Julia Buchmann spielt im Schweizer Film «Friedas Fall» ihre erste Hauptrolle. Ein Gespräch über Gleichberechtigung, die heutige Generation junger Frauen und ihre Grosseltern.
Geraldine Capaul (Interview)
Julia Buchmann, bevor wir loslegen: Ihr Kettenanhänger ist mir sofort aufgefallen. Er ist sehr schön.
So lustig. Ich habe ihn nämlich von meiner Grossmutter! Sie brachte ihn von einer Reise in Mexiko mit. Es ist ein Schutzgott. Er ist mein absoluter Glücksbringer. Ich trag ihn immer, über dem Herzen. Und wenn ich die Kette mal nicht anziehen kann, habe ich den Anhänger sonst bei mir. Bei der Premiere zu «Friedas Fall» war er in meiner Handtasche.
Stammen Sie aus einer Schauspielerfamilie?
Nicht wirklich. Aber dank meiner Grossmutter mütterlicherseits wurde mir eine Affinität fürs Schauspiel mitgegeben. Sie arbeitete am Theater St. Gallen, als Garderobiere und als Statistin. Sie hat meine Mutter in ihrer Jugend dafür begeistert. Und mich dann auch. Als Sechsjährige durfte ich bei den St. Galler Festspielen mitmachen, die auf dem Klosterhof aufgeführt wurden. Genau auf diesem Klosterhof wurden Szenen aus «Friedas Fall» gedreht. Dieser Bogen zurück zu meiner Grossmutter ist mir wichtig.
Der Film beruht auf wahren Begebenheiten. Frieda wurde 1904 nach einer Vergewaltigung schwanger. Sie gab ihr Kind zuerst in ein Heim, musste es dann aber zu sich nehmen. In ihrer Not brachte sie das Kleinkind um. Der folgende Prozess sorgte für grosse Aufregung, es gab Frauenproteste und das Urteil hat die Gesetzeslage verändert. Die erste Verurteilung zum Tod hat Frieda nicht akzeptiert und es gelang ihr, dass das Urteil lebenslänglich lautete. War Frieda eine frühe Feministin?
Ihr Kampf zeigt, dass Frauen, egal ob vor 100 oder 200 Jahren oder heute, eine Stimme haben, die sie benutzen können. Frieda hatte viele Träume. Sie hat hart gearbeitet, um das Heim zu finanzieren. Niemand hat sie unterstützt. Sie stand ganz am Rand der Gesellschaft. Dazu kamen Schuld- und Schamgefühle. Frieda hat sich vom Opfer zur Täterin, zur Kämpferin entwickelt.
Frieda hat ihr Kind getötet. Wie haben Sie sich dieser Figur genähert?
Ich habe die Fakten studiert, die Originalschriften. Der Fall ist aussergewöhnlich gut dokumentiert. Auch von Frieda selber. Dieses Gerüst habe ich mit Leben gefüllt. Regisseurin Maria Brendle war sehr inspirierend, voller Vertrauen und bestärkend – ein Geschenk! Wir haben viel zusammen gesprochen, das hat geholfen, die emotional anspruchsvollen Szenen gut zu meistern. Ganz wichtig war mir, dass ich Frieda nicht moralisch infrage stelle und sie gleichzeitig nicht als Opfer darstelle. Frieda war auch Täterin, und als solche musste sie die Verantwortung tragen.
Sie sind 29 Jahre alt. Wurden Sie durch den Film für feministische Themen sensibilisiert?
Ich bin in einer Generation aufgewachsen, die sich mit den Themen Gleichberechtigung und Feminismus auseinandersetzt. Es gibt bis heute Situationen, in denen ich als junge Frau mit zwei Männern dastehe und sie überhören mich einfach. Deshalb will ich, muss ich, wachsam sein. Aber natürlich: Nicht alles geschieht nur deshalb, weil ich eine Frau bin. Darf ich noch etwas zu meiner Grossmutter sagen?
Ja, unbedingt!
Meine Grossmutter ist ursprünglich Deutsche, sie kam in die Schweiz, hat geheiratet und zwei Töchter bekommen. In den 60er-Jahren trennte sie sich von meinem Grossvater.
Eher unüblich für diese Zeit.
Genau. Ich finde diese Geschichte auch im Zusammenhang mit dem Film spannend. Es geht viel um die Gesellschaft und die Stellung der Frau in der Gesellschaft. Meine Mutter war das einzige Scheidungskind in der Klasse und diesen Stempel spürte sie. Als geschiedene Frau fand meine Grossmutter kaum eine Wohnung, geschweige denn einen neuen Partner. Es gab keine Fallnetze, wie zum Beispiel Betreuungsmöglichkeiten. Es ist spannend, wie sich die Situation seit Frieda verändert hat. Frieda hatte ein illegitimes Kind, das durch einen Übergriff entstanden war. Der Erzeuger des Kindes wurde als verheirateter Mann von Gesetzes wegen nicht belangt. 120 Jahre sind keine lange Zeit – und doch hat sich viel getan.
