Simon und die Tuba

Simon Styles wurde diesen Sommer pensioniert – nach vierzig Jahren als Tubist im Tonhalle-Orchester Zürich. Wie ist das, ein ganzes Leben mit einem einzigen Musikinstrument im immer gleichen Orchester? Und welchen Einfluss hat das auf seine vier Kinder und seine vier Enkel?

Geraldine Capaul (Text), Mirjam Graf (Fotos)

Simon Styles mit seinen Enkeln Lenny und Lyla.

«Die Tuba hat mich ausgewählt», sagt Simon Styles. Die richtige Wahl, wie es scheint. Denn was vor vielen Jahren in der Grafschaft Leicestershire in England in einem kleinen Zimmer begann, sollte zu einer lebenslangen Beziehung zwischen Styles und seinem Instrument werden. Mit 13 Jahren entdeckte er im Haus eines Musikförderers, der alle Instrumente der Dorfkapelle bei sich zu Hause aufbewahrte, auf einem Schrank eine Tuba. Für Styles wars – ja, man kanns nicht anders sagen – Liebe auf den ersten Blick. Der Mann sagte zu ihm: «Sobald du sie selber runternehmen kannst, darfst du sie spielen.» Ein Jahr später war es so weit. Simon Styles hob das Instrument vom Schrank runter und legte es nie mehr weg. Für die Tuba verzichtete er auf vieles. Interrail mit Freunden zum Beispiel. Aber dazu später mehr.
Die Musik wurde zum alles bestimmenden Teil seines Lebens und führte ihn schliesslich nach Zürich, wo er diesen Sommer nach vierzig Jahren als Tubist beim Tonhalle-Orchester in Rente ging. «Schon als Kind mochte ich Musik, ich mochte, was Musik mit mir machte», sagt Styles. Er probierte es zuerst mit Geige, war aber absolut «nutzlos». Ganz im Gegensatz zur Tuba. Bereits mit 16 spielte er auf Top-Niveau. Sein Berufswunsch war klar: Tuba spielen in einem richtig guten Orchester mit ambitionierten Leuten. «Mein Interesse war nur noch die Tuba. Sieben Tage die Woche habe ich geübt», sagt Styles. Ostern, Weihnachten, Ferien, immer. «Während meine Kollegen mit dem Zug durch Europa reisten, übte ich zu Hause. Das war eines der wenigen Male, wo ich wirklich neidisch war», sagt er. Aber Styles war ein «Musiknarr», er hatte nichts anderes im Kopf. Als Autodidakt schaffte er es ans Konservatorium. Die ersten zwei Jahre sperrte er sich im Übungsraum ein. Nach insgesamt vier Jahren schloss er das Studium ab und wurde Mitglied im «European Community Youth Orchestra» unter der Leitung von Dirigent Claudio Abbado. Drei Monate später wanderte er nach Holland aus. Dort erfüllte sich sein Berufswunsch ein erstes Mal: Simon Styles wurde festes Mitglied in einem richtig guten Orchester – etwas, das aus seinem Studienjahrgang gerade mal ein halbes Dutzend anderer Absolventen auf Anhieb schafften.
1981, 24-jährig, spielte er in einem Kirchgemeindehaus fürs Tonhalle-Orchester vor. «Ich war gut», sagt er. Im darauffolgenden Frühling, am 1. April , fing er im Tonhalle-Orchester Zürich an. «Ich war im Himmel.» Eine solche Stelle ist ein Sechser im Lotto. In der Schweiz gibt es nur wenige Stellen als Tubist, sechs, um genau zu sein.
Ihm war bewusst: Mitglied in einem Orchester zu sein, ist sehr speziell, sehr bindend. Es ist wie eine Familie, manchmal auch einengend. Das Orchester gibt den Takt vor: Aufstehen, üben, in die Tonhalle fahren, weiter üben. Nach Hause und schlafen. Danach essen und ans Konzert fahren. Oder auf Tournee sein. «Berufsmusik ist ein Leistungssport», sagt er.
Dazu kam bei Styles seine tatsächliche Familie: Mit 25 lernte er seine erste Frau kennen. Sie haben zusammen vier Kinder. «Unsere Rollenaufteilung war traditionell.» Bis zur Trennung: Sie einigten sich auf ein gemeinsames Sorgerecht für die vier Kinder im Alter zwischen 9 und 16 Jahren. Betreuung 50:50. «Das war sehr anspruchsvoll. 100 Prozent Orchester in Zürich, 30 Prozent Professor an der Hochschule Luzern und getrennt lebender Vater», sagt er. Er sei aber ein engagierter Vater gewesen. Mit einem ausgeklügelten System, diversen Ämtli und klaren Regeln – einmal täglich sassen alle zusammen am Tisch zum Essen – brachte er ein pubertierendes Kind nach dem anderen durch. Heute sagt er: «Familie ist das wichtigste. Ich bin stolz auf das, was ich geleistet habe. Vor allem aber bin ich stolz auf meine Kinder. Sie sind alle verschieden, haben ihre eigene Persönlichkeit, ihren eigenen Kopf.» Er sagt auch: «Ich will nie wieder Fischstäbli essen und nie wieder Pasta mit Thon aus dem Ofen.»
