«Wer bin ich ? Was brauche ich ? »

Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund haben ein Kinderbuch über die Suche nach dem Glück geschrieben. Wir haben mit den beiden ­Autoren
und Psychologen darüber gesprochen, was Kinder brauchen, um glücklich zu sein. Und wie Grosseltern sie dabei unterstützen können.

Geraldine Capaul (Interview)

«Jaron auf den Spuren des Glücks» heisst Ihr neues Buch. Was macht Kinder glücklich?
Fabian Grolimund: Ganz ähnliche Dinge wie Erwachsene: Vertraute und verlässliche Beziehungen, in denen sie sich selbst sein dürfen. Ein Alltag, der immer wieder Raum bietet, um eigenen Interessen nachzugehen, die eigenen Stärken zu entdecken und zu kultivieren, das Gute und Schöne in der Welt zu geniessen, Erfolge zu haben und sich als kompetent erleben zu dürfen. Und auch für Kinder ist es bereits wichtig, sich als nützlich erleben zu dürfen und im Leben anderer einen Unterschied zu machen.
Stefanie Rietzler: Je jünger Kinder sind, desto stärker sind sie auf ein Umfeld angewiesen, das ihnen diese Möglichkeiten bietet. Je älter sie werden, desto mehr können sie selbst zu ihrem Glück beitragen, indem sie Gewohnheiten entwickeln, die die Lebenszufriedenheit erhöhen. Dazu gehört zum Beispiel eine optimistische Grundhaltung, Dankbarkeit und Achtsamkeit. Unter letzterem versteht man, dass jemand sich mit Körper und Geist auf das Hier und Jetzt besinnt und sich mit dem verbinden kann, was gerade da ist – ohne ständig über das Morgen oder Gestern nachzugrübeln. Neben den äusseren Umständen und Gewohnheiten spielen aber auch unsere Gene für unsere Zufriedenheit eine wesentliche Rolle: Manche Menschen sind einfach von Natur aus mit einem sonnigeren Gemüt ausgestattet und lassen sich durch negative Ereignisse nicht so leicht aus der Bahn werfen.

Manchmal frage ich meinen sechsjährigen Sohn: Bist du glücklich? Und frage mich gleichzeitig: Weiss er, was das ist?
SR: Kinder haben ein etwas anderes Verständnis von Glück: Sie spüren vor allem Freude, Vergnügen und Stolz im gegenwärtigen Moment. Bei Kindern in diesem Alter wechseln sich Gefühle noch sehr rasch ab: Von himmelhochjauchzend zu zu Tode betrübt. Ihr Sohn wird daher auf diese Frage wohl eher beschreiben, wie er sich in diesem Augenblick fühlt. Erst mit zunehmendem Alter wird die Lebenszufriedenheit als eher überdauerndes Grundgefühl wichtiger, das auch auf einer Einschätzung des eigenen Lebens als «gelungen» beruht und verschiedene Erfahrungen aus unterschiedlichen Lebensbereichen einschliesst.

Können Kinder ihr Glück selber finden? Oder brauchen sie unsere Hilfe?
FG: Eltern unterstützen ihre Kinder heute bei sehr vielem. Sie möchten sie auf das spätere Leben bestmöglich vorbereiten und achten daher sehr auf das schulische Vorankommen, die Ernährung, den sozialen Bereich, wollen, dass Kinder Sport treiben und ein Instrument spielen. Aber: Auch wenn der Wunsch riesig ist, dass die eigenen Kinder glücklich sind, wird das Glück kaum thematisiert. Viele Erwachsene glauben noch immer, dass man vor allem Erfolg haben muss, um später glücklich zu sein – wobei die Forschung sehr klar zeigt, dass es umgekehrt ist: Glückliche Menschen werden eher erfolgreich. Erfolg allein macht hingegen nicht glücklich.
SR: Sehr viele Erwachsene versuchen mit aller Macht, zufrieden zu sein, haben aber nie gelernt, was sie dafür brauchen. Wir überlassen es normalerweise der Werbung und der Gesellschaft, uns den Weg zum Glück zu weisen und erhalten schlechten Rat: Kaufe mehr, besitze viel, achte auf eine tolle Figur, sei erfolgreich und mach Karriere, dann wirst du glücklich sein. Das funktioniert aber nicht. Kinder und Erwachsene benötigen daher Hilfe auf dem Weg zur Zufriedenheit. Uns allen tut es gut, wenn wir uns immer wieder fragen, was wir wirklich brauchen und uns nicht blenden lassen von falschen Versprechungen.

