Naturerlebnis 2.0

François Höpflinger (70)
ist in selbstständiger Forschung und Beratung zu Alters- und Generationenfragen tätig. Nebst seinen wissenschaftlichen Arbeiten schrieb der Soziologieprofessor auch diverse Kurzgeschichten, Satiren und Fabeln. Er ist
verheiratet, hat zwei Kinder und vier Enkelkinder.

Tier- und Naturfilme erleben bei Jung und Alt eine Hochkonjunktur, teilweise als Gegenreaktion auf eine künstlich gebaute und verbaute Welt. Wilde, ungezähmte Natur wird allerdings nur noch selten persönlich direkt erlebt, etwa bei einem ungestümen Wintersturm oder bei Blitz und Donner an heissen Sommertagen. Wenn Kinder – eventuell zusammen mit ihren Grosseltern – Natur erleben, geschieht dies zumeist in einer gepflegten Form: in einem ordentlich aufgeräumten Wald mit vorbereiteten Feuerstellen oder in einem gepflegten Garten mit handgefertigten Insektenhotels. Skifahren findet auf präparierten Pisten statt und bei Schneemangel wird Kunstschnee eingesetzt. Kinder begegnen Tieren weitgehend in Form von flauschigen Kuschelmonstern, domestizierten Haustieren oder in einem Streichelzoo. Kinderzimmer werden immer häufiger durch Spielsachen aus Plastik bestimmt.
Liest man Märchen von früher, war die Natur oft ungezähmt und gefährlich, speziell für Kinder: In Wäldern konnte man sich auf ewig verirren (Hänsel und Gretel konnten leider nicht auf ein GPS-Gerät mit Hexenwarnung zurückgreifen). Männliche Wölfe jagten am liebsten kleine Mädchen in roten Mänteln (auch wenn sie sich zeitweise zuerst mit der Grossmutter begnügen mussten). Heute ist ungezähmte Natur wesentlich kleiner. Gefährlich gelten kaum mehr Wölfe, sondern primär Zecken und Grippeviren (miniaturisierte Gefahrenquellen).
Auch Landschaften sind wesentlich menschlich geprägt. So existiert im schweizerischen Mittelland kaum mehr ein Ort, von dem aus man keine Häuser sieht. Dass der Mensch die Natur prägt, beeinflusst auch die Weltsicht kleiner Kinder. Als wir vor Jahren mit der Eisenbahn dem Zürichsee entlangfuhren, wollte unser Enkelsohn wissen, wie lange der Zürichsee sei. Wir erklärten ihm, dass er von Zürich bis weit hinten nach Rapperswil und noch weiter verläuft. Seine trockene Reaktion als damaliger Fan der Trickfilmfigur «Bob der Baumeister»: «Da mussten sie aber lange baggern!»
Der Mensch greift immer stärker in Landschaft und Natur ein; mit der immer deutlicher werdenden Konsequenz, dass menschliches Verhalten die Natur beziehungsweise das Klima unberechenbarer werden lässt. Wesentlich am Klimawandel ist nicht allein, dass es insgesamt wärmer wird, sondern dass sich extreme Wind-, Regen- und Temperaturbedingungen häufen. Davon bedroht fühlen sich zunehmend junge Menschen, die sich vermehrt für eine aktive Klimapolitik engagieren. Politisch erfolgreich werden sie allerdings nur sein, wenn sich auch die älteren Generationen mitengagieren. Gemeinsames Naturerleben von Enkelkindern und Grosseltern wird in Zukunft immer stärker ergänzt durch gemeinsames Engagement für eine gesunde Umwelt und einen gebremsten Klimawandel. •