Wie geht es unserer Jugend ?

Jeden Tag melden sich neun Minderjährige mit Suizidgedanken beim Beratungstelefon von Pro Juventute, die Wartelisten für Therapieplätze sind lang, die Fachkräfte sind besorgt. Was steckt dahinter? Und wie können Grosseltern helfen?

Von Geraldine Capaul (Text)

Der Bildbeitrag ist in einer Psychotherapie mit Jugendlichen entstanden.

«Seit ich offen über Annas psychische Erkrankung spreche, höre ich immer öfter: Das haben wir auch erlebt. Unsere Tochter, unser Sohn ist in Behandlung, war in der Klinik, erzählt die Mutter von Anna (siehe aufgezeichnet, Seite 58), die drei Monate stationär in einer psychiatrischen Klinik verbracht hat. Kinder- und Jugendpsychologinnen und -psychiater, öffentliche Jugendarbeit, Schulsozialarbeiter:innen – sie alle berichten von Überlastung, von Wartelisten, von zu wenig Stunden für zu viele Kinder und Jugendliche. Die Zahlen einer aktuellen Studie von Pro Juventute unterstreichen diese Berichte: 2023 meldeten sich pro Tag neun Jugendliche mit Suizidgedanken beim Notfalltelefon 147. Das ist eine Steigerung von 83 Prozent im Vergleich zu 2019. Selbstverletzendes Verhalten: +88 Prozent, Essstörung: +151 Prozent.
Beobachten wir einfach genauer oder nehmen psychische Erkrankungen tatsächlich zu? Und falls es eine Zunahme gibt: Wo liegt das Hauptproblem? «Seit Corona hat das politische und gesellschaftliche Interesse an mentalen Krankheiten oder Belastungen erheblich zugenommen», sagt Oliver Bilke-Hentsch, Chefarzt Kinder- und Jugendpsychiatrie Luzern und Co-Leiter der Fachgesellschaft. «Das stimmt uns zukunftsfroh. Die Stigmatisierung ist deutlich geringer geworden und das ist positiv.» Tatsächlich werden mentale Krisen unter Jugendlichen, aber auch in den Familien deutlich offener besprochen. Hollywood-Serien inszenieren Essstörungen oder Selbstverletzung stream- und mainstreamfähig. Es sind mehr Menschen sensibilisiert und Betroffene sind transparenter geworden.
Die «Pro Juventute Jugendstudie» vom letzten Jahr untersuchte erstmals den Umgang mit Stress, Krisen, Mediennutzung und Resilienz bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Schweiz. Die Zahlen sind deutlich. Zurückzuführen ist das laut Studie auf eine Multikrise, die unsere Jugendlichen und Kinder in einer besonders verletzlichen Phase trifft. Während die Minderjährigen eigentlich mehr als genug mit sich selber zu tun haben und sich auf ihre Entwicklung konzentrieren sollten, müssen sie sich mit den Nachwehen der Corona-Pandemie auseinandersetzen, mit Klima-Krise, Kriege in der Ukraine oder im Nahen Osten, drohender Inflation, sozialer Ungerechtigkeit  …
«Das schwierigste Problem unserer Patient:innen sind Sinnkrisen. Also ein grundsätzliches Erleben von existenzieller Sinnlosigkeit», sagt Bilke-Hentsch. «Das ist an sich noch keine psychiatrische Erkrankung. Aber Jugendliche, die weder die Familie noch die Ausbildung, das Studium oder Ferienpläne als irgendwie sinnvoll erachten und die sich zudem der globalen Erwärmung, der nahen Kriege, der Auswirkungen von Robotik und AI bewusst sind, fragen sich: Wozu mach ich das alles eigentlich?» Nicht jede:r sei deshalb gleich depressiv. Aber wenn jemand an einer Depression leidet, ist diese Sinnlosigkeit ein grosser Teil der Krankheit. Bei den betroffenen Jugendlichen geht diese Frage noch tiefer. Sie schauen sich ihre Eltern an, ihre Grosseltern, Rollenvorbilder und denken: Das ist alles? Wenn dann noch Instagram, TikTok und so weiter dazukommen, wo der Spass und das gute Aussehen zelebriert werden, kann das ein besonders nachdenkliches Kind sehr treffen. Es kann in diesem Sog nicht mehr abstrahieren, dass das alles nicht das echte Leben ist, und denkt: Warum haben es alle anderen so viel besser? Bilke-Hentsch würde einen Jugendschutz begrüssen, der dem Wort auch gerecht wird. Gerade im Bereich Social Media sieht der Chefarzt Handlungsbedarf. «Rund 40 Prozent der unter 12-Jährigen nutzen ihr Mobile dauernd. Häufig verstehen sie nicht, was da passiert.» Hier brauche es eine Mischung aus Normen, also deutlicheren Verboten, und Freiheit. Bei Alkohol und Zigaretten, aber auch beim Autofahren funktioniere das ja auch, sagt er.
