Die Geburt eines Kindes kann psychisch belasten. Jeder zehnte Vater wird depressiv. «Die betroffenen Männer sind oft unsichtbar und unbehandelt», sagt Fachpsychologin und Forscherin Fabienne Forster. Grosseltern empfiehlt sie, eine einfache Frage zu stellen.
Von Eveline Rutz (Interview) und Daniel Ammann (Fotos)

Frau Forster, das Grosseltern-Magazin wollte mit einem Mann sprechen, der an einer postpartalen Depression erkrankte. Aber: Kein betroffener Vater war dazu bereit. Wie lässt sich das erklären?
Fabienne Forster: Alle psychischen Krankheiten werden immer noch stigmatisiert. Viele Betroffene haben das Gefühl, sie hätten versagt. Auf erkrankte Eltern trifft das besonders zu. Einige befürchten, man werde ihnen die Kinder wegnehmen, was in Realität sehr selten vorkommt. Männer gehen rund um Elternschaft zudem häufig vergessen. So erhalten sie das Gefühl: «Ich bin da gar nicht so wichtig.»
Vätern wird rund um die Geburt vor allem eine unterstützende Rolle zugeschrieben.
Genau. Sie werden primär als Unterstützer gesehen. Von Fachleuten werden sie danach gefragt, wie sie der Frau helfen können. Was sie selbst in dieser herausfordernden Phase brauchen, wird hingegen kaum thematisiert. Hinzu kommen stereotype Rollenbilder und Erwartungen. Männer sollen stark sein und nicht jammern. Vätern wird gesagt: «Du hast ja nicht geboren.» Die Schwierigkeiten, die sie haben, gehen unter.
Es dreht sich alles um die Mutter und das Baby.
Vieles, ja. Was Väter in heterosexuellen Beziehungen oft zusätzlich belastet: Die Mutter ist intensiv mit dem Kind beschäftigt, was völlig verständlich ist. Sie hat weniger Zeit und Energie, ihren Partner emotional zu unterstützen. Damit fällt ein wichtiger Schutzfaktor weg, denn für viele Männer ist ihre Partnerin die primäre Quelle der Unterstützung.
Sie arbeiten mit Betroffenen. Welche Männer kommen zu Ihnen?
Es kommen nur einzelne. Männer nehmen generell seltener Hilfe in Anspruch, sie schämen sich eher dafür und ziehen sich schneller wieder zurück. Zu mir kommen vor allem Partner von Patientinnen. Das hat damit zu tun, dass eine psychische Erkrankung der Mutter das Risiko erhöht, dass ein Vater ebenfalls erkrankt. Von postpartalen Depressionen sind Männer aus allen sozialen Gruppen betroffen. Wer im Beruf wenig Freiheiten hat, unter finanziellen Engpässen leidet oder wenig soziale Unterstützung hat, ist besonders gefährdet. Diese Belastungen erschweren es wiederum, dass sich jemand Hilfe holt.
Beziehen Sie die Partner Ihrer Patientinnen immer ein?
Ja, weil für den Erfolg einer Therapie das ganze Familiensystem relevant ist. Die meisten Männer kommen vorbei, sind dann jedoch überrascht, wenn ich sie nach ihrem Befinden frage. Viele wiegeln erst ab. Oft muss ich hartnäckig nachfragen, bis sie mir von ihren Schwierigkeiten erzählen.
Was belastet Väter? Erzählen Sie uns ein Beispiel.
Ich schildere Paaren jeweils, was die Psyche beim Übergang zur Elternschaft aus dem Gleichgewicht bringen kann. Dazu zählen traumatische Erfahrungen in der Kindheit, die auch aufgrund neurologischer Veränderungen nach der Geburt eher wieder hochkommen. Bei einem Mann war dies der Fall, er hatte als Kind Gewalt erlebt. Bei seinem eigenen Kind wollte er nun alles richtig machen. Er konnte es aber beispielsweise kaum aushalten, wenn das Baby schrie, weil seine Erfahrungen dabei aktiviert wurden. Er hatte neben der Traumafolgestörung eine Zwangsstörung entwickelt.

Wie konnte ihm geholfen werden?
Er wurde stationär behandelt. Für die Mutter war dies einerseits belastend, da ihr Partner zu Hause vorübergehend fehlte. Andererseits war sie entlastet, weil die Zwangsstörung nun professionell behandelt wurde. Die Phase rund um eine Geburt ist spannend: Sie ist zwar mit Risiken verbunden, bietet jedoch die Chance, in relativ kurzer Zeit viel zu verändern. Die Forschung spricht von einem «window of opportunity». Jeder positive Schritt eines Elternteils wirkt sich auf das Paar, auf das Kind und das soziale Umfeld aus. Es ist ein guter Moment, um Schwieriges anzugehen.
Soll man junge Eltern ansprechen, wenn man vermutet, dass sie psychisch belastet sind?