Haben materielle Güter gar keinen Einfluss?
FG: Doch. Bis zu einem gewissen Grad. Armut schränkt ein, verursacht Stress und macht unglücklich. Studien zeigen aber, dass ab einem ausreichenden Einkommen mehr Geld nicht glücklicher macht. Das schöne Auto, die teuren Ferien und die Markenklamotten sorgen für einen kurzen Kick, der aber oft teuer erkauft wird. Viele Menschen wären glücklicher, wenn sie etwas weniger verdienen würden, dafür mehr Zeit für Familie, Freunde und eigene Interessen hätten und den beruflichen Stress reduzieren könnten.

Welche Voraussetzungen brauchen Kinder, um ihr Glück suchen zu ­können?
SR: Kinder sollten Gelegenheit haben, sich selbst kennenzulernen. Sie benötigen Bezugspersonen, die ihnen dabei helfen, Antworten zu finden auf Fragen wie: Wer bin ich? Was brauche ich? Was macht mir Freude? Was interessiert mich und was kann ich gut? Was hilft mir in schwierigen Momenten? Wer tut mir gut und wie kann ich schöne, stabile Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen und erhalten? Dabei helfen ihnen Menschen, die neugierig sind, ihnen Fragen stellen und zuhören können. Wertvoll sind auch Erwachsene, die selbst Antworten auf solche Fragen gefunden haben und vorleben, wie man gut für sich selbst und seine Mitmenschen sorgt und was im Leben wirklich zählt.

Inwiefern helfen Beziehungen wie zum Beispiel zu den Grosseltern den Kindern, glücklich zu sein?
FG: Viele Studien, darunter eine berühmte Längsschnittstudie aus Har­vard, zeigen: Verlässliche, enge Beziehungen sind der wichtigste Faktor für ein glückliches Leben überhaupt. Grosseltern kommt dabei oft eine besondere Rolle zu. Sie sind weniger eingebunden in einen hektischen und fordernden (Berufs-)Alltag und können den Enkeln so oft Ruheinseln verschaffen. Manchmal haben sie mehr Geduld als Eltern und können Kindern die nötige Zeit lassen, um die Welt zu entdecken und den Moment auszukosten. Mit dem Alter kommt oft auch ein stärkeres Besinnen auf das Wesentliche, ein Stück Weisheit, von dem Enkel profitieren können.

In Ihrem Buch haben Freunde einen grossen Einfluss auf Jarons Glück. Sind Freunde zentraler als Familie?
SR: Die Familie ist ganz klar bedeutsamer. Spätestens im Jugendalter rücken zwar Freundschaften stärker in den Vordergrund – dabei prägen aber wiederum die Erfahrungen in der Familie. Wer sich dort geliebt fühlt, seine eigene Meinung kundtun darf, Verständnis und Wertschätzung bekommt, kann tendenziell auch leichter auf Gleichaltrige zugehen, Freundschaften knüpfen und Konflikte konstruktiv austragen. Für den jungen Fuchs Jaron hat die Freundschaft zu Hasenmädchen Lotte, Bärin Frieda und Ente Merle eine zentrale Bedeutung, da seine Mutter verstorben ist, als er noch klein war, und sein Vater zu Beginn der Geschichte eher verschlossen, fast schon verbittert ist.

