Wenn das Enkelkind Zöliakie hat

Menschen mit Zöliakie müssen sich strikt an eine glutenfreie Ernährung halten. Eine grosse Umstellung für alle Beteiligten. Wie sie gut gelingen kann, erzählen die Mutter und die Grossmutter von Alia.

Gut organisiert: Ein eigenes Schrankabteil für glutenfreie Produkte

Geraldine Capaul (Text)

Alia war oft schlapp. «Schon um halb zehn Uhr morgens schlief sie das erste Mal wieder ein», sagt ihre Grossmutter Ute Zwerger. «Ausserdem hatte sie einen Blähbauch und oft Verstopfungen», ergänzt Mutter Charlotte Jenal. Alia war drei Jahre alt, als die Familie umzog und die Kinderärztin wechselte. Die neue Ärztin wollte diesen Blähbauch abklären. Die Diagnose: Zöliakie.
Zöliakie ist eine chronische Krankheit. Genauer: eine Unverträglichkeit des Dünndarms gegenüber Gluten, ein Sammelbegriff für Proteine (Klebereiweisse), die in den Getreidesorten Weizen, Dinkel und Ur-Dinkel, Grünkern, Gerste, Roggen und Hafer enthalten sind. Dies führt zu verschiedenen Symptomen, die bei allen wieder unterschiedlich ausgeprägt sind und bei Kleinkindern von Durchfall und Übelkeit bis Wachstumsstill- oder -rückstand und verzögerte Pubertät reichen. «Es kann jeden treffen im Verlauf des Lebens – bis ins hohe Alter», sagt Raoul Furlano, pädiatrischer Gastroenterologe am Universitäts-Kinderspital beider Basel. «Was die Krankheit auslöst, weiss man leider nicht. Gene spielen eine Rolle, wie wohl auch viele andere Faktoren, die den Menschen beeinflussen, etwa Nahrung oder Luft.»
Die glutenfreie Ernährung ist – Stand heute – die einzige Möglichkeit, um mit Zöliakie gesund und beschwerdefrei zu leben. Nach der Diagnose steht betroffenen Familien deshalb immer eine Begleitung durch die Ernährungsberatung zu, welche von der Krankenkasse bezahlt wird. Die Beratungsgespräche und alltagstauglichen Tipps und Tricks sollen helfen, genussvoll glutenfrei zu leben.
«Die Diagnose war ein Schock», sagt Charlotte Jenal. «Als Eltern wünscht man den Kindern doch ein unbeschwertes Leben. Und das stellte ich mir unter diesen Umständen schwierig vor.» Kann das Kind, kann ich das durchziehen? Wie teuer ist glutenfreie Ernährung und wo finden wir sie? Was machen wir bei Schullagern, Ferien, im Militärdienst? Wie geht das mit Kindergeburtstagen? Mit Essen in der Kita? Im Hort? Solche und ähnliche Sorgen und Unsicherheiten äussern die meisten Eltern und Grosseltern nach der Diagnose, sagt Furlano, der auch wissenschaftlicher Beirat der IG Zöliakie ist. Anders war es für Ute Zwerger: «Für mich war die Diagnose eher eine Erleichterung. Alias Energielosigkeit hat mir nämlich grosse Sorgen gemacht.» Ute Zwerger fühlte sich hilflos. Aber bei Zöliakie konnte sie aktiv werden, konnte etwas dazu beitragen, dass es Alia wieder besser geht. «Die Lebenserwartung ist dieselbe wie bei Gesunden», sagt Furlano, «vorausgesetzt, man therapiert strikt mit einer glutenfreien Ernährung.» Ihre Mutter habe gleich vier glutenfreie Kochbücher gekauft, erzählt Charlotte. «Und einen neuen Mixer, Bretter und einen Toaster», ergänzt Ute. Denn bei Zöliakie müssen auch Kontaminationen vermieden werden.
Den Betroffenen zur Seite steht die Schweizer Gesundheitsorganisation IG Zöliakie. Charlotte Jenal ist mittlerweile Regionalleiterin der IG Zöliakie. Sie ist die erste Ansprechpartnerin für Familien mit Zöliakie in ihrer Region, erklärt, wo man einkaufen kann, welche Restaurants glutenfrei kochen – und sie lädt die Familien zu den regelmässigen Treffen ein. «Diese Regionalgruppen sind wertvoll für alle», sagt Charlotte Jenal. «Alia sieht, dass sie nicht allein ist, und fühlt sich wohl in diesem Umfeld.»
Familie Jenal hat ungefähr ein halbes Jahr gebraucht, um sich in der neuen Situation zurechtzufinden. Motivierend war, dass Alia schon kurz nach der Ernährungsumstellung viel mehr Energie hatte und ihre Werte bis jetzt sehr gut sind. Die Familie hat gelernt, welche Lebensmittel glutenfrei sind und welche Inhaltsstoffe nicht gehen. Und sie weiss, wie Kontaminationen zu vermeiden sind. Kontaminiert ist das Besteck von denjenigen, die am Tisch glutenhaltig essen. Kontaminiert ist die Marmelade, die Butter, wenn alle mit ihrem eigenen Messer rangehen. Kontaminiert sind die Chips in der Schüssel, wenn auch diejenigen da reingreifen, die vorher glutenhaltige Salzstängeli gegessen haben …
