Eine Gruppe von Psychologen ist der Frage auf den Grund gegangen.
Dass die Zeit manchmal rast und dann wieder stillsteht, wissen wir, seit wir klein sind: Noch zehn Tage bis zum Geburtstag? Eine Ewigkeit. Und ist er dann da, zack: schon wieder vorbei.
Später hingegen nimmt das Leben offenbar nur noch an Fahrt auf. Zumindest fühlt es sich für die meisten von uns so an: Je älter wir werden, desto mehr scheint die Zeit zu rasen. Steckte Nina nicht gerade noch in den Windeln und jetzt macht sie schon ihren Lehrabschluss? Hatten die Sommerferien nicht eben erst begonnen? Wer hat an der Uhr gedreht? Ist es wirklich schon so spät?
Die Psychologin Isabell Winkler und weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Chemnitz sind diesem Phänomen auf den Grund gegangen. Sie untersuchten das Zeitempfinden von über 500 Frauen und Männern zwischen 20 und 80 Jahren sowie mögliche Ursachen dieses Gefühls.
MEHR ROUTINEN, WENIGER NEUES
Die Wissenschaftler aus Chemnitz stellten fest: Tatsächlich ist das Gefühl, die Zeit vergehe im Lauf des Lebens immer schneller, in der Gesellschaft weit verbreitet. Zu diesem Zeitempfinden scheinen mehrere Faktoren beizutragen. So spielt zum Beispiel der subjektive Zeitdruck eine entscheidende Rolle: Wer fürchtet, die Zeit reiche vielleicht nicht, um alles Anstehende zu erledigen, der hat auch eher das Gefühl, diese rinne ihm nur so durch die Finger.
Ein weiterer Grund: Mehr und mehr Handlungen des Alltags werden mit der Zeit zur Routine. Je automatisierter Tätigkeiten ablaufen, desto weniger sind wir darauf angewiesen, einzelne Schritte bewusst zu erinnern und wahrzunehmen – und umso schneller vergeht gefühlt die Zeit. So wird uns der Weg vom Hotel zum Bäcker am ersten Ferientag deutlich länger vorkommen als drei Wochen später, wenn wir ihn längst im Schlaf kennen.
Nicht zuletzt machen wir später im Leben normalerweise nicht mehr so viele neue Erfahrungen, wie wir das noch als Kinder und junge Erwachsene taten. Wir ziehen nicht mehr so häufig um oder wechseln die Stelle, Beziehungen und Freundschaften sind in der Regel stabil. Aussergewöhnliche Erlebnisse werden jedoch viel detailreicher und emotionaler erinnert als gewöhnliche Tage und nehmen im Rückblick entsprechend auch mehr Platz ein.
FURCHT VOR DEM TOD?
Winkler und ihre Kollegen haben auch Faktoren untersucht, die keinen Einfluss auf das Zeitempfinden haben, obwohl man das auf den ersten Blick vielleicht meinen könnte: So scheint sich beispielsweise die subjektive Lebenszeit nicht etwa deshalb zu beschleunigen, weil wir mit zunehmendem Alter den Tod in immer grösseren Schritten näher kommen sehen.
Es lässt sich auch kein Zusammenhang mit einem Phänomen feststellen, das Psychologen auf Deutsch etwas sperrig Planungsfehlschluss nennen. Darunter versteht man die Tatsache, dass wir oft die Zeit unterschätzen, die es uns kostet, eine bestimmte Aufgabe zu erledigen, sei es, den Lebenslauf zu überarbeiten oder Koffer zu packen. Dauert das länger als vorgesehen, zieht sich die gefühlte Zeit entsprechend in die Länge. Könnte es also nicht sein, dass uns mit den Jahren weniger solcher Fehleinschätzungen unterlaufen und die Zeit deshalb schneller läuft? Nein, schreiben die Psychologen in ihrer Studie. Denn offenbar lernen wir ziemlich wenig aus der Vergangenheit, wenn wir solche Voraussagen machen (und kommen entsprechend auch das nächste Mal wieder zu spät ins Pilates, weil wir vorher nur noch kurz den Geschirrspüler ausräumen wollten).
DER ZEIT EIN WENIG IHR TEMPO NEHMEN
Das Gefühl der sich beschleunigenden Lebenszeit ist nicht unbedingt angenehm. Doch es muss kein schlechtes Zeichen sein. Denn normalerweise ist ein solches Empfinden auch ein Hinweis darauf, dass wir unsere Zeit regelmässig mit Aktivitäten verbringen, die wir gerne tun und die uns Spass machen. Die rasende Zeit kann sogar ein Zeichen psychischer Gesundheit sein: Wer im Alter das Gefühl hat, das Leben schleiche nur so dahin, hat unter Umständen eher mit Gefühlen der Sinnlosigkeit oder einer depressiven Verstimmung zu kämpfen. Vielleicht können wir die gefühlte Beschleunigung also einfach als Zeichen deuten, dass wir unsere Zeit mit vielen Dingen verbringen, für die wir am liebsten noch mehr Zeit hätten.
Wer dem Gefühl trotzdem ein wenig entgegensteuern will, braucht nicht unbedingt mit siebzig das Leben nochmals auf den Kopf zu stellen. Vielleicht reicht es ja schon, die vertraute Welt mit der Enkelin neu zu entdecken, hin und wieder unnötige Gewohnheiten abzustreifen und aus Routinen auszubrechen, sich keinen Stress zu machen und an einem Morgen nicht hundert Dinge erledigen zu wollen – und immer wieder innezuhalten und einfach den Augenblick in all seinen Facetten wahrzunehmen und zu geniessen.•
Von ÜMIT YOKER (Text) IRENE MEIER (Illustration)