Haben Grosseltern gegenüber den Eltern einen Vorteil, wenn es darum geht, über Glück (oder Unglück) zu reden?
FG: Wir erleben es immer wieder, dass sich Grosseltern ein Stück weit vom «Erziehungsauftrag» befreit fühlen. Dadurch können sie den Enkeln oft entspannter begegnen als früher den eigenen Kindern und sich mehr auf die Beziehung einlassen. Gespräche drehen sich in der Folge weniger darum, beim Kind irgendein Ziel zu erreichen, es zur Einsicht zu bringen oder es von einem Standpunkt zu überzeugen. Philosophische Fragen haben dadurch bessere Karten – denn dazu müssen wir uns eher mit Neugier und Offenheit auf Kinder einlassen und nicht mit einer Erziehungsabsicht im Kopf.
SR: Mich hat mein Grossvater sehr geprägt. Er wurde im Krieg von einer Granate getroffen, war lange in Kriegsgefangenschaft und hat so viel Leid, Tod und Zerstörung erlebt. Trotzdem war er einer der optimistischsten und fröhlichsten Menschen, die ich in meinem ganzen Leben kennengelernt habe. Wenn ich als Jugendliche das Gefühl hatte, dass mein Leben wegen einer schlechten Note, einem zerbeulten Kotflügel beim Ausparken oder einem Streit mit einer Freundin gerade «ziemlich blöd» sei, haben mir Gespräche mit ihm und seine Reaktionen immer dabei geholfen, alles wieder in die richtige Perspektive zu rücken.

In welchem Rahmen lassen sich philosophische Fragen mit Kindern besprechen?
FG: Am besten ganz nebenbei. Bei einem Spaziergang, beim Backen, bei einer Autofahrt – oder beim gemeinsamen Lesen einer Geschichte. Also immer dann, wenn man zwanglos gemeinsam über etwas nachdenken kann. Vielleicht erzählt man zuerst etwas über sich? Teilt ein eigenes Erlebnis oder eine Erkenntnis mit und lässt sich davon überraschen, wie das Kind darauf reagiert? Oder man stellt dem Kind eine Frage zu einer Geschichte, die man ihm vorliest: Wie hätte es anstelle des Protagonisten reagiert?

Was macht Kinder unglücklich?
SR: Das Schlimmste ist für Kinder ganz sicher, wenn sie sich von den eigenen Eltern nicht geliebt fühlen, vielleicht sogar Gewalt und Missbrauch erfahren müssen. Auch wenn Kinder in der Schule über längere Zeit ausgeschlossen und gemobbt werden, macht sie das unglücklich – und sollte keinesfalls geduldet oder mit Sprüchen wie «mach dir nichts draus» abgetan werden.
FG: Ein anderer Faktor ist Alltagsstress. Wenn Kinder und Jugendliche immer wieder an ihre Leistungsgrenzen oder darüber hinaus kommen, kaum Zeit für sich und ihre Freundschaften haben, weil sie ständig irgendein Ziel erreichen oder die Erwartungen von anderen erfüllen müssen. Auch Hilflosigkeitserfahrungen können depressiv machen: Wenn Kinder beispielsweise immer wieder feststellen müssen, dass sie «nichts können» oder «alles falsch machen» und sich alle Gespräche nur noch um ihre Defizite, Fehler und Schwächen drehen. Zu guter Letzt wollen Kinder und Jugendliche auch sich selbst sein dürfen, eigene Erfahrungen machen und sich ausprobieren. Überbehütende oder kontrollierende Bezugspersonen, die zu enge Grenzen setzen, ihr Kind ständig überwachen und einengen, beschneiden es in seiner Entwicklung. Das wiederum begünstigt Ängste und Depressionen.