Familie Styles hatte immer Musikinstrumente zu Hause. «Meine Kinder haben vielleicht schon etwas darunter gelitten, dass ihr Vater Musiker ist», sagt er. Trotzdem haben sie ihren eigenen Zugang zur Musik gefunden. Die unterschiedlichen Charaktere der Kinder zeigen sich – natürlich – auch hier. So hat eine Tochter ein fantastisches Gehör. Die andere war dafür sehr kreativ und hat viel frei gespielt.
Auf seinen Austritt aus dem Orchester hat sich Styles vorbereitet: Seit fünf Jahren setzt er sich bereits mit seiner Pensionierung auseinander und hat mit einer Fachperson darüber geredet. «Seit ich 14 Jahre alt bin, mach ich dasselbe. Es zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Alles ändert sich, aber die Tuba ist immer da.»
Mittlerweile hat Styles vier Enkelkinder. Die ältesten zwei sind drei Jahre alt. Sie helfen ihm indirekt durch den Prozess der Pensionierung. Denn endlich hat er mehr Zeit für sie, kann sie noch regelmässiger sehen. Und musikalisch fördern. Denn das findet Styles ganz grundsätzlich wichtig. «Kinder sollen alles Mögliche hören und sehen. Aber wie soll das Kindern gelingen, wenn wir es ihnen nicht zeigen? Es ist unsere Aufgabe, die der Eltern und Grosseltern, ihr Interesse an Kunst und Kultur zu wecken.» Dieser Verantwortung war er sich als Musiker immer bewusst. Auch wenn er zum 200. Mal «Karneval der Tiere» spielte. Oder es die 300. Aufführung von «Peter und der Wolf» war. «Es sitzt doch immer jemand im Publikum, der das Stück zum ersten Mal hört. Das ist eine Verpflichtung für uns Musiker. Wenn wir diese nicht wahrnehmen, wenn wir uns nicht immer genau gleich viel Mühe geben, schaden wir uns am Ende selber», sagt Styles. «Für diese Kinder ist ein solches Konzert ein Schlüsselerlebnis. Diese Förderung fängt schon ganz jung an.» Live-Konzerte findet er zentral, allerdings nicht unter drei Jahren. Seine älteren Enkel sind nun in diesem Alter. Konnten sie ihn noch live erleben? «Ja», sagt Styles. «Mein letztes Konzert mit dem Tonhalle-Orchester war das erste für meinen Enkel Lenny.» Ein emotionales Erlebnis. Simon, der sich auf der Bühne stets korrekt verhalten hat, geht während des Applauses in die Hocke, bereitet die Arme aus, Lenny klettert die Bühne rauf und springt in seine Arme. Für Lenny dürfte es nicht das letzte Konzert gewesen sein. Denn sein Grossvater will künftig regelmässig mit seinen Enkeln die Kinderkonzerte besuchen. Das ist etwas, das er unbedingt allein mit ihnen machen will.
Und was hat er sich sonst noch vorgenommen für die Zeit nach diesen vierzig Jahren Tonhalle-Orchester? Zuerst mal mache er eine Pause, sagt er. Dann will er sich vertieft mit Kunst und Malerei auseinandersetzen. Und weiter Tuba üben. «Diese Verbindung bleibt.» Ach ja, er geht endlich auf Interrail. Die iberische Küste entlang. •

Klassik für die Kleinen
In der Schweiz bieten alle grossen
Sinfonieorchester spezielle Konzerte für Kinder an. Meistens werden die
Konzerte von Bildern oder Tänzen begleitet und fesseln die Kleinen zusätzlich, sodass sie tatsächlich richtig eintauchen und dementsprechend ruhig
folgen können. Die Programme von verschiedenen Orchestern aus Basel, Bern, Luzern und Zürich:

Zürich:
tonhalle-orchester.ch/jung/familien/familienkonzerte/
tonhalle-orchester.ch/jung/familien/kinder-matinee/
Basel:
sinfonieorchesterbasel.ch/de/musikvermittlung/angebote-fuer-schulen/kindergaerten.html
Bern:
https://buehnenbern.ch/plus/fur-familien-kinder/
Luzern:
https://sinfonieorchester.ch/de/musikvermittlung/kinder-und-familien/