Mit Tumor

Jana Gschwend lebt seit ihrem zweiten Lebensjahr mit einem Hirntumor. Die Familie erzählt.

Von MELANIE BORTER (Text) und TIBOR NAD (Fotos)

An ein Leben ohne Tumor erinnert sich die heute 15-jährige Jana nicht. Sie war erst zwei, als ihr Hirntumor entdeckt wurde. Ihre Geschichte ist eigentlich so tragisch, dass man sie lieber nicht erzählen möchte. Wenn sie aber von Jana selbst, von ihren Eltern Patric (55) und Monika (54) Gschwend und den Grosseltern René (82) und Cilia (82) Zünd erzählt wird, dann erscheint sie nicht als Tragödie, sondern einfach als Lebensgeschichte. «Das ist jetzt so. Jetzt machen wir das Beste draus.» Unter diesem Motto funktioniert die Familie nicht nur, sondern sie lebt auch danach. Beeindruckend. Jana ist aufgestellt und erzählt offen über ihr Leben mit Hirntumor. Sie erinnert sich mit Freude an die Kinderbücher, die von leukämiekranken Kindern und solchen mit Tumoren handeln. Die Eltern und Grosseltern haben ihr diese oft erzählt. Sie berichtet vom schönen Wetter, das während sechs Wochen herrschte, als sie mit der Mutter täglich zur Bestrahlung ins Paul-Scherrer-Institut fuhr. Und sie freut sich wie ein Kind, wenn sie an die Glacés denkt, die sie nach den Spitalbesuchen immer bekam. Ihre Grosseltern sagen, Jana habe von allen sieben Grosskindern die intensivste Beziehung zu ihnen. «Das hat bestimmt auch mit ihren ersten drei Lebensmonaten zu tun», erklärt die Grossmutter Cilia. «Meine Tochter hatte nach der Geburt Kindbettfieber, das leider lange nicht erkannt wurde», erklärt die gelernte Kinderkrankenschwester. So kam es, dass die Grosseltern sich schon früh sehr intensiv um die neugeborene Jana kümmerten. Nämlich immer dann, wenn der Vater entweder am Arbeiten oder bei seiner Frau im Spital war. «Die ersten drei Monate haben natürlich viel zu unserer intensiven Bindung beigetragen.» Aber auch die Beziehung zu ihrer Tochter Monika und dem Schwiegersohn Patric war seit jeher gut und intensiv. So verbrachten sie regelmässig Ferien gemeinsam, bereits vor Janas Geburt. «Die ersten Ferien mit der kleinen Jana waren schon gebucht, als die Diagnose Hirntumor kam», erinnert sich Monika.

Michael Grotzer ist leitender Arzt der Onkologie am Kinderspital der Universität Zürich und seit Beginn Janas behandelnder Arzt. Er weiss, welche Fragen bei Eltern von krebskranken Kindern als Erstes auftauchen, weshalb die Kinderkrebsforschung so wichtig ist und wie bedeutsam die Grosseltern für die betroffenen Familien sind. Hier geht es zum Interview

Was ging den Grosseltern denn durch den Kopf, als sie von der Diagnose erfuhren? Er und seine Frau hätten sofort überlegt, wer in der Familie sonst noch Krebs gehabt hatte. «Meine Mama hatte Brustkrebs. Sie war damals 50 Jahre alt, als sie eine Brust amputieren lassen musste. Sie starb dann aber erst mit über 90 Jahren. Ich weiss das so genau, weil ich zur selben Zeit – ich war damals 22 Jahre alt – an Kinderlähmung erkrankte», sagt René. Aber sonst gebe es niemanden mit Krebs in der Familie, «auch von meiner Seite nicht», fügt Cilia an. Die Frage nach dem «Warum», kommt die unweigerlich, wenn ein Kind die Diagnose Krebs erhält? René: «Ja, man fragt sich schon. Herrgott nochmal, woher kommt das?» Seine Tochter Monika interveniert: «Wir haben uns das nie gefragt. Aber uns hat man auch klar gesagt, das sei nicht genetisch bedingt.»

