Lötschentaler Tschäggättä: Im Tal der Masken

Aus unserem Archiv: Agnes Rieder hat bis heute über 200 Holzlarven für die Lötschentaler Tschäggättä geschnitzt. Ihr Sohn Heinrich und ihr Enkel Hilar führen die Tradition fort.

Von Holger Salach (Fotos) / und Melanie Borter (Text)

Tschäggättä, das sind diese grimmigen Gesellen, die auf vielen Tourismusplakaten des Lötschentals VS und einmal im Jahr – zur Fasnachtszeit – in echt anzutreffen sind. Sie tragen grosse, aufwendig geschnitzte Holzmasken (die Lötschentaler sagen Larven), mehrere Ziegen- oder Schaffelle und darunter einen grossen, schweren Buckel. Als Gurt dient eine Kuhglocke (Trichla), die den ohnehin schon fruchteinflössenden Gestalten noch eine akustische Aufmerksamkeit garantiert.
Dass es die Tschäggättä heute noch gibt, ist Agnes Rieder (76) zu verdanken. Nicht allein deshalb, weil die zierliche Frau in ihrem Leben schon über 200 Larven geschnitzt hat und diese zur Fasnachtszeit jeweils den Lötschentalern ausleiht. Sie kämpfte in den 70er-Jahren auch dafür, dass alte Regeln gebrochen und so das Brauchtum in ein neues Zeitalter geführt werden konnte. Aber der Reihe nach.


Sie ängstigten die Menschen


Über die Ursprungsgeschichte des Brauches herrscht keine Einigkeit, auch Agnes und ihr Sohn Heinrich Rieder (50), der sich ebenso wie seine Mutter in seiner Freizeit ganz dem Schnitzen von Larven verschrieben hat, möchten sich da nicht festlegen.
Für eine lange Zeit trieben die Tschäggättä zwischen Maria Lichtmess und dem Dienstag vor Aschermittwoch ihr Unwesen – und das ist durchaus wörtlich gemeint: Sie polterten durch die engen Gassen der Dörfer, ängstigten die Menschen, packten diese, schmissen sie in den Schnee und beschmierten ihre Gesichter mit Russ. Vor allem auf die Frauen hatten es die Tschäggättä abgesehen. «Unter den Larven durften sich nur ledige Männer unter 20 Jahren verbergen, für sie war es auch ein Liebeswerben», erzählt Agnes Rieder. Die Tschäggättä waren nur tagsüber bis 18 Uhr anzutreffen, und auch sonntags war das Tschäggättu verboten. So kam es auch, dass das Brauchtum in den 1960er-Jahren beinahe ausstarb. «Immer mehr Männer waren den ganzen Tag weg, weil sie aus­serhalb des Tales arbeiteten oder ihre Berufslehre machten», sagt Agnes, die damals schon viel geschickter Larven schnitzte als ihr Mann Ernst, von dem sie es einst gelernt hatte.
Sie und ihr mittlerweile verstorbener Mann kämpften zu jener Zeit – sehr zum Missfallen des Talrates – dafür, dass auch Kinder und Frauen als Tschäggättä auf die Strassen durften und das abendliche Tschäggättu-Verbot aufgehoben wurde. «Wir führten mit Freunden einen Demonstrationsumzug von Blatten bis nach Ferden durch», fügt Heinrich an. «Davon wusste ich damals aber nichts», sagt Agnes. Heute ist daraus der traditionelle Tschäggättu-Umzug entstanden, ein eindrückliches Spektakel, das viele Schaulustige ins Lötschental zieht.
Aufmerksam hört Hilar Rieder (20) seiner Grossmutter und seinem Onkel zu. Auch er schnitzt, «aber nicht so viel und vor allem nicht so geschickt», gibt der 20-Jährige unumwunden zu. Die Larven von Agnes und Heinrich Rieder sind einzigartig und zeugen von grossem Können. Sie wurden auch schon mehrmals prämiert.
«Ich habe noch keine richtige Handschrift beim Schnitzen», sagt Hilar. «Aber bei den Tenues gebe ich mir alle Mühe, einzigartig zu sein. Hauptsache auffallen.» Die Grossmutter schüttelt den Kopf: «Ich will, dass das nicht ausartet mit Ketten und solchen fremden Sachen.» Die Jungen sollten im Stil der Tschäggättä bleiben, dann sei das eine wunderbare Tradition, findet sie und mahnt: «Ihr solltet auch nichts machen, das euch in Schwierigkeiten bringt.»
Sohn Heinrich pflichtet Agnes bei. Dabei sei er in jungen Jahren ja selbst nicht besser gewesen, kontert der junge Hilar. «Ich würde ja gerne so tschäggättu wie ihr früher, aber das geht ja nicht mehr. Heute kommt gleich die Polizei, wenn du jemanden etwas hart anfasst.»
Das sei früher tatsächlich anders gewesen, gibt Heinrich zu. Die Menschen hätten mehr Respekt gehabt vor den Tschäggättä, weil sie auch gewusst hätten, dass man denen nicht zu nahe kommen durfte. Sonst setzte es eine.

Kostümiert gelten keine Regeln

«Wenn ich etwas anstelle, so dass Grossmutter Agnes nicht mehr zufrieden mit mir ist, dann hat die Tschäggätta von mir Besitz ergriffen», erklärt der Enkel Hilar. Er werde zu einem anderen Menschen, für den keine Regeln mehr gelten, sobald er die Kostümierung trage. Diese sei im Übrigen alles andere als bequem. «Man sieht beinahe nichts durch die Masken, das Atmen fällt einem schwer, und der Buckel, die Felle und die Glocke haben ein rechtes Gewicht».
Trotzdem ist das Tschäggättu für Heinrich und Hilar eine grosse Passion. «Immer und überall denke ich daran. Wenn ich im Sommer durch den Wald gehe und einen schönen Ast sehe, überlege ich mir, ob ich den nicht als Stock für die Fasnacht gebrauchen kann», sagt Heinrich und fügt an: «Meine Mutter hat sich für den Brauch eingesetzt, ich mache es eigentlich nur für mich.» Aus diesen Worten klingt auch eine grosse Bewunderung für seine Mutter. Dank ihr und ihren Nachkommen, die den Brauch leben, wird die Tschäggättä noch lange bestehen bleiben. •

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