« Wir ­müssen nach vorne schauen »

Der Trendforscher Jakub ­Samochowiec im Interview über Wege aus der Krise. Und darüber, wie wir unsere Enkel in dieser schwierigen Zeit hoffnungsvoll stimmen können.

Von Geraldine Capaul (Interview)

Jakub Samochowiec, wir stecken in einer Krisenzeit. Warum sollten wir trotzdem optimistisch bleiben?
Ich kann Gründe für Optimismus nennen. Ob diese oder die Gründe für Pessimismus überwiegen, muss jede:r für sich selber entscheiden.

Fangen wir bei den Gründen für Optimismus an.
Betrachten wir ein paar globale Daten aus der menschlichen Entwicklung. In den letzten Jahrzehnten haben wir im Bereich extreme Armut, Geburten­sterblichkeit, Bildung für Frauen etc. durchs Band enorm grosse Fortschritte gemacht. In den meisten Ländern steigt etwa die Lebenserwartung. Es ist zwar so, dass diese Entwicklung durch Covid ins Stocken geraten ist. Als Optimist:in könnte man davon ausgehen, dass das nur ein kurzes Stocken des Trends ist und nicht dessen Umkehr.

Warum?
Weil – und das ist ein weiterer Grund für Optimismus – der Mensch einfach wahnsinnig anpassungsfähig ist und durchaus mit widrigen Umständen umgehen kann. Wir sehen weltweit, wie der Mensch an unterschiedlichsten Orten leben und auch in schwierigen Umständen gedeihen kann.

Also müssen wir uns keine Sorgen um unsere Enkel machen?
Doch, durchaus. Es ist sicher so, dass es auch viele negative Aspekte gibt. Energiekrise, Pandemie, Klimakrise, Krieg. Auch wenn nur die Klimakrise langfristig bedeutsam bleiben sollte und die anderen Krisen vorübergehend sind, glaube ich schon, dass man sich Sorgen machen kann. Aber besser, als sich Sorgen zu machen, ist, sich dafür einzusetzen, dass die Zukunft besser wird.

Was halten Sie von den Schuldzuweisungen der jüngeren an die ältere Generation?
Schuldzuweisungen sind nicht besonders hilfreich, weil wir nach vorne schauen müssen. Wenn man jemandem etwas vorwerfen will, dann höchstens, dass er jetzt nichts macht. Und nicht, dass er in der Vergangenheit etwas nicht gut gemacht hätte.

Was können wir denn für eine bessere Zukunft konkret tun?
Man kann sich zum Beispiel politisch einsetzen. Oder man kann sein Verhalten ändern, Möglichkeiten schaffen, um ökologischer zu leben. Wenn man den Enkeln nicht einfach nur sagt, es kommt schon alles gut, sondern ihnen zeigt, dass man sich engagiert, gibt ihnen das Hoffnung und zeigt: Wir sorgen uns darum. Das ist sicher besser als eine Nach-mir-die Sintflut-Einstellung, wir jetten jetzt mal kurz in die Karibik, das haben wir uns verdient. Wir sollten den Jungen zeigen, dass wir ihre Sorgen ernst nehmen. Es ist doch fast beschämend, dass 15-Jährige fürs Klima auf die Strasse gehen müssen.

Jetzt reden wir vom Klimawandel.
Ja, der ist im Moment auch sehr akut. Wir hatten viele Hitzetage im Sommer in der Schweiz, Wirbelstürme in Florida, Monstermonsunregen in Pakistan. Der zunehmende Klimawandel ist eine der sichersten Zukunftsprognosen, die man machen kann. Wie sich die Gesellschaft in Zukunft verändert, ist schwierig zu sagen, aber dass das Wetter immer extremer wird, ist doch sehr, sehr wahrscheinlich.

Wir sollten unsere Gewohnheiten ändern. Weniger Fleisch essen, weniger fliegen. Bleiben diese Forderungen oder Ansprüche an uns selbst auch dann bestehen, wenn die Klimakrise mal kein grosses mediales Thema mehr ist?
Ich glaube nicht, dass die Klimakrise mal nicht mehr Thema sein wird. Weil uns wiederkehrende Extremwettersituationen wie Überschwemmungen, Hitzewellen und Dürren immer wieder daran erinnern werden.

