Interview: Geraldine Capaul
Eine Arbeitsgruppe der GrossmütterRevolution gibt einen Kalender mit Nacktfotos von älteren Frauen aus der Deutschschweiz heraus. Mit diesem Kunstkalender 2022 wollen sie andere Menschen dazu inspirieren, ihre eigenen (Rollen-)Bilder zu reflektieren. Gearbeitet wurde mit einer Regisseurin und der Fotografin Kathrin Schulthess, die entstandenen Bilder zeigen die Frauen so, wie sie sich selber sehen: Gezeichnet. Geliebt. Vielfältig. Schön. Nackt. Rosmarie Brunner, 63, fünf Enkel, Ruth Fries, 72, zwei Enkel und Hanna Hinnen, 74, zwei Enkel haben das Projekt initiiert. Wir haben mit ihnen gesprochen.
Ein Nacktkalender mit älteren Frauen – welche Botschaft steckt hinter dem Projekt?
Hanna Hinnen: Wir wollten uns wieder einmal zeigen. In der Coronazeit mussten sich die alten Leute doch sehr zurückhalten und blieben oft zu Hause. Deshalb wollten wir frech und witzig in Erscheinung treten.
Rosmarie Brunner: Alte Frauen sind in unserer Gesellschaft nahezu unsichtbar oder werden dämlich dargestellt. Das stinkt uns! Deshalb zeigen wir unsere «Viel-Falt».
Ruth Fries: Wir wollen gesehen und gehört werden.
Gesellschaftliche Entwicklungen betreffen auch uns. Und wir sind mehr als nur Betreuungs-Grosis, unsere Erfahrungen sind wertvoll.
Wie sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen?
RF: An einer Planungssitzung. Einmal mehr frustriert, dass mit uns alten Frauen oft nicht auf Augenhöhe diskutiert wird, fiel der Satz: Vielleicht müssten wir nackt sein, um nicht übersehen zu werden? Vom Lachen zum Nachdenken und zum
fertigen Kalender war es dann ein logischer Schritt.
Wie war die Stimmung am Set?
HH: Es war eine unglaublich gelöste und fröhliche Stimmung. Wir sind uns nicht so gewohnt, nackt herumzulaufen – ich selbst habe meine Eltern nie nackt gesehen – aber wir lachten viel und hatten zwei wunderbare Tage miteinander.
RF: Die Professionalität der Fotografin und der Regisseurin und ihr sorgsamer Umgang mit uns haben viel zu der lockeren Stimmung beigetragen. Wir haben viel gelacht: Ein Raum voller nackter Grossmütter, und alle mit Wollsocken an den Füssen. Oft hatten wir auch die Requisiten an der falschen Stelle, denn nicht alle Körperteile waren noch am selben Ort wie in jungen Jahren. Die Entspanntheit, die Selbstironie und das Gefühl der Zusammengehörigkeit waren grossartig.
Wie fühlen Sie sich, wenn Sie die fertigen Fotos anschauen?
HH: Ich bin sehr stolz und finde die Fotos gelungen und schön.
RB: Ja, genau so wollten wir die Fotos: ästhetisch, ehrlich,
lebendig, wahr, politisch. Ich gefalle mir auch auf den Fotos und ich bin stolz auf uns alle – Models und Profis!
Welches Verhältnis haben Sie heute zu Ihrem Körper? Und wie war das früher?
HH: Ich hatte wenig Probleme mit meinem Körper, der natürlich im Alter nun mehr Falten und viele Leberflecken hat.
Meine Tochter sieht besser aus als ich, aber auch sie wird
älter. Ich würde mich nie liften lassen, bin ganz zufrieden so.
RB: Ich nehme meinen Körper seit jeher gut wahr und finde ihn schön. Manchmal würde ich ein paar extraschwere Kilos gerne weiterschenken.
RF: Als junge Frau war es mir enorm wichtig, einem Idealbild zu entsprechen. Das war mir aber bald zu anstrengend und ich durchschaute die gesellschaftlichen Zwänge und die wirtschaftlichen Interessen, die dahinterstecken. Zugegeben, die Fotos von mir haben mich schon auf den Boden der Tatsachen geholt. Das Eigenbild und die Realität stimmen oft nicht überein. Ich fühle mich aber auch mit Falten und Runzeln – oder vielleicht gerade deshalb – wohl in meinem Körper.
Warum ist der Kalender das perfekte Geschenk? Und wo werden Sie ihn bei sich aufhängen?
RB: Ich werde allen FreundInnen einen Kalender schenken, weil ich ihn toll und vergnüglich finde und weil eine Revision alter Frauenbilder bitter nötig ist. Im Wohnzimmer haben wir einen antiken Notenständer, auf dem jetzt eine gemalte blutte Frau steht. Nächstes Jahr dann unsere «Nackten Tatsachen».
HH: Ich habe 20 Stück bestellt und werde sie vielen Freundinnen und Verwandten schenken. Man muss nicht immer nur die Enkelkinder auf dem Kalender haben, die Nana ist ja auch da! Bei uns wird er im Gemeinschaftsraum hängen, damit ihn möglichst viele Leute ansehen können.
RF: Er ist aussergewöhnlich, Sinnbild von neuen Altersbildern und passend für alle Generationen. Ob im Salon, im Büro oder auf dem Gäste-WC, eines ist sicher – der Kalender bringt Aufmerksamkeit! •
Die soziale Bewegung GrossmütterRevolution engagiert sich, zeigt und deckt auf, verteidigt und klagt an. Die Bewegung denkt heute über Visionen von morgen nach, schafft Kunstwerke oder probiert im Kleinen aus, was sie im Grossen möchte.
Der Kunstkalender kann für 14.90 Franken unter grossmuetter.ch bestellt werden.