«Mich interessierte das am Anfang halt einfach. Aber dann kam ziemlich schnell die Phase, in der man sich sagt, das ist jetzt so. Jetzt machen wir das Beste draus. Das ist eine Haltung, die wir in unserer Familie immer hatten», sagt der Grossvater. Die anderen nicken zustimmend. Tatsächlich ist dies auch der erste und stärkste Eindruck, den die drei Generationen an jenem Nachmittag machen. Sie berichten ohne zu hadern und ohne Anklage von der Diagnose, von der ersten Chemotherapie, von Entscheidungen, die sie treffen mussten, den weiteren Therapien. Sie erzählen aber auch von gemeinsamen Ferien und vom Glück, ein so tolles Umfeld zu haben. Doch nun der Reihe nach.

DIE DIAGNOSE

Die Diagnose war für die Eltern ein rechter Schock. «Zumindest was die Grösse anbelangt», präzisiert der Vater. Das bestätigt auch die Mutter, die, nachdem der Verdacht auf Hirntumor einmal ausgesprochen und das MRI angeordnet war, mit einem kleinen runden Tumor rechnete, den man operativ entfernen muss. Dann aber liess sich die Grösse nicht einmal genau bestimmen, weil der Tumor eine diffuse Form hatte, sich also über Janas Hirn ausbreitete. Patric ballt seine linke Hand zur Faust und streckt sie in die Luft: «Stellen Sie sich vor, meine Faust sei das Stammhirn, und der Arm ist die Wirbelsäule. Janas Tumor verläuft von hier oben bis hinunter in die Wirbelsäule.» Er umfasst mit der Rechten die Faust und legt seine beiden Arme aneinander: «Erschreckend gross.»

Nach dem MRI kam die Operation für die Biopsie. «Da wurde ein Loch in den Schädel gebohrt, das etwa die Grösse eines Fünf-Franken-Stücks hatte», erklärt der Vater. «Sie erzählten uns natürlich auch nicht jedes Detail», so René Zünd auf die Frage, ob er denn nicht grosse Angst ausgestanden habe, als seine kleine Enkelin damals operiert wurde. Er sei vom Typ her auch einer, der die Packungsbeilage eines Medikamentes lieber nicht lese, wenn er es schlucken müsse. «Aber wir hatten von euch damals auch einen guten Eindruck», sagt René seinem Schwiegersohn zugewandt, «uns schien es, als wärt ihr sehr gut aufgehoben im Spital.» Das können die Gschwends nur bestätigen: «Ja, wir wurden gut informiert und beraten. Für uns tönte alles sehr überzeugend und schlüssig, wir hatten grosses Vertrauen in die behandelnden Ärzte.» Bei der Biopsie wurde gleich der Durchgang vom Schädel zur Wirbelsäule erweitert, damit der Tumor mehr Platz hatte. Denn eine operative Entfernung kam nicht in Frage. Sobald sich Jana von dieser Operation erholt hatte, wurde ihr ein sogenannter Port eingesetzt. Da wird eine kleine Kammer mit einem Katheter, der in eine herznahe Vene mündet, oberhalb der Brust unter der Haut implantiert, damit die Ärzte über diesen Port die Medikamente geben können, ohne jedes Mal neu nach einer geeigneten Vene suchen zu müssen. «Dann fingen sie mit der Chemo an», erzählt Monika weiter. Das war eine Behandlung über 82 Wochen, in denen es verschiedene Chemo-Blöcke gab. Ein grosses Thema war zu jener Zeit das Essen. Es war schwierig, Jana zum Essen zu überreden. «Ja, das haben wir auch in den Ferien miterlebt», sagt Grossvater René. Jana sprach sehr gut an auf die Behandlung. Der Tumor ging zurück.

DER RÜCKSCHLAG

Sechs Monate nach Beendigung der Behandlung wuchs der Tumor jedoch wieder. Das war 2007. Plötzlich hiess es, eine Operation wäre doch sinnvoll. Vor allem Monika war skeptisch, also holten die Gschwends eine Zweitmeinung in einem St. Galler Spital ein, wo man zuerst nur palliativ behandeln wollte, sich dann aber doch für eine Operation entschied. Nun wollte die Mutter ihre Tochter keinesfalls in Zürich operieren lassen und der Vater nicht in St. Gallen.

