Peter von Matt: «Die böse Grossmutter ist interessanter als das reine Idyll»

In der Literatur gibt es einen grossen Reichtum an Grosselternfiguren, sagt Germanist und Schriftsteller Peter von Matt. Eine der pannendsten von ihnen stammt aus dem Emmental.

Von Rolf Käppeli (Interview) und Tibor Nad (Fotos)


Hier geht es zum PDF dieses Interviews, wie es in der Ausgabe 2/2014 erschienen ist.


«Grosseltern»: Herr von Matt, literarische Texte zur Beziehung zwischen Grosseltern und Enkelkindern gibt es anscheinend wenige. Spontan kommen mir nur einzelne Märchen und Johanna Spyris «Heidi» in den Sinn. Stimmt der Eindruck?
Peter von Matt: Dieser Eindruck kommt dadurch zustande, dass die Grosseltern in der Literatur eher zu den Begleitfiguren zählen und daher weniger im Bewusstsein bleiben als die Hauptgestalten der Romane und Erzählungen. Wenn man das Thema aber länger mit sich herumträgt, wird einem bewusst, dass es einen grossen Reichtum an Grosselternfiguren gibt.

Wurzeln die Ursachen für den spärlichen Befund auch darin, dass die Menschen erst in jüngerer Zeit länger leben und als Grosseltern ein gesichertes Auskommen haben?
Auch hier muss man spezifizieren. Einerseits gab es immer Menschen, die trotz der statistisch niedrigen Lebenserwartung ein sehr hohes Alter erreichten, andererseits führte die hohe Frauen-
sterblichkeit im Kindbett dazu, dass viele Männer mehrmals heirateten, so dass die Kinder meistens doch eine Grossmutter hatten. Auch waren früher viele Leute schon mit vierzig Jahren Grosseltern.

In «Heidi» und in Märchen wie dem «Rotkäppchen» übernehmen die Enkelkinder die Rolle der Helferin, ja der Lebensretterin. Ein Zufall?
Das Stichwort der Rolle ist sehr wichtig. Wenn man systematisch vorgeht, findet man sich bald in einem komplexen Feld von drei Generationen, die zueinander nicht nur in einem Verwandtschaftsverhältnis stehen, sondern auch in einem vielfältigen Konfliktbereich. In der patriarchalen Tradition ist das Vater-Sohn-Verhältnis hoch brisant; Macht und Liebe können da schroff auseinanderbrechen. Dass der Vatermord immer zu den grössten Verbrechen zählte, hängt damit zusammen, dass er als reales oder symbolisches Geschehen vielfach in der Luft lag. Die Aggressionen der Töchter gegen die Mütter gab es ebenfalls, sie waren in der Literatur lange tabuisiert, sind aber seit einigen Jahrzehnten ebenfalls zum Thema geworden. Wenn man sich nun bei solchen Generationenkonflikten eine Grosselternfigur dazu denkt, erkennt man leicht, welch unterschiedliche Funktionen dieser Gestalt zukommen können. Grossmütter und Grossväter sind für die Kinder gerade deshalb so wichtig, weil sie die Elternautorität relativieren. Der Vater oder die Mutter haben dann selbst noch eine Autorität über sich, oder sie machen sich vor den Augen der Kinder schuldig, wenn sie diese nicht respektieren. Da gibt es vielfältige Möglichkeiten der literarischen Inszenierung. Es kann zu Koalitionen zwischen der ersten und der dritten Generation gegen die zweite kommen oder doch zu Rollendifferenzen, wenn etwa die Grosseltern weniger streng sind als die Eltern. Man könnte einmal ganz abstrakt alle Varianten der möglichen Konflikte entwerfen und würde dann wohl für alle auch literarische Zeugnisse finden. Dass die Kinder für diese Dinge früh ein Sensorium entwickeln, zeigt etwa die auffällige Aufmerksamkeit, die sie dem kleinen Grimm-Märchen «Der alte Grossvater und sein Enkel» entgegenbringen – übrigens ein sehr weit verbreitetes Erzählmuster, das abgewandelt sogar Shakespeares «König Lear» zugrunde liegt, der grössten aller Tragödien.

Welche literarischen Texte werfen im 19. Jahrhundert ein interessantes Licht auf die Drei-Generationen-Gesellschaft: Jeremias Gotthelfs Romane?
Gotthelf ist sicher wichtig, weil er ja fast immer mit dem grossen Heimwesen operiert, wo Meister und Meisterin über die Kinder und das Gesinde herrschen und oft genug die Grosseltern im Stöckli wohnen, bald mehr, bald weniger geliebt, bald gütig, bald selber weiterhin herrschsüchtig. Die Grossmutter als weltliche Heilige erscheint bei Gotthelf ergreifend im kleinen Roman «Käthi, die Grossmutter». Hier ist die Grossmutter einmal selbst die Hauptgestalt. Es wäre spannend, diesen Text auf Spuren der skizzierten Konflikte hin zu untersuchen.