Nach wie vor sind etwa 85 Prozent der stationären Patient:innen Mädchen. Suizidversuche, schwere Anorexie, Zwangserkrankungen, dazu Begleiterscheinungen wie Drogenkonsum und Selbstverletzungen. Susanne Walitza, Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie Zürich (KJPP) sagt: «Die Frage, warum es den jungen Mädchen und Frauen schlechter geht, ist nicht abschliessend zu beantworten. Einige Ergebnisse der Studie zeigen, dass Mädchen und junge Frauen sich mehr belastet fühlen durch ihre aktuelle Situation und durch die Schule oder Ausbildung, sich tendenziell mehr Sorgen um die Welt machen, stärker emotional und körperlich auf Stress reagieren und sich selbst kritischer sehen.» Die meisten Buben, die stationär aufgenommen werden, sind jünger, also unter 12 Jahren. Sie kommen mit Zwangserkrankungen, Schizophrenie oder ADHS in die Klinik.
«Wir gehen zurzeit davon aus, dass die Jungs andere Stressbewältigungsmechanismen haben als Mädchen. Sie kiffen mehr, nehmen grundsätzlich mehr Drogen zu sich. Sie gamen öfter, was ein anderer Mechanismus ist, als sich Social Media auszusetzen», sagt Bilke-Hentsch. Was auffällt: Buben reden untereinander immer noch weniger über die eigene Befindlichkeit. «Die Schweizer Gesellschaft für Adoleszentenmedizin hat vor ein, zwei Jahren das Thema Jungengesundheit in den Vordergrund gestellt. Eben gerade weil sie weniger auffällig werden, was eigentlich gar nicht sein kann», sagt Bilke-Hentsch. «Ich befürchte, dass da viel sozialer Rückzug stattfindet. Das wird man alles noch weiter untersuchen müssen.» Nur: Dafür fehlen die Zeit und die Expert:innen. Aktuell sucht aufgrund der hohen Inanspruchnahme nämlich niemand aktiv nach männlichen Patienten. «Wir haben bei uns eine sehr lange Warteliste für einen ambulanten Therapieplatz», sagt Bilke-Hentsch. Es gibt Kliniken in der Schweiz, bei denen die Kinder und Jugendlichen drei, sechs, acht Monate lang auf einen stationären Platz warten. Beratungen zu Suizidgedanken sind bei Pro Juventute auf einem Rekordhoch. 166 Mal boten die Beraterinnen und Berater im Jahr 2023 eine Blaulichtorganisation auf, weil eine Fremd- oder Selbstgefährdung bestand.
Bilke-Hentsch sieht in erster Linie ein Problem der Dringlichkeit. Je früher eine sich anbahnende Krise oder eine psychische Erkrankung bemerkt wird, desto grösser sind die Heilungschancen. «Wir wissen, dass es ein bestimmtes Zeitfenster gibt, in dem eine Erkankung gut behandelbar ist. Danach ist die Krankheit in einer weiteren Phase und es wird schwieriger. Im Psychischen stellt sich immer die Frage, wann kippt das System so, dass es der betroffene Mensch nicht mehr selber managen kann. Wenn zum Beispiel das Fach Mathe wichtig ist für ein Kind und dann der nette Lehrer wechselt, kann das für das eh schon belastete Kind sein System zum Kippen bringen.» Dieses Früherkennen von Risikokonstellationen sei die Hauptsache. Hier fordern Pro Juventute und Bilke-Hentsch klar mehr Geld von den Kantonen zur Schulung von Lehrer:innen, Trainerpersonen etc. Wie erkenne ich früh genug eine problematische Verhaltensweise? Ist das eine vorübergehende Phase, die jede:r Jugendliche in der Pubertät durchmacht? Ist es der Anfang einer ernsten Erkrankung, zum Beispiel einer Zwangsstörung? Oder eine Konstellation von verschiedenen Risikofaktoren, die erfordert, dass man mit den Eltern reden und die äusseren Rahmenbedingungen verändern muss? Die Ambulatorien und die niedergelassenen Therapeut:innen müssen bereit und gut genug aufgestellt sein, diese Fälle schnell zu sehen, fordert der Chefarzt. Zudem brauche es eine Änderung der Tarifsysteme: «Unsere Tarifsysteme sind für Erwachsene gemacht und nicht für Kinder», sagt er. Bei Kindern seien schnell mal zehn bis fünfzehn Personen involviert. Das bedeutet viel mehr Zeitaufwand. «Im Grunde braucht man ein Tarifsystem, das auf Schweregrad und Schnelligkeit der Intervention beruht.»

