Von Oliver Schnyder
Der Grossvater von Pianist Oliver Schnyder ist seit 40 Jahren tot. Das Gewicht der Erschütterungen im Leben seines «Vatis» hallt in seinem Enkel bis heute nach.
Es gibt in unserem Leben Augenblicke, die sich ins Gedächtnis einbrennen, die uns so tief berühren, dass die mit ihnen verbundenen Emotionen so greifbar bleiben wie die Erinnerung selbst. Die Frage nach der Magie des Augenblicks beschäftigt mich, auch wenn ich mich davor hüte, sie beantworten zu wollen. Ich weiss einzig, dass der Moment des Verzaubertseins, den ich umschreiben möchte, bei mir stets mit einem Gefühl von Transzendenz einhergeht, einer Ahnung davon, was die Welt im Innersten zusammenhält, mit einer Entgrenzung des Ichs, mit spiritueller Grösse, mit Ergriffenheit. Hinter diesen ebenso einzigartigen wie seltenen emotionalen Erschütterungen wittere ich eine Verwandtschaft mit dem seelischen Trauma. Als entgegengesetzte Pole prägen sie eine menschliche Biographie, schreiben sich gar in unserer DNA fest und finden ihr Echo im Erbgut unserer Nachkommen (die Epigenetikforschung erhärtet diese These).
Trauma und positives Trauma (man verzeihe mir den etwas albernen Ausdruck, aber die Google-Suche nach einem korrekten Antonym bleibt erfolglos) sind Wirkungsmächte, die auch im biologischen Erbe meines Grossvaters Emil bestimmend sind. Vati, wie wir ihn nannten, starb vor genau vierzig Jahren. Ich war acht. Den Prozess des Sterbens erlebte ich hautnah mit, da Vati seinen Tod bewusst und radikal herbeiführte: Er entschied sich, nach Jahren der maschinellen Blutwäsche, nicht mehr zur Dialyse zu fahren. Die Gewissheit, dass der einundsiebzigjährige Vati höchstens noch eine Woche zu leben hatte, dass sein Wegdämmern eine Frage von Tagen und Stunden sein würde, verstörte mich zutiefst. Für mein kindliches Ich hatte das durchaus traumatisierendes Potenzial. Es veränderte sich jedoch dergestalt, dass ich es nur als positives Trauma beschreiben kann. Denn seit Vatis Abschied ist kein Tag vergangen, an dem meine Gedanken nicht bei ihm gewesen wären. Kein Tag, an dem mich die Erinnerung an ihn nicht mit einem Gefühl der Wärme, Dankbarkeit und Wehmut erfüllt hätte.
Vati erscheint in meinen Träumen und ich spüre eine tiefe Verbundenheit mit diesem Mann, der mir gleichzeitig so nah wie rätselhaft erscheint. Sein Charisma wirkt stärker nach als der Schatten, der über seiner Biographie liegt. Als Resultat eines Schäferstündchens zwischen zwei Angestellten im Zürcher Hotel St. Gotthard, kam Vatis Geburt im aargauischen Möriken 1911 einem Skandal gleich. Seine Mutter Maria hatte sich mit dem neapolitanischen Barpianisten eingelassen, der im Hotelsalon auftrat und offenkundig kein Kind von Traurigkeit war. Ob er – dessen Namen wir nicht kennen – je von seiner Vaterschaft erfuhr, wissen wir nicht; wir wissen nur, dass er mein einziger Vorfahre war, der Musik als Beruf ausübte. Am Schicksal, Mutter eines – wie es damals in Möriken kommentiert wurde – Unehrlichen, eines Bastards zu sein, zerbrach Maria schnell. Sie ging 1917 in die nahe Aare. Vati kam als Sechsjähriger in die Obhut seiner Grossmutter, die ihrer Tochter 1929 in den Fluss folgte (Vati sprach nie darüber, wich entsprechenden Fragen aus. Von Maria erzählte er meiner Mutter nur einmal, als er sich unter Tränen an innige Momente seiner Stillzeit erinnerte).
Die dunklen Wolken über Vatis weiblicher Verwandtschaft sollten sich nach seinem Tod nicht verziehen: Seine jüngste Tochter nahm sich nur wenige Jahre später das Leben. Auf Vatis Biographie lastete auch posthum eine bleierne Schwere. Ich spüre ihr Gewicht. Kaum mehr als Belastung, sondern als etwas, das wesentlich mitbestimmt, wer ich bin.•