Mit der Idee, dass doch besser die Fachpersonen entscheiden sollten, welche Operation die beste sei, versuchte Patric die jeweiligen Ärzte der verschiedenen Spitäler an einen Tisch zu bringen. Vergebens. Zu sehr war jede Seite von ihrer Art zu operieren überzeugt. «Die Entscheidung wurde uns überlassen, wo wir doch die grössten Laien waren in dieser Konstellation», sagt Patric und äussert damit zum ersten und einzigen Mal Kritik an Ärzten und Spitälern. Das Paar einigte sich darauf: Die Mutter darf entscheiden. «Irgendwie mussten wir doch eine Regel finden, wie wir mit solchen Situationen umgehen», erklärt Patric. «Das haben wir schon mitbekommen, dass sie sich eine Zeit lang nicht einig waren», erinnert sich René. Eingemischt haben sich die Grosseltern aber nicht. «Ich weiss ja nicht, wie ihr das empfandet damals, als wir dazu schwiegen», sagt René, «aber wir hatten ja auch keine Meinung dazu: Wir sprachen ja nicht mit den Ärzten. Wir sahen die Bilder nicht. Wir wussten bloss, Janas Tumor ist kein Kügelchen, und es ist auch keine Kugel.» Dass diese Uneinigkeit aber nicht einfach für ihre Tochter und ihren Schwiegersohn war, merkten die Zünds sehr wohl. «Wenn wir von uns behaupten würden, wir wären immer gleicher Meinung gewesen, dann wäre das eine grosse Lüge. Aber Cilia und ich konnten immer miteinander reden. Das erwarteten wir auch von euch. Dass das nicht einfach ist, wissen wir. Es gibt auch Paare, die an einer solchen Aufgabe zerbrechen. Dass ihr das gemeistert habt, dafür bewunderten wir euch.»

Schliesslich fanden die Gschwends doch noch eine gemeinsame Lösung: Sie holten auf Anraten von Herrn Grotzer, dem Onkologen, der Jana behandelt, eine dritte Meinung in einem Luzerner Spital ein. Da berichteten die Ärzte von ähnlichen Beispielen in den USA, bei denen eine operative Behandlung dazu führte, dass die Kinder danach sechs Monate auf der Intensivstation waren. Damals reifte bei den Gschwends die Entscheidung, die Lebensqualität als den wesentlichsten Faktor anzusehen, während der ganzen Behandlung. Sie entschieden ­­– diesmal gemeinsam –, gar nicht zu operieren. «Operieren kann man ja immer noch, aber zuerst probieren wir lieber alle anderen Möglichkeiten aus», erklärt Monika.

DIE ZWEITE CHEMOTHERAPIE

Es folgte die zweite Chemotherapie. «Da ging das Hungern los», so Jana, die sich an diese Zeit erinnert – sie war damals fast fünf Jahre alt. Sie bekam zu Beginn der Therapie für jeweils fünf Tage eine Nasensonde, über die das Medikament Temodal verabreicht wurde. «Das macht man so, wenn die Kinder noch zu klein sind, um Kapseln schlucken zu können», erklärt Monika. «Ich wollte gar nichts mehr schlucken, nicht einmal meinen eigenen Speichel brachte ich hinunter, geschweige denn das Essen oder etwas zu trinken», erzählt Jana. «Aber diese Nasensonde hattest du nicht lange, die haben wir praktisch nicht erlebt», fällt der Grossvater ein. Die Mutter bestätigt: «Etwa drei bis vier Monate, danach bekam sie eine Peg-Sonde eingesetzt. Das ist ein direkter Zugang durch die Bauchdecke in den Magen.»

Vier Jahre dauerte diese Chemotherapie. Das ist eine sehr lange Zeit. «Für uns war es eine Erleichterung, dass wir jeweils nur für ein paar Stunden oder höchstens einen Tag im Spital sein mussten. Das ist natürlich einfacher, wenn man zu Hause sein kann», sagt Monika. Jana musste in dieser Zeit innerhalb von drei Stunden das Kinderspital in Zürich erreichen können. Sonst aber versuchten die Gschwends, ihr Leben möglichst normal weiter zu leben. Die Spitalbesuche legten sie so, dass Patric und Monika weiterhin arbeiten konnten. Sie als Apothekerin, er als Elektroingenieur. «Und fast jedes zweite Wochenende verbrachten wir im Wallis im Ferienhaus meiner Eltern», berichtet Monika.