Ja. Man sollte sie direkt und ohne Scheu ansprechen. Das wirkt entlastend. Wie es jemandem geht, ist von aussen meist schwierig einzuschätzen. Man sieht Menschen ihre psychischen Probleme nicht an. Daher empfehle ich, alle jungen Eltern nach ihrer psychischen Verfassung zu fragen. Das sollte selbstverständlicher werden. Andere Fragen, die rund um eine Geburt gestellt werden, sind weitaus intimer.
Müssten werdende Eltern besser über das Thema aufgeklärt werden?
Auf jeden Fall. Ich fände ein standardmässiges Screening angezeigt. Es könnte die Früherkennung und Versorgung psychischer Störungen verbessern, wie die internationale Forschung nahelegt. Die Edinburgh-Postnatal-Depressions-Skala (EPDS) eignet sich gut, um psychisches Befinden einzuordnen. Sie kann auch Entwicklungen über die Zeit aufzeigen und dazu motivieren, sich Hilfe zu holen. Man sollte den Fragebogen schon während der Schwangerschaft einsetzen – auch bei Männern. 50 Prozent der postpartalen Depressionen entwickeln sich nämlich bereits dann. Erkennt man Belastungen früh, kann man präventiv wirken und stärkeres Leiden verhindern.
Gefordert sind also alle Fachleute, die mit werdenden oder jungen Eltern zu tun haben?
Es ist absolut zentral, dass Gynäkolog:innen, Hausärzt:innen, Hebammen, Väter- und Mütterberater:innen sowie Pädiater:innen die psychische Gesundheit zum Thema machen. Das kann viel bewirken. Auch innerhalb der Psychiatrie und Psychotherapie braucht es mehr Aufmerksamkeit. Viele Fachpersonen wissen nicht, ob ihre Klient:innen Kinder haben. Das ist potenziell gefährlich. Unser Gesundheitssystem fokussiert zu stark auf eine einzelne Person. Das finde ich problematisch. Man sollte Angehörige standardmässig einbeziehen und vermehrt interprofessionell zusammenarbeiten.
«Die Phase rund um eine Geburt
bietet die Chance, in kurzer Zeit
viel zu verändern.»
Fabienne Forster
Braucht es jeweils einen Auslöser, damit sich Väter Hilfe holen?
Sie müssen selbst dazu bereit sein. Das ist meist später der Fall, als es wünschenswert wäre. Die Symptome einer postpartalen Depression (siehe Box) sind bei Männern nicht anders als bei Frauen. Männer reagieren aber anders. Sie stürzen sich beispielsweise in die Arbeit oder den Sport. Nicht selten beginnen betroffene Väter, vermehrt Alkohol oder Cannabis zu konsumieren. Bis sie sich eine solche Problematik eingestehen, dauert es dann in der Regel lange.
Wie arbeiten Sie mit betroffenen Vätern therapeutisch?
Grundsätzlich nicht anders als mit Frauen oder non-binären Personen. Betroffene brauchen zuerst Raum, um zu erzählen, wie es ihnen geht. Sie dürfen auch einmal eine Sitzung lang schimpfen und weinen. Dann sprechen wir über Elternschaft. Es kursieren viele Idealvorstellungen, die überhaupt nicht realistisch sind. Alle Partnerschaften verschlechtern sich, wenn ein Kind kommt. Die meisten Eltern sind gestresst; jedes vierte Elternteil wird psychisch krank. Das zu wissen, entlastet. Schliesslich geht es darum, Belastungen zu reduzieren und Entlastung auszubauen. Junge Eltern verzichten ja häufig auf Dinge, die ihnen guttun. Sie lassen sportliche Aktivitäten oder gesellige Treffen ausfallen. Und dabei nehmen die Alltagsaufgaben zu und die Schlafqualität ab. Logisch, geht es ihnen schlechter.
Sollen sich Eltern für solche Aktivitäten bewusst Zeit nehmen?
Ja, unbedingt. Männern gelingt dies durchschnittlich besser als Frauen. Bei Müttern nimmt die Freizeit viel stärker ab. Jedes Paar muss schauen, was individuell möglich ist. Entscheidend ist das Bewusstsein. Eltern müssen sich auch um sich selbst kümmern. Sich völlig aufzuopfern, hilft langfristig niemandem.
Wie können Grosseltern eine betroffene Familie unterstützen?
Wenn Grosseltern dafür Zeit, Lust und die Möglichkeit haben, ist das eine grosse Hilfe. Ich finde es allerdings ungünstig, dass unser System darauf ausgelegt ist, dass man dieses Glück hat und Familien unentgeltlich vom Umfeld unterstützt werden. Das ist besonders ungünstig für Eltern, die nicht auf umfangreiche soziale Unterstützung zurückgreifen können oder wollen. Weiter kommt es natürlich darauf an, wie die Beziehung zu den Grosseltern ist. Grundsätzlich kann es entlastend sein, wenn Grosseltern ihre Enkel ein paar Stunden betreuen, damit Eltern einen Moment durchatmen können.
Sollen Grosseltern aktiv Hilfe anbieten?
Wenn sich Grosseltern engagieren möchten, fragen sie am besten: «Was würde euch helfen?». So können sie gezielt entlasten – und sie sind nicht enttäuscht, wenn ihre Vorschläge nicht angenommen werden. Problematisch finde ich die weit verbreitete Erwartung, dass Grosseltern sowieso unterstützen können und möchten.
