von Dagmar Schifferli (Text)

eine Grossmutter (68) fragt:
Mein Mann und ich hüten jedes dritte Wochenende unsere beiden Enkelkinder (2 und 5 Jahre). Zu den Mahlzeiten trinken wir je ein Glas Wein, am Abend auch mal zwei. Nun ist unsere Tochter der Meinung, unser Alkoholkonsum habe in den letzten Jahren zugenommen. Sie fühle sich zunehmend unwohl, uns die Kinder zu überlassen. Kürzlich drohte sie gar, uns die Kinder erst wieder zu bringen, wenn wir versprächen, keinen Alkohol zu trinken. Wir sind gesund, treiben Sport und trinken abgesehen vom erwähnten Wein keinen weiteren Alkohol. Ich finde die Sorge meiner Tochter unberechtigt und wir fühlen uns bevormundet.
Dass Sie sich von Ihrer Tochter bevormundet, vielleicht sogar erpresst fühlen, ist nur allzu verständlich. Wir können nur werweissen, was hinter der Forderung steht, dass Sie und Ihr Mann gänzlich auf den Genuss von Wein verzichten sollten, wenn die beiden Enkelkinder bei Ihnen sind. Ich schreibe absichtlich «Genuss», denn bei so geringem Konsum und dazu noch zu den Mahlzeiten, kann man mit Fug und Recht von «Genuss» sprechen. Ist vielleicht Ihre Tochter eine überzeugte Alkoholgegnerin? Oder meint sie, Sie wären nach dem Essen nicht mehr in der Lage, verantwortungsvoll zu den Kindern zu schauen? Oder fürchtet sie eventuell, die Kinder würden beim Anblick von gefüllten Weingläsern zwangsläufig zu Alkoholikern? Es gäbe diesbezüglich sicher noch weitere Vermutungen, denn aus Ihrer Frage geht nicht hervor, welche Argumente Ihre Tochter beizieht. Wie dem auch sei: Ich bin der Meinung, dass Ihre Tochter zu sehr auf Ihre kulinarischen Gewohnheiten einwirken möchte. Die Absolutheit jedoch, mit der Sie konfrontiert werden, macht die Lösung des Problems nicht gerade einfach. Gäbe es denn für Sie selbst ein Argument, das Sie und Ihren Mannüberzeugen könnte, während der Kindertage auf Wein zu verzichten? Wenn ja, wäre das wahrscheinlich eine gute Basis für weitergehende Überlegungen, zunächst zwischen Ihnen beiden und dann zusammen mit Ihrer Tochter.
Ich habe Ihr Problem mit meiner zwölf Jahre alten Enkelin besprochen, um zu hören, wie es damals für sie als Fünfjährige war und nun auch heute ist, wenn ich jeweils zum Essen ein Glas Wein oder ein Bier trinke. Sie schaute mich fragend an, überlegte kurz und sagte dann, sie wisse ja, dass es ihr nicht schmecken würde und ihr auch nicht guttäte.
Dagmar Schifferli (67) ist Psychologin und Dozentin für Gerontologie und Sozialpädagogik, veröffentlicht zudem Romane und Erzählungen. Sie hat eine Tochter und drei Enkelkinder.
dagmarschifferli.ch