Glutenfreie Produkte sind in der Regel teurer als die entsprechenden glutenhaltigen Produkte. Das gilt auch im Restaurant. Für Familien mit geringerem Einkommen kann das eine Belastung werden. Nicht alle können es sich leisten, zu Hause komplett auf glutenfreie Ernährung umzustellen. Bis vor einem Jahr hat die Invalidenversicherung (IV) betroffene Menschen finanziell unterstützt. Dieser Beitrag wurde nun gestrichen. «Mit der Einführung der jüngsten IV-Revision am 1. Januar 2022 gab es eine Änderung. Die Zöliakie ist nicht mehr auf der Geburtsgebrechen-Liste. Entsprechend übernimmt die Invalidenversicherung seit 1. Januar 2022 keine Leistungen mehr», schreibt die SVA Zürich auf Anfrage.
Obwohl die Eltern von Alia zurzeit keine Zöliakie haben, war für sie sofort klar, dass sie als Familie zu Hause glutenfrei essen. Auch der kleine Bruder. Das ziehen sie trotz der IV-Kürzung durch. Sie sind froh, dass das für sie möglich ist. «Alias Zuhause soll glutenfrei sein, ein Ort, an dem sie nicht überlegen muss, ob sie etwas darf oder nicht. Sie kann sogar das Stück Apfel essen, das auf den Boden gefallen ist. Das ist für mich als Mutter ebenfalls eine Entspannung», sagt Charlotte. Auch bei Grossmutter Ute ist alles entsprechend eingerichtet. In ihrer Wohnung im Engadin hat sie ein Abteil mit glutenfreien Lebensmitteln und Snacks. Sie hat nicht kontaminierte Haushaltsgeräte, und wenn sie mit Alia verreist, immer Brettli und einen Kochlöffel im Gepäck.
Was durch die Diagnose wegfällt, ist die Spontanität. Mal schnell ein Brötli beim Beck unterwegs zum Bahnhof kaufen, im nächstbesten Ausflugsrestaurant einkehren, das geht nicht mehr. Wenn Familie Jenal auswärts essen geht, informieren sich die Eltern im Online-Gastroführer (siehe Box rechts). Werden sie in ein Restaurant eingeladen, das nicht auf dieser Liste ist, informieren sie sich im Voraus. Ausserdem bestellt immer ein Erwachsener ebenfalls die glutenfreie Variante. «So können wir mit unserem Besteck Alia helfen», sagt die Mutter. Trotz allem positiven Denken: Die mittlerweile sechsjährige Alia muss immer wieder zurückstecken. «Ihr Vorteil ist, dass sie sehr jung war bei der Diagnose und bei vielen Lebensmitteln gar nicht weiss, wie die mit Gluten schmecken», sagt die Mutter. Dafür hat Alia früh gelernt, Verantwortung zu übernehmen und gut zu organisieren.
Aber wie geht das mit dem Vertrauen fremden Menschen gegenüber, die für Alia kochen? Sind die sich wirklich bewusst, dass Gluten auch in Fertigbouillons sein können? «Das ist tatsächlich mein grösstes Problem», sagt Ute. «Das Vertrauen.» In den Ferien in Venedig habe sie drei Mal ein bestimmtes Restaurant angerufen und sei am Schluss persönlich vorbeigegangen. Um wirklich sicher zu sein, dass es glutenfrei koche. Aber Alia können sie blind vertrauen. Die Sechsjährige weiss genau, was sie darf und was nicht: dass sie nach dem Kneten im Kindergarten die Hände waschen muss, dass sie von ihrem Sandwich essenden Gspändli Abstand nehmen sollte. Dass gewisse Beautyprodukte der Grossmutter tabu sind.
Alia soll trotz Zöliakie überall dabei sein dürfen. «Kommunikation und Organisation – darauf kommt es an», sagt Charlotte Jenal. Das bedeutet, dass sie mittlerweile sehr viele Kuchen pro Jahr backt. Nämlich auch für Geburtstagspartys, zu denen Alia eingeladen wird.
Obwohl das Angebot an glutenfreien Snacks, Bäckereien etc. stetig wächst: Die Schweiz hat im Bereich Zöliakie Luft nach oben. Es fehlt an Aufklärung, Restaurants könnten besser geschult, der Tiefkühlbereich ausgebaut und Produkte deutlicher angeschrieben werden. Italien sei ein gutes Vorbild, sagt Ute Zwerger. Da gebe es sehr viele eindeutig gekennzeichnete Produkte und viele glutenfreie Restaurants.
Mutter und Grossmutter fühlen sich in vielen Bereichen mittlerweile absolut sicher – «ich würde heute mit ihr nach Südamerika reisen. Einfach mit unseren Brettli und Kochlöffel», sagt Ute. Sie sind beide überzeugt: Man lernt nie aus. Da ist zum Beispiel die Sache mit dem Küssen: Ute Zwerger hat kürzlich überlegt, ob Alia mal jemanden küssen darf, der zuvor Gluten konsumiert hat. «Hast du dich das noch nie gefragt?», fragt sie ihre Tochter. «Nein.» Ute: «Laut Google darf sie.» •