Im Verein Postpartale Depression Schweiz engagieren sich sogenannte Pat:innen. Was bringt es, sich mit anderen oder ehemals Betroffenen auszutauschen?
Der Verein ist von ehemals betroffenen Frauen aufgebaut worden. Er verfügt über ein grosses Netz von Menschen, die eine postpartale Depression oder andere psychische Störungen durchgemacht haben. Diese Pat:innen sind niederschwellig erreichbar. Sie können von eigenen Erfahrungen berichten und wissen zum Beispiel, was Betroffene vor einem stationären Aufenthalt, einer Psychotherapie oder bezüglich einer Medikation beschäftigt. Betroffene wiederum realisieren, dass andere Menschen Ähnliches erlebt haben. Das ist wertvoll. Nicht wenige meiner ehemaligen Patient:innen engagieren sich so. Sie möchten, dass sich die Wahrnehmung postpartaler Depressionen ändert.
Was können werdende oder junge Eltern tun, um psychisch gesund zu bleiben?
Hilfreich ist es, an vergangene Krisen zurückzudenken. Man überlegt, was einem damals geholfen hat. Wer hat mich unterstützt? Was konnte ich selbst tun? Was hat meinen Zustand verschlechtert? Sich daran zu erinnern, wie man eine schwierige Zeit bewältigt hat, stärkt die Selbstwirksamkeit und die Zuversicht, zukünftige Krisen zu meistern. Das belegt die Forschung. Man kann sich zudem mit seinen individuellen Risiko- und Schutzfaktoren befassen und sich einen Notfallplan zurechtlegen – mit Warnsignalen, Strategien und Anlaufstellen.
«Betroffene Männer dürfen
bei mir auch einmal eine Sitzung
lang schimpfen und weinen.»
Fabienne Forster
Was braucht es auf struktureller Ebene, um die psychische Gesundheit junger Eltern zu verbessern?
Zwei Wochen Vaterschaftsurlaub sind eine klare Verbesserung. Das sieht man. Es bräuchte aber eine längere Elternzeit. Wir wissen, dass Männer psychisch eher gesund bleiben, wenn sie am Arbeitsplatz gewisse Freiheiten und eine familienfreundliche Atmosphäre haben. Es braucht unterstützende Angebote wie eine bezahlbare Kinderbetreuung und dringend mehr Therapieplätze. Im europäischen Vergleich schneidet die Schweiz diesbezüglich nicht gut ab. Entscheidend ist nicht zuletzt unsere Sprache: Es sollten immer alle Elternteile angesprochen werden, damit Väter und queere Paare nicht
vergessen gehen.
Welche Folgen kann eine postpartale Depression für das Baby und für die ganze Familie haben?
Die Partnerschaft leidet und es kommt häufiger zu Trennungen. Bei Kindern von psychisch kranken Eltern steigt das Risiko, dass sie selber mehr Schwierigkeiten in ihrer Entwicklung haben. Sie haben eher Probleme in der Schule und durchschnittlich geringere Karrierechancen. Deshalb ist eine frühe und rasche Behandlung zentral. Dass Väter involviert und präsent sind, ist entscheidend.
Zurück zu dem Vater, von dem Sie erzählt haben. Wie hat sich seine Situation entwickelt?
Er ist seine Problematik angegangen und konnte seine Ängste reduzieren. Durch die Therapie konnte er seine Erlebnisse verdauen und seine eigene Art des Vaterseins entwickeln. Er hat ein engeres Verhältnis zu seinem Kind aufgebaut und die Konflikte in der Partnerschaft haben sich entspannt. So konnte sich schliesslich auch die Frau mit ihrer psychischen Gesundheit befassen. •
Innere Leere – Wann ist Hilfe nötig?
Die Geburt eines Kindes und der Übergang zur Elternschaft können psychisch belasten. Rund 15 Prozent der Mütter erkranken an einer postpartalen Depression. Bei den Vätern sind es etwa 10 Prozent. Von einer hohen Dunkelziffer ist auszugehen, da die Krankheit stark stigmatisiert ist. Zu den typischen Anzeichen zählen Erschöpfung, ein Gefühl innerer Leere und Konzentrationsprobleme. Viele Betroffene haben weniger Appetit, weniger Interesse an Sex sowie Schlafstörungen. Dauern derartige Symptome mehr als zwei Wochen, kann eine depressive Episode vorliegen. Die Edinburgh-Postnatal-Depressions-Skala (EPDS) hilft dabei, das Ausmass der Belastung einzuordnen. Bei Werten über 10 sollte eine Fachperson kontaktiert werden, um eine allfällige Diagnose abzuklären. Die EPDS ist online zu finden, beispielsweise beim Verein Postpartale Depression Schweiz. Dieser informiert auf seiner Webseite postpartale-depression.ch über die Erkrankung, Selbsthilfegruppen und weitere Hilfsangebote. Einige richten sich speziell an Männer. ~ERU