« Sie waren Familienmenschen »

Denkt Nationalratspräsidentin Maja Riniker an ihre Grosseltern, dann erinnert sie sich an viel Wärme und Geborgenheit. Und an einen unglaublich grossen Kleiderfundus.

Geraldine Capaul (Aufgezeichnet)

«Meine Schwester und ich können uns noch genau an die Struktur des Zuckergusses auf der Torte erinnern. Darüber haben wir gerade kürzlich gesprochen. Jeden zweiten Sonntag brachte mein Grosspapi bei seinem Besuch nämlich eine Torte vom Sprüngli in Zürich mit. An Weihnachten waren es diese bekannten Glacefrüchte der Confiserie. Immer. Grosspapi war der Vater meiner Mutter, hiess Meyerstein und arbeitete als Kleiderhändler. Er war Jude und ich erinnere mich noch gut daran, dass er mir half, ein hebräisches Lied aus dem Gesangsbuch der Primarschule zu übersetzen. Ich war der Star der Klasse!
Die Eltern meiner Mutter hatten sich getrennt, als sie noch ein Kind war, mein Grosi zog daraufhin mit meiner Mutter zurück in den Aargau, nach Wohlen. Grosspapi blieb in Zürich. Obwohl meine Grosseltern später wieder zusammenkamen und bei uns eigentlich immer zu zweit auftauchten, blieben sie räumlich getrennt. Grosi besuchte uns jeden Mittwochnachmittag. Aber wenn immer möglich waren sie am Reisen. In Wien, Paris, Rom. Mein Grosspapi war nicht nur ein Händler, er war ein Sammler, der nichts wegwerfen konnte. Ich verbrachte Stunden in seinem Keller in Zürich und bestaunte die Kleider aus den 50er- und 60er-Jahren: Mäntel, Röcke, Unterwäsche, Schuhe! Ich habe heute noch ein paar Stücke bei mir im Estrich aufbewahrt.

Mit ihrer Art
schuf Nani einen sehr warmen Ort, an
dem es kuschlig war. Ihr oberstes Ziel: ein
schönes ­Zuhause für ihre Familie.


Ihre für die damalige Zeit spezielle Beziehungsform war für mich ganz normal. Aber heute würde ich mich sehr gern mit Grosi darüber unterhalten und ihr sagen, wie sehr ich ihren Mut zu diesem unkonventionellen Schritt bewundere.
Grosi und Grosspapi waren beide Familienmenschen, sie zelebrierten das Zugehörigkeitsgefühl mit Festen und sie waren ausgesprochen herzlich.
So waren auch die Eltern meines Vaters. Die Baumanns wohnten wie wir in Lenzburg. Sie hatten einen riesigen Garten mit Beeren und Gemüse. Nani war zuhause und arbeitete eigentlich immer etwas. Im Garten, in der Küche … Ich sah sie wirklich nie unbeschäftigt. Sie hat hervorragend gekocht und gebacken, ihr Sonntagszopf war legendär. Geliebt habe ich auch frische Himbeeren mit Schlagrahm. Mit ihrer Art schuf Nani einen sehr warmen Ort, an dem es kuschlig war. Ihr oberstes Ziel: Ein schönes Zuhause für ihre Familie. Zu Weihnachten haben wir viele Sorten Guezli gebacken und wenn ich krank war, hat sie mir Essigsocken gemacht. Unter der Woche assen wir in der Küche, hörten um halb eins Nachrichten. Aber am Wochenende deckte Nani mit Tischtuch in der Stube. Grossvati war Buchhalter. Er hat uns vorgelebt, dass Geld wertvoll ist, dass man dafür arbeiten muss. Sie waren beide einfache Leute, die uns Bescheidenheit und Herzlichkeit lehrten. Nani lebt noch, sie ist heute 97 und wir telefonieren ab und zu. Sie macht sich Sorgen, dass ich es zu streng haben könnte. Bis heute ist sie durch und durch mütterlich. Ihre Freundinnen bringen ihr jeweils Artikel über mich und darüber freut sie sich sehr.
Beide Grosseltern haben uns Geborgenheit geschenkt, in ihrem Zuhause fühlte man sich willkommen, es lief Musik und es gab immer zuerst eine Umarmung. Sie haben uns gezeigt, wie wichtig Familie ist, wie schön es ist, wenn man sich aufeinander verlassen kann. Auch dafür bin ich ihnen sehr dankbar.»


Maja Riniker (46) präsidiert den Nationalrat und ist damit die höchste Schweizerin 2024/25. Die FDP-Politikerin ist seit 2019 Nationalrätin. Davor war sie Grossrätin im Kanton Aargau und dort Präsidentin der Kommission für Öffentliche Sicherheit (SIK). Maja Riniker ist im Aargau geboren und aufgewachsen. Sie ist verheiratet und Mutter von drei Kindern.
maja-riniker.ch


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