Luzie darf zum ersten Mal alleine bei ihrer Oma übernachten. Zu denken, nur die Enkelin sei deswegen nervös, wäre aber falsch.
Von Hans Ten Doornkaat (Text)
Im Bilderbuch «Nachtlampenfieber» erzählt Stefanie Schneider von der Grossmutter, die unsicher und aufgeregt ist, weil ihre Enkelin Luzie zum ersten Mal bei ihr übernachten darf. Auf der Handlungsebene ist sie bis zum Lichterlöschen die perfekte Alleinunterhalterin und Leckereienfee für Luzie. Zwar bedienen die Illustrationen das Cliché einer drolligen Omi, aber zugleich zeichnet Nele Palmtag alltägliche Figuren aus Fleisch und Blut und Psyche. Und der Text wiederum nuanciert die freundlichen Eigenheiten der Grossmutter immer neu und überraschend. Das gelingt, weil die Illustrationen den Text wirklich ausbauen. Wenn Oma etwa «schnell die Wäsche fertig macht», werden die Wäschestücke zu Verkleidungen, aber nur für Luzie und ihre Puppe, denn «Oma ist das Publikum und die Band». Die Wäscheleinen überspannen die Buchdoppelseite, vom Schlafzimmer hinüber in einen weniger definierten Hintergrund: Links hängt Oma ein Tuch auf, rechts ist dieses Luzies Schleier. Und was im Text «die Band» ist, ist im Bild die Oma mit der Handorgel. So werden Einzelmomente intensiviert, die Kleidungsstücke spielen mit, und die Lesenden werden zu Verbündeten der beiden Hauptfiguren, denn mit ihnen erleben sie nicht nur das «Nachtlampenfieber», sondern auch vieles in wandelbarer Bedeutung. Die Honigmilch und das Einschlafritual verbindet die Enkelin mit ihrer Mutter, weil die Oma erklärt, dass sie seinerzeit ihr Kind, Luzies Mutter, damit verwöhnte. Das Geflecht der Generationen, die gleiche Verhalten und Erfahrungen mit verschiedenen Sichtweisen aufladen und in Anekdoten verknüpfen, findet seine Entsprechung in dem Bild-Text-Leseangebot, weil Nele Palmtag in ihren Illustrationen Requisiten einführt und immer wieder neu einsetzt. Das klingt vielleicht kopflastig, weil ich die Raffinesse des Bilderbuches zu erklären versuche. Aber das Bilderbuch ist wunderbar sympathisch und durchdrungen von gegenseitigem Verständnis und Respekt. Sollten Sie Ihre Aufgabe als Grossmutter anders erfüllen, liegen weder Sie noch die Bilderbuchgrossmutter daneben. Unterschiede just ohne Vorverurteilung anzusprechen, das öffnet Welten.
Nachtlampenfieber, Stephanie Schneider (Text), Nele Palmtag (Bild). Beltz & Gelberg 2022. 18 Franken.