen kindlicher und erwachsener Langeweile?
Nein – Langeweile fühlt sich in jedem Alter weitgehend identisch an.

Aber es ist vermutlich etwas anderes, ob man sich zu Hause langweilt, beim Schwimmen, im Beruf oder mit gewissen Freunden?
Auch hier gilt: Selbst wenn die Langeweile unterschiedliche Ursachen hat, ist das Erleben an sich immer dasselbe.

Sie schreiben über Langeweile: «Sie tritt dann auf, wenn uns eine Situation, eine Tätigkeit oder andere Menschen eigentlich unwichtig sind. Das ist die stärkste Ursache von Langeweile.» Dann wird die Langeweile ihrem schlechten Ruf also gerecht?
Ja, genau. Die stärkste Ursache von Langeweile ist erlebte Unwichtigkeit. Zwei weitere zentrale Ursachen sind Unter- und Überforderung. Aber Langeweile fühlt sich immer gleich an, egal, ob sie infolge von fehlender Wichtigkeit, Unterforderung oder Überforderung entsteht.

Gibt es Menschen, die sich nie langweilen? Und sind die glücklich?
Ich kenne hierzu keine Studien. Aber ich vermute stark, dass es solche Menschen nicht gibt oder dass es sich um Personen handelt, die keinen Zugang zu ihren Emotionen haben. Es gibt im Leben jedes Menschen Situationen, die ihm unwichtig sind oder in denen er unter- oder überfordert ist.

Mittlerweile zelebrieren einige Ratgeber die Langeweile als Schub für Kreativität und fordern, dass wir sie aktiv suchen. Was sagen Sie?
Aus wissenschaftlicher Perspektive ist das nicht sinnvoll. Zunächst sollte Langeweile vermieden werden. Warum sollten wir uns aktiv in ein negatives und damit auch ungesundes Erleben hineinbegeben? Langeweile führt in der Regel nicht zu Kreativität – dazu gibt es mittlerweile sehr viele Studien. Langeweile wird oft geradezu romantisiert. Ein wenig Langeweile schadet sicher nicht, und sie als Impuls für eine Veränderung in positive Richtungen zu nutzen, ist gut. Aber ich rate sehr davon ab, sie aktiv zu erzeugen.

Ein Zuviel an Langeweile kann sicher auch ungesund für die Psyche sein; oder Ausdruck einer psychischen Erkrankung.
Ja, auch hierzu gibt es Studien. Wenn man sehr starke Langeweile über einen langen Zeitraum hinweg erlebt, kann das beispielsweise zu Depressionen führen und auch zu körperlichen Beschwerden. Der österreichische Neurologe und Psychiater Viktor Frankl sprach zum Beispiel von noogenen Depressionen, von Depressionen infolge des Fehlens von Lebenssinn, der ja oft mit dem Erleben von Langeweile einhergeht.

Schnell geben wir dem Smartphone die Schuld daran, dass wir keine Langeweile mehr aushalten müssen.
Aber mich langweilt das Handy manchmal auch, die immergleichen Fotos und Videos.

Zunächst ist es gut, die Langeweile zu spüren. Wenn wir ihr durch den Griff zum Smartphone sofort aus dem Weg gehen, berauben wir uns ihrer wichtigen Botschaft. Wenn wir aber infolge von Langeweile, die wir bewusst wahrgenommen haben, entscheiden, dass Tätigkeiten am Smartphone für uns erfüllend sind, spricht sicher nichts dagegen, etwas Sinnvolles damit zu machen. Die Frage ist also: Ist die Smartphonenutzung eine unreflektierte, spontane Flucht vor der Langeweile oder eine gute Lösung, etwas Sinnvolles zu machen?

Ist Meditation auch eine Form der Langeweile?
Es gibt viele verschiedene Arten von Meditation und sogar solche, in denen aktiv die Langeweile gesucht wird. Das sind jedoch Ausnahmen. Meist geht es bei der Meditation darum, Gedanken nicht anzuhaften, sondern sie ziehen zu lassen und den Geist zu beruhigen. Und Meditation ist für jene, die sie betreiben, auch sicherlich etwas Wichtiges und Wertvolles. Meditation ist deshalb in der Regel keine Form von Lange-
weile.

Sie haben zum Thema Langeweile in der Schule geforscht. Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?
Ja, ich habe selbst zahlreiche Studien an Schulen durchgeführt, und es gibt international Hunderte von Studien zu Langeweile in der Schule. Ein zentrales Ergebnis ist, dass Langeweile eindeutig mit schlechterer Leistung in der Schule einhergeht – und das über alle Schulfächer hinweg.

Sind unsere Kinder öfter unter- als überfordert?
Das kann man so generell nicht beantworten. Es variiert sehr über die Schulfächer hinweg und hängt oft auch mit Begabungen zusammen. Ist ein Kind in einem Fach sehr begabt, kann schnell Unterforderung auftreten. Ist es weniger begabt, tritt schnell auch mal Überforderung auf. Beides führt häufig zu Langeweile in der Schule. Unsere Studien zeigten, dass es nur in einem Schulfach so gut wie keine Langeweile gibt, nämlich im Sportunterricht.

Was können Erziehungsberechtigte von Kindern machen, die sich in der Schule langweilen?
Das Wichtigste ist, über die Langeweile zu sprechen und herauszufinden, welche Ursachen sie hat. Wird ein Fach als uninteressant wahrgenommen, können Erziehungsberechtigte versuchen, den Kindern hin und wieder im Alltag zu zeigen, dass es durchaus von Relevanz ist. Wenn Kinder infolge von Überforderung gelangweilt sind, benötigen sie fachliche Unterstützung, etwa in Form von Nachhilfe. Bei Langeweile aufgrund von Unterforderung könnte über Zusatz­angebote nachgedacht werden wie die Teilnahme an der Mathematikolympiade. Zudem könnten Kinder ermutigt werden, in der Schule eigenständig über das Unterrichtete hinauszudenken und individuell Bezüge zu anderen Fächern herzustellen. Insgesamt kann Langeweile gut verhindert werden, wenn wir ihre Ursachen so gut wie möglich reduzieren.

Empfand man Langeweile schon immer als negativ?
Es gibt zumindest seit dem Mittelalter unterschiedliche Begriffe für die Langeweile, Damals wurde der Begriff acedia verwendet, insbesondere für die Langeweile bei Mönchen. Auch Melancholie oder Monotonie wurden als Begriffe für Langeweile verwendet, aber sie waren alle negativ konnotiert. •

Professor an der Universität Wien und Spezialist für Langeweile: Thomas Götz