Und was können Eltern, Grosseltern, Tanten und Göttis machen? «Gerade Grosseltern können in diesem Zusammenhang eine wichtige Beobachter:innenrolle einnehmen. Da sie die Kinder und Jugendlichen nicht täglich sehen, fällt ihnen eher auf, wenn sich ein Kind, eine Jugendliche verändert. Und falls sie etwas wahrnehmen, dürfen sie das Enkelkind auch darauf ansprechen. «Die meisten Kinder und Jugendlichen sind froh, wenn man sie mit ehrlichem Interesse anspricht, und reagieren nicht abwehrend, sondern dankbar», sagt Bilke-Hentsch. In dieser Beobachter:innenrolle könne man sich fragen, ob das Verhalten des Kindes alterstypisch sei oder aber sehr speziell und besorgniserregend. Weil das Kind zum Beispiel mental nicht mehr flexibel ist, weil es nicht mehr ablenkbar ist, weil es bei einem Thema hängen bleibt, weil Ängste grösser werden statt kleiner. Kinder und Jugendliche spricht man übrigens am besten nebenbei an, beim Spazieren, Velofahren, vor dem Fernseher …
Meistens darf man aber auch davon ausgehen, dass das Enkelkind weiterhin resilient und widerstandsfähig ist. Denn das trifft laut der Pro-Juventute-Studie auf 88 Prozent zu. Man darf seine normalen Entwicklungsziele – Schule, Ausbildung, Übertritt in die weiterführende Schule, Berufsfindung, aber auch romantische Geschichten, Sport und alles Mögliche – so gut es geht fördern und geschehen lassen. Man darf sich freuen, wenn das Kind auch mal über die Stränge schlägt. Dabei soll man aber über Ängste und Sorgen aktiv mit ihm im Gespräch bleiben, bei schwierigen Themen regelmässig prüfen, ob sich etwas Neues entwickelt oder ob sich eine schon vorher bestehende Problematik verschärft. Als Grosseltern darf man aber auch mal sagen: «Heute reden wir nicht über die Schule, heute lassen wir das Handy mal weg. Heute backen, basteln, wandern oder spielen wir etwas zusammen.» Das findet der schon etwas grössere Junge oder die cool wirkende 13-Jährige zuerst vielleicht blöd, wird aber schnell merken, wie viel Spass und tiefe Freude das gemeinsam machen kann. •

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