Wie sehr haben wir unsere Gewohnheiten bereits geändert?
Seit 2015 ist der Fleischkonsum stabil geblieben. Wir haben im Moment sicher weniger Flugverkehr, aber das hat mit Covid zu tun. Vor der Pandemie hat der Flugbetrieb stetig zugenommen. Wir dürfen von den Menschen keine Erleuchtung, kein Erwachen erwarten.

Wie meinen Sie das?
Wir Menschen sind Produkte unserer Lebensumstände. Anstatt die Verantwortung einzig dem Individuum zu überlassen, sollten wir auch die Rahmenbedingungen – die Infrastruktur – so gestalten, dass nachhaltiges Verhalten möglich ist. Das könnte bedeuten, dass wir sichere Velowege bauen, die mehr sind, als nur aufgemalte gelbe Linien, oder europaweit attraktivere Zugverbindungen anbieten. Im Jahr 2017 wurden weltweit 6,5% der globalen BIPs für die Subventionierung von fossilen Energien ausgegeben! In der Schweiz wird Fleischwerbung staatlich subventioniert. Den individuellen CO²-Fussabdruck zu berechnen, ist ja nett, doch kann das von strukturellen Faktoren ablenken, die viel bedeutsamer sind.

Ist die Welt heute schlechter als früher?
Das kommt drauf an, wie man misst. Es gibt global betrachtet wie gesagt durchaus Punkte, die besser geworden sind. Aber es ist schon so, dass es auch Grund zu Pessimismus gibt. Junge Menschen sagen, dass sie sich glücklich schätzen können, wenn es ihnen mal so gut gehen wird wie ihren Eltern. Auch in der Schweiz. Das ist seit dem Zweiten Weltkrieg ein historisches Unikum. Der Glaube an «immer mehr», «immer besser», an ein ewiges Wachstum, scheint ins Wanken zu geraten.

Der Jugend fehlt die Sorglosigkeit.
Ja, definitiv. Der holländische Historiker Rutger Bregman bringt es gut auf den Punkt: «Das Problem unserer Zeit ist nicht, dass es uns nicht gut ginge oder dass es uns in Zukunft schlechter gehen könnte. Das Problem unserer Zeit ist, dass wir uns nichts Besseres vorstellen können.» Das heisst: Es gibt eigentlich nur das Jetzt und die Vergangenheit, mit der man sich messen kann. Es sollten wieder mutige Ziele formuliert werden, wie in den Sechzigern, als die USA sagte, Ende dieses Jahrzehnts werden wir auf dem Mond stehen. Wir könnten zum Beispiel sagen: Im Jahr soundso werden wir klimaneutral sein, ohne dass wir das Gefühl haben, uns einschränken zu müssen. Es fehlen positive Visionen für die Zukunft. Es gibt nur die Angst davor, etwas zu verlieren. Auch in der Politik ist es so, dass meistens stark verwaltet wird, aber mutige Ziele fast nicht existieren. Wussten Sie, dass in den 80er-Jahren die Schweiz das erste Land in Europa war, das die Katalysatorpflicht eingeführt hat?

Nein, das wusste ich nicht. Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen.
Ja, oder? Dass man damals sagte, das machen wir jetzt einfach, anstatt vor Aktionismus oder Alleingängen zu warnen. Das hängt mit dieser Zukunftsvorstellung zusammen, die heutzutage scheinbar nur auf der individuellen Ebene existiert. Also im Sinne von: «Werde ich noch einen Job haben?» Aber nicht auf einer kollektiven Ebene, im Sinne von: «Wie wollen wir den Arbeitsmarkt der Zukunft gestalten?» Gemeinsam können wir etwas ändern.

