Für ihren letzten Lebensabschnitt wollten sie etwas anderes: Zehn Seniorinnen und Senioren haben ein Haus gekauft und Wohnungen eingebaut. Nun leben sie dort als Genossenschaft. Zusammen haben sie 17 Kinder und 31 Enkel, die sich gut kennen und verstehen.
Von Geraldine Capaul (Text) und Matthias Luggen (Fotos)
«Wir kennen uns so gut», sagt Regula Willi, «weil wir miteinander reden und einander zuhören». Sie sitzt an einem grossen Holztisch, zusammen mit Ruth Falb, Pia Sieber und Richard Hehl. «Wir», das sind aber nicht nur diese vier, die sich an diesem Montagmorgen zusammengesetzt haben, um über ihr Erfolgsprojekt, das Stürlerhaus, zu berichten. «Wir» sind zehn Seniorinnen und Senioren, die vor vielen Jahren beschlossen haben, im Alter zusammenzuwohnen. Sie haben dieses Ziel hartnäckig verfolgt und schliesslich erreicht.
Aber von vorn: Im Jahr 1996 beschlossen drei Frauen, dass sie in ihrem letzten Lebensabschnitt anders leben wollten – sie wollten mit Gleichgesinnten und Gleichaltrigen alt werden. Sie haben ihren ganzen Bekanntenkreis zum Brunch und zum Brainstorming eingeladen. Gefunden hat sich eine Kerngruppe, die sich danach regelmässig traf. Niemand hatte einen Altersdruck. «Wir waren 50 oder älter», sagt Pia Sieber. Manche ihrer Kinder waren noch nicht aus dem Haus. Schliesslich aber wurde es konkret, sprich: Wie viel Geld habt ihr? Danach wurden Liegenschaften angeschaut, sehr viele Liegenschaften. Bis sie das alte Stürlerhaus besichtigen konnten. Es zeigte sich an jenem regnerischen, grauen Tag nicht von seiner besten Seite. Aber für alle war klar: Das ist es. Sie bauten um und vor 19 Jahren konnten sie schliesslich einziehen. Sieben Wohnungen mit Küche und Bad, zwei Gästeräume mit Küche, die sie an Touristen vermieten, Gemeinschaftsräume mit einer top ausgerüsteten Gemeinschaftsküche, ein riesiger Keller, in welchem kulturelle Veranstaltungen stattfinden.
Heute leben drei Paare und vier Singles – sechs Frauen und vier Männer – im Alter zwischen 71 und 87 Jahren im mehrstöckigen Stürlerhaus. In der ganzen Zeit gab es einen Wechsel – das war vor 13 Jahren. Sie haben alle Familien. Total sind das 17 Kinder und 31 Enkelinnen und Enkel. Letztere sind zwischen 3½ und 31 Jahre alt; die älteren sind oft im Stürlerhaus zu Besuch und unterhalten sich mit ihren Grosseltern – über Ausbildungsfragen etwa oder Beziehungsprobleme. Im Lockdown haben sie die Bewohner:innen mit Einkäufen versorgt, damit ja niemand aus dem Haus gehen musste. Die jüngeren nehmen immer noch den Hütedienst der Grosseltern in Anspruch, was deren berufstätige Kinder natürlich entlastet. «Wir organisierten auch schon – zu ihrer und unserer Freude – Kinder- und Enkelfeste. So lernten sich alle untereinander kennen.» Die Kinder schätzen das alte Haus, den Kinoraum, den Töggelikasten, den grossen Garten mit Springbrunnen, in dem im Sommer sogar gebadet wird. Es ist definitiv genug Platz da, um sich auszutoben. Sogar Geburtstagsfeste finden hier manchmal statt und werden von allen, auch den nicht daran beteiligten Bewohner:innen, nicht nur toleriert, sondern richtig genossen.
Alle bringen sich ein
Das Haus funktioniert als Genossenschaft und alle Bewohner:innen sind mit gleich hohen Anteilscheinen an der Finanzierung beteiligt. Das ist wichtig, denn niemand hat mehr Rechte nur auf Grund einer besseren finanziellen Ausgangslage. Es gibt Statuten, Arbeitsgruppen – für den Garten, die Finanzen, Website, Technik etc. –, die sich regelmässig treffen, und alle zwei Wochen eine Sitzung. Die Genossenschafter:innen entscheiden basisdemokratisch, suchen den Kompromiss. «Manchmal war ich nach den Sitzungen so wütend», sagt Pia Sieber. «Ehrlich? Das war mir nicht bewusst», sagt Regula Willi. Heute laufen die Entscheidungsfindungen ausgeglichener ab. «Das mussten wir lernen.» Aktuell macht der Rasen Kopfzerbrechen. Rasen erneuern oder nicht? Wenn ja, Rollrasen? Wenn nein, Unkraut stehen lassen? Immer sonntags brunchen alle zusammen, jeden Montagabend schauen sie im Keller Serien, alle zwei Jahren haben sie eine Retraite. In der Regel reisen sie dafür für zwei Tage irgendwohin und besprechen neue Ideen. Ist die Genossenschaft wie eine zweite Familie? Nein, diesen Vergleich finden sie nicht passend. Klar verbringen sie gern Zeit miteinander, aber es hat jede und jeder seinen Rückzug, jede und jeder pflegt seine eigenen Beziehungen ausserhalb des Hauses. Und im Weinkeller hat es zwar ein gemeinsames Abteil, aber es hat auch jeder deutlich angeschrieben seine eigenen Flaschen.
In letzter Zeit wurde die Frage rund um gegenseitige Hilfeleistungen aktuell. Ein Bewohner leidet an Parkinson, seine Frau und er bekommen Unterstützung von der Spitex. In den Statuten steht, dass sich die Bewohner:innen «gegenseitig unterstützen und helfen bei Krankheit und speziellen Bedürfnissen». In der Praxis aber konnten sie die Hilfeleistungen nicht immer in gewünschter Art leisten. Die Genossenschafter:innen werden selber älter und eigene Unpässlichkeiten machen einzelnen zu schaffen oder sie möchten Kultur, Freundschaften und Reisen geniessen oder eigene Projekte realisieren.
Konfliktfähig und Tolerant
Wie muss man sein, um im Stürlerhaus akzeptiert zu werden? Tolerant, offen, nicht eingleisig, mit einem gesunden Verständnis für Nähe und Distanz und konfliktfähig. «Letzteres gelingt uns nicht immer, wir hatten, gerade in der Coronazeit, herausfordernde Diskussionen und sind nun froh, dass nicht allzu viel Geschirr zerschlagen wurde.» Auch wenn es teilweise herausfordernd sein kann, sind sie sich einig: «Man bleibt fit im Kopf.» Es sei ein ähnlich gutes Training, wie zwischendurch rückwärts zu laufen. Oder die Küche umzuräumen. •
Stürlerhaus
Das Haus wurde 1659 erbaut. Es liegt am Fuss des Altenberghangs am rechten Aareufer in Bern, unterhalb des Diakonissenhauses. Bis 1918 wurde es von den Diakonissen als Spital genutzt. Seit 2001 ist es im Besitz der «Genossenschaft Andere Wohnformen im Stürlerhaus am Altenberg».
Es gibt ein Buch über das Stürlerhaus: Margareta Hehl und Barbara Zohren, «Neue Wohnformen für Mutige», Verlag die Brotsuppe, 2015.
stuerlerhaus.com