Die Sängerin Adele spricht in einem ihrer neuen Songs zu ihrem sechsjährigen Sohn. Sie erklärt ihm, wie unglücklich sie sei, wie wenig sie gerade ihr Leben im Griff habe. Wie viel ihres eigenen Unglücks sollen und dürfen Eltern und Grosseltern bei aller Authentizität ihren jüngeren Kindern zutrauen?
FG: Kinder suchen bei ihren Eltern Halt und Sicherheit. Erleben sie, dass diese selbst keinen Halt im Leben haben, ist das sehr bedrohlich. Das heisst nicht, dass die Eltern immer so tun müssten, als seien sie glücklich oder hätten keine Probleme. Aber es ist für Kinder wichtig, dass sie merken, dass die Eltern sich selbst um sich kümmern und nicht das Kind sich plötzlich in der Rolle wiederfindet, in der es die Eltern ständig trösten muss, ihnen keinen Kummer bereiten darf, den Eltern durch Liebsein oder gute Noten ein seltenes Lächeln entlocken oder Ehekonflikte schlichten muss. Gerade jüngere Kinder haben zudem noch ein «egozentrisches Weltbild», beziehen vieles auf sich und glauben beispielsweise, dass sich die Eltern getrennt haben, weil sie etwas falsch gemacht haben. Eltern dürfen ihre Gefühle mit Kindern teilen – auch schwierige. Sie müssen sich aber bewusst sein, dass die Verantwortung für die Stimmung und die Atmosphäre in der Familie bei ihnen liegt und nicht bei den Kindern.

Wie hilft man einem unglücklichen Kind zurück zum Glück?
SR: Wichtig ist, dass man zuerst annimmt, was ist, und sich um Verständnis bemüht. Kinder sind ja oft nicht grundlos unglücklich. Jaron im Buch ist beispielsweise unglücklich, weil er in der Schule von zwei Fieslingen gehänselt und drangsaliert wird, sich sein bester Freund von ihm abwendet und sein Vater so wenig Zeit für ihn hat. Dann geht es darum, dem Kind dabei zu helfen, das zu ändern, was sich verändern lässt – und zu akzeptieren, was sich nicht ändern lässt. So ist Jaron beispielsweise gemeinsam mit seinem Vater traurig darüber, dass seine Mutter nicht mehr da ist. Die gemeinsame Trauer hilft ihm, damit umzugehen und sich wieder mit seinem Vater zu verbinden. Akzeptieren ist somit auch ein aktiver Prozess, anders als verdrängen, nicht mehr dran denken oder «sich nichts draus machen». Seine anderen Schwierigkeiten kann Jaron mit Hilfe seiner neuen Freunde Stück für Stück verändern. Gleichzeitig entdeckt Jaron Glücksgewohnheiten. Beispielsweise schreibt er sich abends drei Dinge auf, über die er sich gefreut hat oder die gut gelaufen sind. So wird er sich mehr und mehr bewusst, dass es neben all dem Schwierigen auch viel Gutes und Schönes in seinem Leben gibt. •

Box:
Stefanie Rietzler & Fabian Grolimund sind Psychologen und Autoren diverser Bücher und Artikel (u. a. für die Zeitschrift Fritz + Fränzi). Zusammen leiten sie die Akademie für Lerncoaching in Zürich.
mit-kindern-lernen.ch, weiterbildung-lerncoaching.ch

Lesen und reden: «Jaron auf der Suche nach dem Glück» trifft mit seinem Ton und dem Inhalt den kindlichen Nerv der Zeit.
Ab der ersten Seite fühlen die Leserinnen und Leser mit. Und sie werden sich fragen: Kommt es gut heraus? Die Antwort lautet ja. Zusammen mit den Enkeln kann man Jaron auf diesem Weg begleiten. Mit einem Anhang aus Gesprächs-Inputs. Denn das Buch
will auch dazu anregen, beim Lesen ins Gespräch übers Glück zu finden. Ab 8 Jahren.
Jaron auf den Spuren des Glücks, Fabian Grolimund & Stefanie Rietzler, Hogrefe-Verlag 2021, 384 Seiten, ca. 42 Franken.