Andere Beispiele?
Monumental und mit nichts zu vergleichen in der deutschen Literatur ist Gotthelfs Anne Bäbi Jowäger, die im gleichnamigen Roman sowohl als Mutter wie als Grossmutter geschildert wird, überwältigend komisch, aber auch erschreckend und tragisch. Auch das Konfliktfeld Mutter-Schwiegertochter-Enkel wird hier ausgerollt. Anne Bäbi ist ebenso dumm wie autoritär, insofern eine Komödiengestalt, und doch liebesfähig und gefühlsstark. Dass Kinder an der Liebe ihrer Mütter und Grossmütter zugrunde gehen können, wird hier erschütternd vorgeführt. Aber kaum jemand will heute von diesem gewaltigen Roman etwas wissen.

Was ist mit den Grossvätern?
Der Grossvater als versöhnliche und tröstende Instanz beim harten Konflikt zwischen Kind und Mutter erscheint fast urbildlich am Anfang von Stifters Erzählung «Granit». Dieser unvergessliche Eingangstext geht über in eine lange Erzählung des Grossvaters. Damit wird eine literarisch wichtige Rolle sichtbar: die erzählenden Grosseltern. Sie wissen Dinge, die sonst niemand mehr weiss, können Werte vermitteln, die vielleicht bedroht sind. Wunderbar ist in dieser Hinsicht die kleine Erzählung von Meinrad Inglin, «Der Lebhag», die eben beim Schweizerischen Jugendschriftenwerk SJW in einer reizvollen Einzelausgabe neu erschienen ist. Inglin hat damit schon in den Fünfzigerjahren die vermutlich erste im genauen Sinne ökologische Erzählung unserer Literatur geschrieben. Und auch hier taucht der Konflikt zwischen der Eltern- und der Grosselterngeneration auf, dessen Opfer zuletzt auch die Kinder sind.


Wie hat sich das Grosseltern-Thema literarisch im 20. Jahrhundert entwickelt?
Das Thema zieht sich durch alle Jahrhunderte; es reproduziert sich in den Familien immer neu, bald gleich, bald anders. Es ist biologisch fundiert, weil der kleine Mensch ja zunächst bei Eltern und Grosseltern in die menschliche Gesellschaft hineinwächst, hier seine ersten Konflikte erlebt. Aber genau genommen sind alle grossen Themen der Weltliteratur biologisch begründet. Sie spiegeln die unausweichlichen Krisen des Lebensganges. Bei den frühen Vorgängen dieser Art können die Grosseltern sehr wichtig sein. Schon in der ersten Zeit der Psychoanalyse hat einer der wichtigsten Freud-Schüler, Ernest Jones, eine folgenreiche Studie veröffentlicht: «Die Bedeutung des Grossvaters für das Schicksal des einzelnen», in der er zeigt, dass seelische Vorgänge mit dem ganzen Familiensystem vernetzt sein können.
Weil die Beziehung Kind-Grosseltern ein naturhaft-biologisches Fundament hat, glaube ich nicht, dass das Thema sich von Jahrhundert zu Jahrhundert fundamental ändert. Aber die jeweilige Struktur der Gesellschaft, auch ihre ökonomische Beschaffenheit und etwa die Stadt-Land-Differenz wirken sicher mit und verschieben die Konfliktstrukturen. Wo man Hunger hat, streitet und hilft man sich anders als in einer Wohlstandsgesellschaft. Nur hat es bisher noch nie ein hungerfreies Jahrhundert auf diesem Planeten gegeben.

Wenn sich das Thema nicht fundamental ändert, worin liegt dann das Beständige?
Grundsätzlich gilt wohl für alle Epochen, dass ein Grossvater, eine Grossmutter in der Literatur sehr leicht ins Gute oder ins Böse stilisiert werden können. Spontan gehen wir sicher meistens vom Guten aus, also die Stube, der Garten, die Küche der Grossmutter als Idyll. Dagegen ist nichts zu sagen, und sehr viele haben das so erlebt, ich auch. Nur wirft das reine Idyll literarisch wenig ab. Die böse Grossmutter ist da schon interessanter, weil sie eben der Erwartung und dem Klischee widerspricht. Sie kommt tatsächlich auch schon sehr früh vor, in der deutschen Romantik etwa bei Brentano, in der gespenstischen Ballade «Grossmutter Schlangenköchin». Das Gedicht geht wahrscheinlich auf eine ältere Tradition zurück. Es markiert mit dem Thema des ermordeten Kindes einen absoluten Grenzpunkt des ganzen literarischen Feldes. Ein modernes Beispiel dafür findet sich in Ödön von Horváths berühmtestem Stück, «Geschichten aus dem Wienerwald», wo die Grossmutter das uneheliche Kind ihres liederlichen Enkels absichtlich erfrieren lässt.