Nachgefragt bei Raoul Furlano, pädiatrischer Gastroenterologe am UKBB Basel.

Wie viele Menschen in der Schweiz leiden an Zöliakie? Mädchen, Buben, Männer, Frauen gleichermassen?
1 von 100 Menschen in der Schweiz, also etwa 1%. Und dann leben wohl viele mit Zöliakie, ohne es zu wissen. Frauen und Mädchen sind etwas häufiger betroffen als Männer und Knaben.

Worauf müssen Grosseltern achten, wenn sie ihren Enkel mit Zöliakie weiterhin regelmässig betreuen wollen?
Kein «Jö-das-arme-Kind-Effekt», sondern sich informieren, sich eindecken mit wunderbar schmeckenden glutenfreien Nahrungsmitteln und die Therapie durchziehen, keine Ausnahmen. Wäre es eine Tablette, die das Enkelkind gegen eine Krankheit einnehmen müsste, dürfte man das ja auch nicht einfach auslassen, nur weil es bei den Grosseltern ist.

Stimmt es, dass schon kleinste Brösmeli gefährlich sein können? Wie umgeht man dieses Risiko?
Gefährlich ist übertrieben, aber tatsächlich reichen schon Krümel zur Zündung des Entzündungsprozesses im Dünndarm. «Unfälle» geschehen, keine Panik, aber diese dürfen nicht gewollt und auch nicht wiederkehrend geschehen.

Wie hat sich die Situation für Kinder mit Zöliakie in den letzten Jahren verändert? Ist es einfacher geworden?
Das können nur Betroffene sagen. Ich stelle fest, dass die Wahrnehmung dank Information und Aufklärung zugenommen hat, ausserdem gibt es viele neue Anbieter glutenfreier Nahrungsmittel, sogar glutenfreie Bäckereien.