Annemarie Heinze ist blind und Grossmutter. Ihre Enkel hat sie teils regelmässig gehütet. Manchmal ist es für die Jungen ein Vorteil, dass sie nichts sieht – so können sie unbemerkt Schokolade stibitzen.
Von SERAINA SATTLER (Text) und SAMUEL TRÜMPY (Fotos)
Annemarie Heinzes Töchter merkten bereits als Babys, dass ihre Mutter nichts sieht. «Nach kurzer Zeit musste ich nur noch den Schoppen hinhalten und sie kamen mir mit ihrem Mund entgegen», erzählt Annemarie Heinze lächelnd. Inzwischen ist die blinde Glarnerin fünffache Grossmutter mit Enkeln zwischen 11 und 22 Jahren. Die älteren drei hat sie früher fix einen Tag pro Woche gehütet, zu den jüngeren beiden schaut sie ab und zu – immer zusammen mit ihrem sehenden Ehemann Peter.
Mit ihren eigenen zwei Kindern hingegen war Annemarie Heinze tagsüber alleine. Das war nicht immer einfach. Die 74-Jährige erinnert sich, wie sie einmal bemerkte, dass das Fleischmesser nicht mehr auf dem Tisch lag und ihr Baby gerade damit in der Hand die Treppe hinaufkrabbelte. Oder wie es sie verletzte, als eine Bekannte zu ihr meinte, es sei unverantwortlich, dass sie ihre Tochter in einer Tragehilfe am Bauch herumtrug, weil sie stolpern und stürzen könnte. Oder wie sie mit der älteren Tochter im Mutter-Kind-Turnen war und der Leiter ihr keinerlei Anweisungen gab, sodass sie verloren in der Halle stand. «Besonders als die Kinder klein waren, haderte ich mit meinem Schicksal», erzählt Annemarie Heinze aus Ennenda. «Wenn ich frustriert war, buk ich oft. Es tat mir gut, einen Teig zu kneten.» Neben ihrem Mann war die Mutter eine grosse Hilfe, die direkt nebenan wohnte. «Ich konnte das Fenster öffnen und pfeifen – wenn sie zu Hause war, kam sie rasch zu mir.»
Warum Annemarie Heinze blind wurde, weiss man nicht. Als Fünfjährige musste sie wegen einer Netzhautablösung einen Monat im Kinderspital verbringen. Danach sah sie links nichts mehr, rechts noch dreissig Prozent. Im Laufe der Primarschule verschlechterte sich ihre Sehkraft zunehmend. Schrieb der Lehrer Rechnungen an die Wandtafel, musste sie aufstehen und Rechnung für Rechnung ablesen und dann am Platz niederschreiben. Der Lehrer meinte, es sei nicht möglich, dass sie wie gewünscht in die Sekundarschule ginge. So kam Annemarie Heinze ab der siebten Klasse in ein Schulheim für Blinde und Sehbehinderte im Kanton Bern, wo sie unter der Woche auch wohnte. Anschliessend begann sie eine Kaufmännische Lehre in der Stadt Bern. Die Abschlussprüfung schaffte sie gerade noch mit wenig Sehkraft. Zwei Tage später streikte auch ihr rechtes Auge. Seit ihrem 18. Lebensjahr sieht Annemarie Heinze nichts mehr – bei guten Lichtverhältnissen höchstens hell und dunkel.
Zurück in Ennenda erhielt sie eine Stelle in der Möbelfabrik Horgenglarus, wo sie die Korrespondenz erledigte. Wurde ihr etwas diktiert, tippte sie zuerst mit einer Blindenschriftmaschine mit und übertrug den Text anschliessend mit einer herkömmlichen Schreibmaschine aufs Papier. «Wenn ich bei der Reinschrift einen Fehler machte und ihn sofort bemerkte, konnte ich ihn mit Tipp-Ex korrigieren», erzählt sie. «Bemerkte ich diesen allerdings erst später, wurde es schwierig. Ohne Hilfe fand ich die Stelle nicht wieder und musste nochmals von vorne anfangen. Doch ich machte nicht viele Fehler!» Die Arbeit war gut, die Kolleginnen und Kollegen nett. Der Lohn war allerdings sehr tief. Als sie nach einem Jahr einen höheren Lohn verlangte, meinte der Chef, sie könne ja nicht alle Aufgaben übernehmen, deshalb sei der schlechte Lohn gerechtfertigt.
Neben der Arbeit war Annemarie Heinze damals recht einsam. «Ich war Anfang zwanzig und fühlte mich hier im Glarnerland etwas abgeschnitten von der Welt. Wenn ich im Dorf unterwegs war, hörte ich manchmal Schritte – aber die Person grüsste mich nicht», erinnert sie sich. An einem vom Blindenbund organisierten Tanzabend lernte Annemarie Heinze schliesslich ihren Mann Peter kennen, den sie 1973 heiratete. Im gleichen Jahr kam Tochter Maya auf die Welt, sechs Jahre später Simone. Als das erste Kind da war, tippte Annemarie Heinze als Heimarbeit weiterhin Briefe ab Diktiergerät. «Doch ich merkte rasch, dass das nicht ging: War ich am Schreiben und Maya rief mich, wusste ich danach nicht mehr, an welcher Stelle ich stehengeblieben war.»