Kann man denn als Einzelner etwas dafür unternehmen, dass es uns als Gesellschaft besser geht?
Als Individuum allein kann man relativ wenig verändern. Ausser man ist Elon Musk und hat das nötige Geld. Grundsätzlich muss man sich mit anderen zusammenschliessen. Einerseits in der Politik, mit mutigen Schritten, andererseits in kleinen Projekten. Grosseltern, die mit ihren Nachbarn und den Enkeln einen Garten anlegen und sich teilweise davon ernähren. Oder man probiert im Kleinen zukunftsfähige Lebensformen aus und schaut, wie es funktioniert. Viele Sachen, die eben Zukunftsvisionen sind, werden schnell als naiv abgetan. Das sei zwar eine schöne Vorstellung, aber der Mensch sei halt mal nicht so. Das Argument haben wir auch gehört, als man früher nach dem Homeoffice verlangte: Eine schöne Idee, aber zu Hause werden die Leute eh nicht arbeiten. Dann wurden wir dazu gezwungen und haben gesehen: Ah, es geht ja doch. Da gibt es noch andere Themen, die in diese Richtung gehen. Etwa das Grundeinkommen. Vielleicht ist es naiv, vielleicht ist es nicht naiv. Es gibt nichts anderes, als es auszuprobieren. Wenn Experimente erfolgreich sind, werden andere folgen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Wandel in der Drogenpolitik in Zürich in den 90er-Jahren.

Als man sich entschied, Drogen kontrolliert und legal abzugeben.
Das war ein Experiment, das weltweit für Aufsehen sorgte, weil man gemerkt hat, dass es funktioniert. Heute werden weniger solche mutige Schritte gewagt.

Wir haben über eine Erhöhung des Rentenalters abgestimmt. Wie lange werden wir in 30 Jahren arbeiten?
Die Erhöhung des Rentenalters wird ja als etwas Unweigerliches dargestellt, als eine Naturkraft, die einfach stattfinden wird. Dabei könnte man auch sie infrage stellen. Vor mehr als hundert Jahren hat der Ökonom John Maynard Keynes gesagt, dass Menschen in Zukunft nur noch 15 Stunden pro Woche arbeiten werden. Weil die Effizienz zunimmt, wir weniger zu arbeiten haben. Tatsächlich arbeiten die Leute immer weniger oder Teilzeit. Es ist ja auch durchaus erstrebenswert, dass man weniger arbeiten muss. Das heisst nicht, dass man den Rest der Zeit untätig ist. Viele der Arbeiten, die wir machen, werden nicht vergütet und sind dennoch enorm wertvoll. Arbeit, die nicht finanziell vergütet wird, sollte mehr wertgeschätzt werden. Es gibt weiss Gott genug Arbeit, die finanziell vergütet wird, die wirklich unnötig ist.

Welche Arbeitsformen wird es vermehrt geben?
Denkbar wäre, dass es in Zukunft mehr Projektarbeit gibt und weniger Festanstellungen. Dabei wird es ein Dilemma geben zwischen einerseits mehr Freiheiten dank der Technologie, aber andererseits mehr Kontrolle – auch dank der Technologie. Wenn etwa im Homeoffice die Tastenanschläge gezählt werden. Am Ende ist es eine Frage des Vertrauens, das man in die Menschen setzt, und des Menschenbilds, das man grundsätzlich hat. Ich bin überzeugt, dass Kontrolle nicht zielführend ist. Weil die Leute dann irgendwann anfangen, nur den kontrollierten Messwert zu optimieren und nicht mehr grundsätzlich gut arbeiten.

Vom Beruflichen zum Familiären: Wird die Bedeutung der Familie zunehmen?
Auch hier kann ich Gründe nennen, die für das eine oder andere sprechen. Bei einer Individualisierung in einer Gesellschaft sind auch die familiären Banden eher rückläufig. Das ist eine Entwicklung, die man in den letzten Jahrzehnten beobachtet hat. Zudem haben wir viel mehr Optionen und dadurch grössere Mühe, uns auf etwas festzulegen oder Verbindlichkeiten an den Tag zu legen.