Die Grosseltern besuchten und hüteten ihre Enkelin auch in dieser Zeit. «Wir haben Jana aber nie als Mitleid erregendes Mädchen behandelt», sagt René. Ihn beeindruckte es, wie gut Jana damals schon informiert war. Sie habe zu Hause auch Kinderbücher gehabt, die den Tumor erklärten. «Ja, ich erinnere mich! Julie ist wieder da, und Eugen und der freche Wicht. Die habe ich ja immer noch, dieses Bücher», schwärmt Jana. Sie erklärte ihren Grosseltern vieles rund um ihre Behandlung. Einmal sagte sie: «Grossmama, du musst keine Angst haben, von zehn sterben nur zwei oder drei.» – «So oder ähnlich sagte sie es tatsächlich», sagt der Grossvater und muss lachen.

Erst am Ende des zweiten Chemo-Blocks musste Jana eine Woche stationär im Kinderspital bleiben. «Das ist meine schlimmste Erinnerung. Die schlimmste!», ruft Jana und erzählt, wie unwohl es ihr war, weil sie viel Antibiotika erhielt, alle Medikamente immer oral nehmen musste. «Und den Fernseher bekam ich auch erst nach dem fünften Mal Nachfragen.» Mit sieben, acht Jahren habe sie halt alles voll mitbekommen, erklärt der Grossvater. Die Nebenwirkungen der Chemotherapie nahmen immer mehr zu, der Erfolg der Therapie war jedoch nicht so gross wie erhofft. So wurde sie nach vier Jahren abgebrochen. «Wir behandelten nur noch homöopathisch», erzählt Monika. Ansonsten hiess es: abwarten, beobachten.

DIE ENTSCHEIDUNG

Erst im Sommer 2015 war der Tumor wieder so stark gewachsen, dass bei Jana Ausfälle drohten. Eine nächste Entscheidung stand an: Chemotherapie oder Bestrahlung? «Dann habe ich selbst entschieden», sagt Jana stolz, «Bestrahlung.» Am Morgen ging Jana zur Schule – sie war damals schon in der Oberstufe –, am Nachmittag zur Bestrahlung ins Paul-Scherrer-Institut nach Villigen AG. Eine Stunde Hinfahrt, eine Stunde dauerte das Prozedere der Bestrahlung, dann wieder eine Stunde Rückfahrt. Das ganze sechs Wochen lang, jeden Nachmittag. Insgesamt dreissig Mal wurde sie bestrahlt. «Und jedes Mal gab es ein Eis danach», schwärmt Jana, freut sich noch heute mit kindlicher Begeisterung.

«Da bekamen wir grosse Achtung vor Jana, wie sie das ohne Murren durchzog», sagt der Grossvater. «Und als wir jeweils nach Hause kamen, lernte sie für die Schule und holte nach, was sie verpasst hatte», erzählt die Mutter, ebenfalls mit grosser Anerkennung. Der Strahlenkater kam erst danach, fast drei Monate lang war Jana fürchterlich müde. Ob die Bestrahlung gewirkt hatte, erfuhren sie erst sechs Wochen nach der letzten Bestrahlung. «Du hast dich doch so aufgeregt, weil sie die Bilder so oft verglichen», foppt Jana ihre Mutter. «Ja, bei diesen Untersuchungen mit dem MRI ist man immer nervös», gibt Monika unumwunden zu. «Das sind wir auch, bis wir jeweils dein SMS bekommen», sagt die Grossmutter. Halbjährlich muss Jana seither ein MRI machen. Doch seit der Bestrahlung herrscht Stille, der Tumor ist noch da, aber nicht mehr aktiv. Umso aktiver ist Jana, sie wird im Sommer eine Lehre als Pharmaassistentin beginnen und freut sich darauf. Ein neuer Lebensabschnitt beginnt.
Mit Tumor.•

René Zünd hört seiner Enkelin Jana aufmerkam zu, wenn sie von der Zeit im Spital erzählt.
Vater Patric Gschwend und Grossmutter Cilia Zünd.