Weshalb Grosseltern auf Achterbahnen die besseren Begleiter sind

Den wenigsten Kindern wird es auf Karussells und Achterbahnen übel – ihren Eltern aber sehr wohl. Senioren hingegen scheinen damit weniger Probleme zu haben.

Neulich im Europapark. Voreilig hat die Gotte, die seit ihrer Kindheit nicht mehr in dem Vergnügungspark in der Nähe von Freiburg (D) war, dem Göttibuben versprochen: «Ich fahre mit dir alles, was du willst.» Nun stehen die beiden vor einer wild aussehenden Überkopf-Bahn, und der Gotte ist ziemlich mulmig. Als Jugendliche war ihr kein Fahrgeschäft zu schnell, heute mit Anfang 40 wird ihr bereits beim Anblick eines Spielplatz-Karussells übel. Aber dem Göttibuben zuliebe würde sie es wagen. Ein Vater, der mit seiner Tochter ebenfalls die Bahn beäugt, offenbart sich: «Früher bin ich das immer gefahren, doch seit einigen Jahren wird mir dabei so schlecht.» Da erscheint eine ältere Dame mit Enkel im Schlepptau. «Komm Oma, wir fahren gleich nochmals», ruft der Junge. «Macht das Spass?», erkundigt sich die Gotte vorsichtig bei der Grossmutter. «Super ist das!», schwärmt diese mit glänzenden Augen, «aber in Ihrem Alter wäre mir da speiübel geworden.» Und fügt belustigt hinzu: «Warten Sie noch ein paar Jährchen, dann geht das auch wieder!»

Der Gleichgewichtssinn ist schuld
Weshalb wird es Kindern auf Karussells und Achterbahnen meist nicht schwindelig oder übel, ihren Eltern aber sehr wohl? «Es liegt am Gleichgewichtssinn, der sich mit dem Alter verändert», sagt Alexander Tarnutzer. Er ist leitender Neurologe am Kantonsspital Baden (AG) und erklärt: «Stellen Sie sich vor, Sie sitzen auf einem Bürostuhl und drehen sich zehn Mal um die eigene Achse. Halten Sie dann an, kommt es Ihnen vor, als drehen Sie sich weiter – denn unser Gehirn verlängert den Eindruck der Bewegung. Dieser Verlängerungsfaktor ist bei Kindern und Jugendlichen schwächer ausgeprägt, weshalb sie Bewegung kürzer wahrnehmen.» Anders gesagt: Bei Kindern löst das Beschleunigungsgefühl meist Freude aus, bei Erwachsenen führt es eher zu Orientierungsverlust und Ängsten.
Dabei kommt es sehr auf die Art der Bewegung an: Während es auf Riesenrad oder Karussell nur 10 bis 20 Prozent der 7- bis 12-Jährigen übel wird, leidet beim Autofahren jedes zweite Kind. Erwachsene hingegen haben im Auto seltener Probleme, weil sie über die Jahre Strategien dagegen entwickeln. Doch weshalb empfinden Grosseltern beim Achterbahnfahren offenbar weniger Schwindel als ihre erwachsenen Kinder, Herr Tarnutzer? «Ganz einfach», sagt der Neurologe, «der Verlängerungsfaktor nimmt mit zunehmendem Alter wieder ab, Bewegungen werden kürzer wahrgenommen.» Sind also Grosseltern bessere Begleiter für die Achterbahn als Eltern? «Rein vom Gleichgewichtssinn vermutlich ja», so der Arzt. «Allerdings kann es im Alter andere gesundheitliche Einschränkungen geben.» Der Arzt meint damit Probleme mit dem Herzen oder dem Kreislauf.

«Fixieren Sie
einen Punkt.
Es hilft, wenn Sie abschätzen
können, wie die
Bewegung
verläuft.»

Eltern, die das Achterbahnfahren nicht dem Grosi überlassen wollen, rät der Neurologe: «Fixieren Sie einen Punkt. Es hilft, wenn Sie abschätzen können, wie die Bewegung verläuft.» Melden unsere Bewegungssensoren – wie Gleichgewichtssinn, Druckrezeptoren auf der Haut oder die Augen – unterschiedliche Signale, entsteht Schwindel. Auf der Achterbahn die Augen zu schliessen, ist deshalb keine gute Idee.
Der Göttibub entscheidet sich dann doch gegen die Achterbahn; die Gotte kann ihre Erleichterung kaum verbergen. «Aber nächstes Mal fahren wir, ja?», sagt der 9-Jährige. «Geht klar», denkt die Gotte, «bis dahin bin auch ich älter. Vielleicht geht’s dann ja wieder.»•