Welche Gründe weisen in die andere Richtung?
Umfragen, die über mehrere Jahre bei jungen Menschen in verschiedenen Ländern durchgeführt wurden, ergaben, dass weniger Jugendliche betrunken gewesen waren, weniger Jugendliche Sex haben. Und dass sie öfter Gespräche mit ihren Vätern führen. Eltern sind heutzutage tatsächlich engagierter. Das sehe ich auch bei mir persönlich. Ich habe eine kleine Tochter. Kürzlich war ich mit zwei Freunden und vier kleinen Kindern in den Ferien – ohne die Mütter. Von der älteren Generation höre ich oft, dass es so etwas bei ihnen nie gegeben hat. Die Familie hat also durchaus einen Wandel erfahren, vor allem auch die Rolle des Vaters.

Sie haben eine Studie zum Thema Nachbarschaft durchgeführt. Ich lebe in einer Genossenschaft, in der untereinander ein nahes Verhältnis gepflegt wird. Entspricht das der Norm?
Die meisten Schweizer haben eher ein distanziertes Verhältnis zu ihren Nachbarn: Sie helfen sich durchaus, wenn es notwendig ist. Aber danach ist dann auch wieder gut. Ganz enge Nachbarschaften pflegen vielleicht 10 bis 20 Prozent. Aber ich würde die Nachbarschaft nicht als Familienersatz anschauen. Hier greift dieses Argument mit der Infrastruktur übrigens auch: Wenn man architektonisch Möglichkeiten schafft, bei denen sich Menschen begegnen können, wird schneller Vertrauen aufgebaut. Beispielsweise in meinem Fall: Wir wohnen an einem Kehrplatz, es gibt also praktisch keinen Verkehr. Dieser Platz ist in Kinderhand. Er ist voller Kreidemalereien, die Kinder fahren mit Trottis. Meine Tochter ist zwar erst anderthalb, aber die Kinder klingeln bereits an der Türe und fragen, ob sie zum Spielen rauskommt. Da entstehen Banden, die an einer befahrenen Strasse kaum möglich wären.

Welche Superpower würden Sie sich für Ihre Tochter wünschen, damit sie für die Zukunft gerüstet ist?
Die Fähigkeit, selbstständige Entscheidungen treffen zu können. In einer Zeit, in der es immer mehr Optionen gibt und in der sich immer mehr verändert, ist das sehr wichtig. Womit will ich mich beschäftigen? Mit welchem Thema auseinandersetzen? Dazu kommen die neuen technischen Mittel. Mittlerweile können sogenannte künstliche Intelligenzen beispielsweise Bilder malen basierend auf Text-Instruktionen! Schüler:innen werden Aufsätze abgeben, die eigentlich von einer Maschine geschrieben wurden. Entscheidend ist nicht die Fähigkeit zu malen, sondern kreative Ideen zu haben, was gemalt werden soll. Das heisst, wir müssen junge Menschen befähigen, selber Entscheidungen zu treffen und Ziele zu formulieren.

Sind diese vielen Möglichkeiten Fluch oder Segen?
Sie können einen sicher auch lähmen. Von was man alles werden oder tun könnte bis hin zu wer man eigentlich sein will sind die Möglichkeiten grenzenlos. Darum wird es immer wichtiger, dass man Entscheidungen treffen kann. Sei es allein, sei es gemeinsam. Genauso wichtig ist, dass man etwas ausprobiert.

Wie bringen wir den Kindern diese Superpower bei?
Wir müssen den Kindern und Jugendlichen mehr Freiräume erlauben. Nicht ihre ganze Freizeit durchstrukturieren und sie nicht mit dem Auto in die Schule fahren. Diese Fähigkeit, selbstständig Entscheidungen zu treffen, hilft auch bei den Zukunftsvisionen, über die wir gesprochen haben. Man muss Ideen haben. Wo will man hin? Was wäre spannend? Wofür brenne ich? Das ist in einer sich schnell wandelnden Welt relevant. •

Foto: GDI Gottlieb Duttweiler Institute, Fotografin Sandra Blaser

Zur Person:

Jakub Samochowiec (44) ist Senior Researcher und Speaker am Gottlieb Duttweiler Institut. Der promovierte Sozialpsychologe analysiert gesellschaftliche, wirtschaftliche und technologische Veränderungen mit den Schwerpunkten Entscheidung, Alter, Medien und Konsum. Daneben interessiert er sich für Videoproduktionen, engagiert sich als DJ und Musiker. gdi.ch