Als die jüngere Tochter im Abstand von zwei Jahren selbst drei Kinder bekam, betreuten Annemarie Heinze und ihr Mann diese von klein auf regelmässig. Peter Heinze arbeitete damals noch als Behindertenbetreuer und nahm extra einen Tag pro Woche frei, um die Enkel hüten zu können. «Alleine hätte ich es nicht geschafft mit den drei Luuscheibe», sagt Annemarie Heinze mit einem Lächeln. Sie hätten es schon manchmal ausgenutzt, dass sie nichts sieht. «Ich hörte zum Beispiel, dass ein Stuhl gerückt wurde. Wenn ich fragte, was sie machen, sagten sie ‹nichts, nichts›. Dabei stibitzten sie von der Schokolade, die im obersten Küchenkästchen verstaut war.» Annemarie Heinze bastelte, töpferte und spielte viel mit den Enkeln.
Beim Schwarzpeter-Spiel fiel Annemarie Heinze auf, dass sie plötzlich dauernd verlor. Auf die Frage nach dem Grund antwortete eines der Enkelkinder: «Grosi, das ist doch einfach, nur auf der Schwarzpeter-Karte sind diese Löchli.» Das Kind hatte bemerkt, dass die Grossmutter die unbeliebte Karte mit einem Blindenzeichen gekennzeichnet hatte. Um Memory spielen zu können, liess sich Annemarie Heinze etwas einfallen. Sie sammelte kleine Filmdöschen und füllte je zwei mit demselben Material, zum Beispiel mit Mehl, Zucker, Kaffeebohnen, Haselnüssen oder einem kleinen Stück Karton. Durch Schütteln musste man erkennen, welche Paare zusammengehörten. «In meinem Leben musste ich oft improvisieren», erzählt sie. «Immer wieder kam ich an einen Punkt, an dem ich anstand und überlegen musste, wie ich jetzt diese oder jene Herausforderung meistere.»
Sieht man nichts, werden Hören, Fühlen und Riechen wichtiger. «Wenn ich unterwegs Flieder oder frisches Brot rieche, weiss ich, wo ich mich befinde. Umgekehrt spielen Äusserlichkeiten keine Rolle für mich.» Annemarie Heinze erzählt, wie sie einmal wegen einer Gleisänderung verloren am Zürcher Hauptbahnhof stand. Die Menschen rauschten an ihr vorbei und sie wurde immer verzweifelter. Schliesslich sprach sie ein Mann an. Er musste ebenfalls nach Ziegelbrücke und führte sie zu einem freien Platz im richtigen Zug. Dann sagte er: «Ich setze mich woanders hin.» Annemarie Heinze fand, er solle sich doch zu ihr setzen. «Mit mir wollen Sie sicherlich nicht fahren», antwortete dieser. Auf die Frage nach dem Warum nahm der Mann Heinzes Hände und führte sie über seine verfilzten Haare und seine zerrissene Kleidung. «Das stört mich überhaupt nicht!», betonte sie. Sie hätten sich dann die ganze Zugfahrt über herrlich unterhalten.
Als die Kinder ausgezogen waren, hatte Annemarie Heinze hintereinander zwei Blindenhunde. Jetzt will sie keinen mehr: «Ein junger Hund und eine alte Schachtel, das passt doch nicht zusammen», sagt sie schmunzelnd. Mit dem Langstock ist sie ebenfalls recht sicher unterwegs, und ihr Mann – inzwischen pensioniert – hilft ihr viel. Die beiden unternehmen auch gerne Reisen. Sie sind gerade zurück von einer Carfahrt ins Bündnerland. Sie hätten den «Indian Summer» sehen wollen. Sehen? «Wenn wir unterwegs sind, erzählt mein Mann ununterbrochen, was er sieht», erläutert Annemarie Heinze. «So ‹sehe› ich die Welt auch.»
Die älteren drei Enkel sind inzwischen erwachsen, und auch die kleineren zwei sind mit 11 und 13 Jahren schon grösser. Mit allen steht die Grossmutter in herzlichem Kontakt. «Ich habe grosse Freude an meinen Enkeln», sagt Annemarie Heinze. Der 11-jährige Finn sage jeweils «Hoi Gröseli, bisch wieder da», und helfe ihr, wenn sie mal wieder auf Kriegsfuss stehe mit ihrem Handy – obwohl die Spracherkennung ein Segen ist für sie. Und sie fragt: «Wie trägst du die Haare jetzt? Darf ich mal schauen?» und dann fühlt sie mit den Händen die Haare des Enkels. «Ich sehe meine Kinder und Enkel nicht mit den Augen», sagt Annemarie Heinze, «dafür mit den Händen – und mit dem Herzen.»•