Unter einem Dach

Zusammenleben mit Jung und Alt – das klingt für viele verlockend. Im Rahmen ihrer Forschung hatte Heidi Kaspar Einblick in Generationenwohnprojekte in der Schweiz. Im Interview spricht sie über Gelingen und Grenzen der Wohnform.

Anna Six (Interview)

Was sind die wichtigsten Bedürfnisse von älteren Menschen, wenn es ums Wohnen geht?
Heidi Kaspar: Das ist schwierig zusammenzufassen, denn die sogenannten «älteren Menschen» sind die heterogenste Altersgruppe überhaupt. Wir sprechen von einer Lebensphase, die mehr als 40 Jahre umfassen kann. Sie beginnt mit der Pensionierung und endet, wenn man stirbt. Manche begeben sich mit 65 auf eine Weltreise, andere sind voll eingespannt mit Kinderhüten oder Vereinsaktivitäten und manche kommen nur mühsam durch die Tage, weil sie an einer Krankheit
leiden. Je mehr gesundheitliche Belastungen den Alltag prägen, umso enger wird in der Regel der Bewegungsradius. Die eigene Wohnung und Nachbarschaft werden wichtiger.

Deshalb ist die Idee des Generationenwohnens verlockend: im nahen Umfeld unterstützende Netzwerke bis ins hohe Alter zu finden. Sie haben für eine Studie solche Wohnprojekte in der ganzen Schweiz untersucht. Mit welchem Fazit?
Insgesamt zeigt sich, dass das Versprechen des Generationenwohnens eingelöst wird. Aber es gibt grosse Unterschiede, wie gut dies gelingt. Allein die Wohnformen sind so unterschiedlich: Manchmal sind es eine Handvoll befreundeter Menschen, die etwas initiieren, also beispielsweise ein Haus kaufen und umbauen. Andere sind Siedlungen mit über 1000 Bewohnenden.

Was verbindet diese Projekte?
Der Wille zur Gemeinschaftlichkeit. Überall gibt es Anlässe, mit denen eine gemeinsame Identität zelebriert wird. In manchen Siedlungen wird wöchentlich ein Mittagessen für alle angeboten, andere feiern einmal im Jahr ein grosses Fest. Letzteres kann auch jede Quartierstrasse tun, mit der gleichen Wirkung. Aber im Generationenwohnen ist das Bewusstsein stärker, dass dies wichtig ist.

Ein wichtiger Faktor ist auch die begegnungsfördernde Architektur.
Ja, es wird gezielt so gebaut, dass man einander über den Weg läuft. Das mögen kleine Begegnungen sein, aber sie sind bedeutsam. Immer wieder vertraute Gesichter zu sehen, gibt einem das Gefühl, dazuzugehören. Mit der Zeit können daraus stärkere Beziehungen innerhalb der Nachbarschaft werden. Von der Architektur her versucht man aus­serdem, die alltäglichen Aufenthalts­orte der unterschiedlichen Generationen nahe beieinander zu haben. In einem Projekt bei Genf ist etwa der Raum für den «Club des Aîné-e-s» direkt neben der Kinder­tagesstätte.

Die Architektur alleine kann es aber nicht richten, dass Menschen sich näherkommen, oder?
Es kommt vor, dass Architekt:innen sich etwas ausdenken und nachher wird etwas ganz anderes gelebt. Das bleibt ein Lernprozess. Mein Gefühl ist, dass man seitens Wissenschaft und Architektur noch konsequenter auswerten könnte, was sich bewährt hat und was nicht.

Wo stossen Generationenwohn­projekte an Grenzen?
Gemeinschaftlich wohnen benötigt Sozialkompetenz, Zeit und Energie – davon bringen nicht alle Menschen gleich viel mit. Es kann als unfair empfunden werden, wenn einige sich stärker engagieren als andere. In einer Siedlung gibt es viele Aufgaben, die man gemeinsam bewältigen muss: das Treppenhaus putzen, Ordnung schaffen in der Waschküche, den Sandkasten für die Kinder sauber halten … Geteilte Aufgaben sind sehr gemeinschaftsbildend, das haben wir in der Studie gesehen. Gleichzeitig können Konflikte auftreten, wenn die Ideen verschieden sind.

Manche Projekte setzen Siedlungscoaches oder Sozialkoordinatorinnen ein, die das Miteinanderwohnen begleiten. Was bringt das?
Teils wurden externe Fachpersonen nur in schwierigen Phasen beigezogen, etwa für eine Konfliktmoderation. Andere Projekte setzen fix darauf. Ich sehe dies als Anerkennung dessen, wie anspruchsvoll es ist, sich in eine Gemeinschaft einzubringen. Ideen gibt es meist viele: ein Fest organisieren, ein Car­sharing für die Siedlung aufziehen, einen Gemeinschaftsgarten oder eine Kinderbetreuung gründen. Doch eine solche Initiative vor anderen vertreten, Mitstreiter:innen gewinnen und umsetzen – das ist anspruchsvoll. Wenn eine Siedlungskoordinatorin angestellt ist, wird dem Rechnung getragen.