Die böse Oma als literarische Quelle. Ist das Paradies der Enkelkinder bei den Grosseltern kein Thema?
Das Gegenteil, die Idylle beim geliebten Grossvater, der geliebten Grossmutter, ist natürlich tausendfach verbreitet und pflanzt sich weiter fort. Sie lebt von der Annahme, dass bei den Grosseltern ein völlig konfliktfreier Ort sei, was sicher oft auch zutreffen mag und daher vielen von uns zu paradiesischen Erinnerungen verholfen hat. Zu dieser Idylle gehören dann wiederkehrende Elemente wie bestimmte Speisen, die nur die Grossmutter kochen kann, unvergessliche Gerüche, Möbel und Bilder an der Wand. Man muss sich aber hüten, den ganzen Grosselternkomplex reflexartig auf das Idyllische zu reduzieren.

Wie zeigt sich das Thema in der neusten Literatur?
Interessant ist die Rolle, die die Grossmütter in den Romanen der heutigen Immigrantinnen und Immigranten spielen. Da verbinden sie sich oft mit der Welt der Herkunft, einer Gegenwelt zum neuen Lebensraum. Das kann dann weit über das bloss Idyllische hinausgehen und wichtig werden für die kulturelle Selbstfindung der Eingewanderten und ihrer Kinder. Pittoreske exotische Grossväter und Grossmütter sind eine literarische Chance, die die Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit Migrationshintergrund den Kollegen in der neuen Heimat oft voraushaben und die sie dann auch kräftig ausbeuten. Das wäre eine eigene Untersuchung wert.

Geben Sie uns eine Lesempfehlung zur Drei-Generationen-Familie?
Drei Grossmütter zum Schluss. Sie sprengen die üblichen Schemata. Da ist einmal jene, die man die eiserne Grossmutter nennen könnte. Sie ist absolut selbstbestimmt, macht, was sie will, ist selbst in der grössten Gefahr furchtlos und klug. Ein grossartiges Beispiel findet sich in Faulkners Roman «Die Unbesiegten»; dieser spielt mitten im amerikanischen Sezessionskrieg. Erlebt wird das Handeln der alten Frau von zwei Jungen, ihrem Enkel und dessen Freund. Nacherzählen kann man das nicht, man muss es lesen. Das zweite Beispiel ist Bertolt Brechts Erzählung «Die unwürdige Greisin», eine kurze Erzählung von einer Witwe, die im hohen Alter ihr Leben völlig ändert und sich zum Entsetzen ihres Sohnes gegen alle Konventionen benimmt und jeden Tag nach Lust und Laune geniesst. Brecht kehrt damit den Typus der stets opferbereiten Grossmutter um, in einem entschlossen emanzipativen Text. Und der letzte Hinweis ist die älteste Geschichte von einer dementen Grossmutter, die ich kenne. Sie lebt weitab in einem tiefen Wald nur mit ihrer Enkelin, einem wilden Mädchen, das niemand zähmen kann und das in einer kindlich unbekümmerten Weise zu der Alten schaut, sie bei schönem Wetter an die Sonne schleppt, füttert und mit farbigen Bändern dekoriert. Diese Beschreibung ist atemberaubend. Sie findet sich in einer fast unbekannten Erzählung von Stifter mit dem Titel «Der Waldbrunnen». •


Die Werke, die Peter von Matt im Interview erwähnt:

Brüder Grimm
Der alte Grossvater und sein Enkel

William Shakespeare
König Lear

Jeremias Gotthelf
Käthi, die Grossmutter / Anne Bäbi Jowäger

Adalbert Stifter
Granit / Der Waldbrunnen

Meinrad Inglin
Der Lebhag (neue SJW-Ausgabe)

Ernest Jones
Die Bedeutung des Grossvaters für das Schicksal des einzelnen

Clemens Brentano
Grossmutter Schlangenköchin

Ödön von Horvath
Geschichten aus dem Wienerwald

William Faulkner
Die Unbesiegten

Bertolt Brecht
Die unwürdige Greisin


Peter von Matt
Der Schweizer Literaturwissenschafter Peter von Matt ist selber Grossvater. Seine Enkelkinder Meret, Kasimir, Florian und Benjamin sind zwischen 1 und 13 Jahre alt. Sie bedeuten ihm und seiner Frau sehr viel: «Ich hätte nie gedacht, dass die Grossvatererfahrung so intensiv und vielseitig sein könnte.»