Und dann wieder auch nicht …
Das ist so. Diskurse wie «Nein heisst nein» zeigen das eindrücklich. Auch bei Übergriffen geht es heute noch stark um Scham. Erzählst du deinem Umfeld oder der Polizei von einem sexuellen Übergriff, wirst du plötzlich anders angeschaut. Die Opfer brauchen viel Mut, um sich all den Fragen, den Beurteilungen zu stellen. Das beschäftigt mich. Wie können wir als Gesellschaft ein anderes Netz bauen, das einem hält, statt dass man sich verteidigen und einem schrecklichen Prozedere stellen muss? In meinem Freundinnenkreis telefonieren wir miteinander, wenn eine von uns nachts allein nach Hause laufen muss. Und bei jeder Verabschiedung sagen wir: Schreib, wenn du zu Hause bist. Wenn nicht geschrieben wird, rufen wir an. Als Frau hast du den Schlüssel in der Hand oder täuschst einen Anruf vor, wenn dir jemand begegnet, der dir nicht geheuer ist. Ich habe das total verinnerlicht. Unglaublich, dass wir uns in gewissen Situationen so viel schwächer fühlen, nur durch unser Geschlecht.
Wie wurden Sie zu Hause als Mädchen geprägt?
Ich hatte nie das Gefühl, dass ich weniger darf, weil ich ein Mädchen bin. Im Unterschied zu meiner Grossmutter. Sie wollte Medizin studieren. Aber als Tochter durfte sie das nicht. Zum Glück hat sich das geändert, in den Familien, aber auch in der Gesellschaft. Man muss aber immer noch genau hinschauen. Denn das Ziel ist, dass wir gar nicht mehr über Gleichberechtigung und korrekten Umgang reden müssen, weil es einfach klar ist. So weit sind wir tatsächlich noch nicht.
Bei der Premiere am Zurich Film Festival war Ihre Familie anwesend. Wie war das für Sie?
Wunderschön und aufregend. Sie kennt diese Filmwelt nicht und sie hat es genossen. Eine der berührendsten Begegnungen war die mit meinem grossen Bruder. Er hat mich nach dem Film umarmt, konnte kaum etwas sagen und das hat so viel gesagt. Das bedeutet mir viel. Apropos Familie: Ich habe noch eine spannende Story zu meinen Grosseltern.
Erzählen Sie.
Mein Vater ist auch ein illegitimes Kind. Meine Grosseltern lebten in Schachen, einem Weiler bei Herisau. Meine Grossmutter wurde 1947 unverheiratet schwanger. Sie ging nach Zürich zu Verwandten. Da hat sie meinen Vater zur Welt gebracht. Danach haben sie und mein Grossvater geheiratet. Er war Feinmechaniker, wie mein Vater später auch, und hat sich nach der Heirat nach Portugal versetzen lassen. Mein Vater war ein Säugling, als meine Grosseltern mit ihm nach Portugal auswanderten. Jahre später sind sie mit mittlerweile zwei Kindern zurückgekommen. Das war ein cleverer Schachzug, denn danach konnte niemand mehr genau sagen, ob jetzt der Bub dreieinhalb oder vier Jahre alt ist und also vor der Ehe gezeugt wurde.
Was bedeutet Ihnen diese Parallele?
Sie berührt mich. Sowohl meine Familiengeschichte als auch der Film spielen in der Region St. Gallen. Bei meinen Grosseltern hat sich mein Grossvater zum Glück bekannt und meine Grossmutter geheiratet. Es ist eine Bereicherung, dass ich durch diesen Film nochmals einen neuen Blick auf meine Familiengeschichte erhalten habe. •
Gesellschaftsdrama
Es ist ein Fall, der bis heute im Jusstudium behandelt wird und eindrücklich verfilmt am diesjährigen Zurich Film Festival Premiere feierte: 1904 steht in St. Gallen die 25-jährige Näherin Frieda vor Gericht. Ihr wird vorgeworfen, ihr uneheliches Kind getötet zu haben. Im spektakulären Gerichtsprozess gehts auch um die Frage, wie viel Opfer in der Täterin steckt. Darüber hinaus werden Anwälte, Presse und Zivilgesellschaft mobilisiert, die sich darüber streiten, welche Rechte einer Frau überhaupt zustehen. In der Hauptrolle überzeugt Julia Buchmann aus Herisau (AR). Die 29-Jährige hat die Schauspielschule in Deutschland besucht, wo sie die letzten zehn Jahre gelebt und an verschiedenen Theatern gearbeitet hat. Erste Filmrollen hatte sie unter anderem im «Tatort». Sie wohnt in Basel und Berlin.
Friedas Fall
Regie: Maria Brendle, CH 2024.
Ab 23. Januar im Kino.
Trailer