Sie haben Wohnbeziehungen aus­serhalb der Familie erforscht. Wie entstehen tragfähige Verbindungen zwischen den Generationen, wenn sich die Leute anfangs fremd sind?
Was auffiel: In allen untersuchten Wohnprojekten sind stärkere Beziehungen entstanden, als man sie in konventionellen Nachbarschaften antrifft. Die befragten Leute sagten, hier ist es anders, das Miteinander ist spürbar. Allerdings bezog sich diese Wahrnehmung auf das Zusammenleben insgesamt und nicht spezifisch auf die Beziehungen zwischen den Generationen. Ältere Menschen sind selbstverständlicher Teil der Gemeinschaft; sie sind an Anlässen dabei, bewerkstelligen allgemeine Aufgaben und so weiter. Aber frappant mehr enge, nahe Beziehungen zwischen Generationen heben wir nicht gesehen – beispielsweise Wahlgrossmütter. Und auch im Generationenwohnen tauchen die ganz typischen Konflikte auf, etwa dass älteren Bewohnenden das Geschrei der Kinder zu laut war und sie deren Nähe eher mieden.

Man kann also nicht davon ausgehen, dass sich Jüngere und Ältere in einer solchen Wohnform automatisch gegenseitig unterstützen?
Nein. Sich helfen lassen ist ein schwieriges Thema, für uns alle. Wir sind eine sehr individualistisch geprägte Gesellschaft, der Leistungs­gedanke ist stark, Autonomie ist uns extrem wichtig. Um Hilfe bitten zu müssen ist tabuisiert – ich räume damit ein, dass ich etwas nicht kann. Auch wenn man bewusst in ein Generationenwohnen zieht, hat man eher im Kopf: Ich will anderen helfen! Aber es können nicht alle nur geben; man muss auch Hilfe annehmen.

Sie sagen, wir müssten alle üben, andere um Hilfe zu bitten?
Ich habe einmal den klugen Satz gelesen: «Vertrauen schaffe ich, indem ich jemanden bitte, mir einen Gefallen zu tun – nicht, indem ich jemandem helfe.» Das könnte man gezielter nutzen, um Beziehungen aufzubauen. Meist fragen wir doch nur in Ausnahmesituationen, etwa wenn wir in die Ferien gehen und den Nachbarn bitten, eine Woche lang unsere Pflanzen zu giessen oder die Katze zu füttern. Wir überlegen uns sehr genau, was zumutbar ist.

Eine Form des Generationenwohnens nennt sich «Wohnen gegen Hilfe». Funktioniert es da besser?
Im Projekt, das wir untersucht haben, nicht wirklich. Studierende mieten dort günstig ein Studio und verpflichten sich, eine bestimmte Anzahl Stunden ihre älteren Nachbar:innen zu unterstützen. Die meisten der jungen Befragten sagten uns, sie würden gerne helfen, aber die Senioren äusserten keinen Bedarf. Ich vermute, hier sind viele Hemmungen im Spiel und es fehlt vielleicht die vertrauensvolle Beziehung. Der Umgang mit einer anderen Generation ist ja auch Übungssache. Meist hat man nicht viele solcher Kontakte, ausser in der eigenen Familie.

Weshalb ist es ein Mehrwert, intergenerationelle Beziehungen auch ausserhalb der Familie zu pflegen?
Natürlich sind die Generationenbeziehungen in Familien sehr wichtig – aber sie bilden nur einen kleinen Ausschnitt an Lebens­erfahrungen ab. Eine «fremde» Person im Alter meiner Grosseltern kann mir noch ganz anderes aus der Vergangenheit berichten. So wird mein Bild reichhaltiger und diverser. Im Übrigen sind Familien nicht einfach Orte der Harmonie, im Gegenteil, es kann traumatische Beziehungen geben. Sich ganz auf die Familie zu verlassen, war früher oft eine wirtschaftliche Notwendigkeit – heute ist es das zum Glück nicht mehr. Das Generationenwohnen ist eine zunehmend beliebte Möglichkeit, sorgende Bindungen aufzubauen. Natürlich kann ich auch in Vereinen oder anderen Gruppen aktiv sein und Leute kennenlernen. Aber das Wohnen ist etwas, das einem sehr lange bleibt, auch wenn man nicht mehr so fit ist.

Hat Ihre Forschung Sie dazu bewegt, selbst in einem Mehrgenerationenprojekt zu wohnen?
Bisher nicht, aber ich habe das vor. Mit einer anderen Partei in unserem Haus betreuten wir gegenseitig die Kinder, als diese jünger waren. Für später gibt es an meinem Wohnort Horgen einige Projekte, die ich mir näher ansehen werde, wenn unsere Kinder ausgezogen sind.

Ihr Vorteil ist, dass Sie zahlreiche Wohnformen für die zweite Lebenshälfte bereits kennen. Für viele Leute ist aber die Frage, wann setze ich mich überhaupt damit auseinander?
Man hört immer wieder, dass die heutige Generation am Übergang vom dritten ins vierte, also ins fragile Lebensalter, zu lange wartet, um sich mit der Wohnfrage zu befassen. Doch darin schwingt ein Vorwurf mit. Ich sage mir eher: Die Perspektive dieser Menschen ist, dass sie so lange wie möglich dort bleiben wollen, wo sie sind – denn dort fühlen sie sich wohl, dort sind sie zuhause, das haben sie sich erarbeitet. Verschiedene Studien bestätigen: Wenn es ums Wohnen geht, wollen die Menschen im Prinzip das behalten, was sie haben. •

Zur Person: Heidi Kaspar (47) ist Professorin am Departement Gesundheit der Berner Fachhochschule BFH. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist Wohnen und Leben im Alter. Sie ist Mitautorin der Studie «Generationenwohnen in langfristiger Perspektive – von der Intention zur gelebten Umsetzung». Alle Publikationen aus der Studie sowie der Film «Einblicke ins (Un)Gewohnte» sind zu finden unter
wohnforum.arch.ethz.ch