Wieso würden wir Welpen und unsere Baby-Enkel am liebsten kneifen? Die Sozialpsychologin Oriana Aragón hat das Phänomen der Cute Aggression erforscht. Ein Versuch mit Luftpolstern hat gezeigt: Der Anblick niedlicher Wesen löst einen aggressiven Impuls aus.
Von ÜMIT YOKER (Text ) und IRENE MEIER (Illustration)
In einem der frühen Versuche zeigte die Sozialpsychologin Oriana Aragón ihren Probanden ein Dutzend Tierbilder und reichte ihnen einen Bogen Luftpolsterfolie dazu. Sie wollte herausfinden: Löst der Anblick besonders niedlicher Wesen einen aggressiven Impuls aus? Den jungen Frauen und Männern wurde zum Experiment lediglich gesagt, es handle sich um eine Übung zu Gedächtnis und Motorik: Sie sollten sich die Fotos ansehen und währenddessen so viele Bläschen zerplatzen, wie sie wollten, danach würden sie zu den Bildern befragt. Für die amerikanische Wissenschaftlerin aber bestätigte sich, was sie vermutet hatte: Je herziger das abgebildete Tier war, desto mehr Luftpolster zerdrückten die Versuchspersonen.
KULTURÜBERGREIFENDES KNURREN
Nur, warum löst der Anblick eines Hundebabys bloss das Verlangen aus, das kleine Tier vor Rührung fast zu erdrücken? Auch in vielen anderen Situationen bringt der Mensch seine Gefühle auf widersprüchliche Weise zum Ausdruck: Wir weinen vor Glück. Wir lachen aus Verlegenheit. Wir recken die Faust nach einem Sieg. Sprache und Kultur scheinen dabei kaum eine Rolle zu spielen. Griechen, Polen und Italiener sprechen ebenso wie Schweizer und Deutsche davon, dass sie Babys zum Fressen gern haben. Die Französin ruft beim Anblick kleiner Kinder entzückt aus, sie würde am liebsten auf ihnen herumkauen, der Vietnamese, es gelüste ihn ungemein, zuzukneifen. Die Philippinen haben sogar eigens einen Ausdruck für den Zustand, der im englischen Sprachraum inzwischen als Cute Aggression bezeichnet wird: Der Begriff «gigil» beschreibt, dass wir etwas oder jemanden so unerträglich niedlich finden, dass wir gar nicht anders können, als mit den Zähnen zu knirschen oder den Wunsch zu verspüren nach Kneifen, Drücken oder Beissen. Sind diese spielerischen Aggressionen vielleicht eine Art Ausgleich, wenn uns intensive Gefühle zu überwältigen drohen? Um dieser Frage nachzugehen, legte Aragón ihren Probandinnen und Probanden in einem neueren Experiment Babyfotos vor. Einige davon waren zu besonders herzigen Exemplaren bearbeitet worden, Augen, Wangen und Stirn wurden ein wenig grösser, Nasen, Lippen und Kinn etwas kleiner gemacht. Danach befragte die Sozialpsychologin die Versuchspersonen nach ihren Gefühlen: Wie niedlich finden Sie das Kind? Wie starke Gefühle löst der Anblick aus? Wie ausgeprägt ist Ihr Bedürfnis, es zu beschützen? Wie gross das Verlangen, es zu kneifen oder beissen? Je stärker Rührung und Beschützerinstinkt, zeigte sich bald, desto häufiger sprachen die Personen auch davon, das Baby am liebsten anknurren oder auffressen zu wollen.
KNEIFEN GEGEN KURZSCHLUSS
Tatsächlich drücken wir Gefühle dann auf widersprüchliche Weise aus, wenn sie uns über den Kopf wachsen, vermutet Aragón. Der unbändige Impuls, in ein Paar strampelnder Babywaden zu beissen, verhindert vielleicht einfach einen Kurzschluss im Gehirn ob der geballten Mischung aus Zuneigung, Rührung und Beschützerinstinkt, die kleine Kinder gerne in uns zünden. Dieser Mechanismus scheint nicht nur zu greifen, wenn wir vor Freude und Glück fast platzen, sondern auch bei negativen Gefühlen. So stellten die beiden Psychologen Barbara Fredrickson und Robert Levenson bereits Ende der Neunzigerjahre fest, dass sich unerwartete Gefühlsäusserungen positiv auf das Befinden auswirken können. In einer Studie untersuchten sie, wie schnell die körperliche beziehungsweise kardiovaskuläre Reaktion ihrer Versuchspersonen nach einem besonders emotionalen Film wieder nachliessen. Wer bei den traurigsten Szenen unwillkürlich gelächelt hatte, fanden die beiden Wissenschaftler heraus, erholte sich am schnellsten. Sorgen brauche man sich ob solcher widersprüchlicher Impulse auf jeden Fall keine zu machen, betont Oriana Aragón. Keinesfalls gehe es etwa bei der Cute Aggression um echte Aggressivität oder gar den Wunsch, einem Baby wirklich wehzutun. So sehr die Probanden bei ihrem frühen Experiment bei den Luftbläschen zudrückten. Bei Hundebabys hätten sie das niemals getan. •