Wie geht es unseren Kindern und Jugendlichen psychisch? Chefarzt Oliver Bilke-Hentsch über die Bedeutung der Grosseltern und die Auswirkungen der Pandemie. Und darüber, wie wir unseren Enkelkindern helfen können.
Geraldine Capaul (Interview)
Herr Bilke-Hentsch, in welchen Situationen haben Sie als Kinder- und Jugendpsychiater mit Grosseltern zu tun?
Oliver Bilke-Hentsch: Wenn wir Kinder und Jugendliche aufnehmen, die bei ihren Grosseltern wohnen, obwohl deren Eltern noch leben. Hier stellt sich auch die Frage des Sorgerechts. Grosseltern haben nicht automatisch das Sorgerecht für ihre Enkel. Wenn diese bei ihnen in Pflege sind, gelten die gleichen Rechte und Pflichten wie für alle Pflegeeltern. Mit dem Einverständnis der Eltern sind die Grosseltern jedoch die ersten Ansprechpartner.
In einem früheren Gespräch sagten Sie, die Grosseltern würden im therapeutischen Kontext eher weniger oft miteinbezogen.
In einer Familientherapie beziehen wir die Grosseltern nur in besonderen Fällen mit ein; wenn beispielsweise mögliche mehrgenerationale Einflüsse auf die Entwicklung einer Anorexie bei Jugendlichen hindeuten. Der Mehrgenerationen-Ansatz in der Familientherapie stammt aus den 80er-Jahren.
Vielleicht wollen auch gar nicht alle Grosseltern miteinbezogen werden?
Das ist so und es hängt davon ab, wie belastbar die Grosseltern sind. Manche Grosseltern möchten oder können nicht alles übernehmen. Sie sagen vielleicht: «Bei ein, zwei Sachen können wir unseren Enkel unterstützen. Ansonsten wird uns das zu viel. Wir können nichts bestimmen, aber wir können beratend sein, Denkanstösse geben, unterstützen, wo es uns möglich ist.»
In diesem Fall bleiben die Grosseltern neutraler Rückzugsort für die Enkel.
Genau, das erleben wir vor allem bei Scheidungsgutachten. Wir begutachten Scheidungskonstellationen, bei welchen sich die Eltern in einer hochstrittigen Situation befinden und das Kind mittendrin steckt. Die Grosseltern können das Kind unterstützen, indem sie ihm einen konfliktneutralen Rahmen und Rückzugsort bieten.
Aber Sie sind überzeugt, dass Grosseltern noch andere wichtige Aufgaben übernehmen können, wenn es um die psychische Gesundheit der Enkel geht.
Grosseltern, welche ihre Enkel gut kennen und gemeinsam viel unternehmen, haben eine wichtige Beobachterfunktion. Sie können sich fragen: Wie kennen wir unseren Enkel, unsere Enkelin bisher? Wie hat er oder sie sich entwickelt? Hat sich unser Enkelkind verändert, gibt es Probleme, die es belasten?
Können Sie das anhand eines Beispiels erklären?
Das 8-jährige Mädchen war schon immer eine grosse Träumerin, aber stets zufrieden. Plötzlich nehmen die Grosseltern eine Veränderung wahr. Das Mädchen wirkt abwesend, sehr angespannt, ernst oder traurig. In diesem Fall können die Grosseltern das Kind direkt ansprechen. Die meisten Kinder und Jugendlichen sind froh, wenn man sie mit ehrlichem Interesse anspricht, und reagieren nicht abwehrend, sondern dankbar. In dieser Beobachterrolle kann man sich fragen, ob diese Entwicklung alterstypisch ist, oder das Verhalten des Kindes sehr speziell und besorgniserregend ist. Weil das Kind zum Beispiel mental nicht mehr flexibel ist, weil es nicht mehr ablenkbar ist, weil es bei einem Thema hängenbleibt, weil Ängste grösser werden statt kleiner.
Warum sollen das gerade die Grosseltern erkennen und nicht die Eltern?
Die Eltern, welche täglich mit ihrem Kind zusammenleben, nehmen manchmal bestimmte kleine Veränderungen nicht so gut wahr wie Aussenstehende. Es sind auch die Grosseltern, die sagen: «Bist du aber gross geworden.» Wenn beispielsweise Eltern den Wachstumsverlauf ihres Kindes nicht mit einem Strich und Datum an der Türleiste notieren, können sie nicht wirklich sagen, ob ihr Kind in den letzten beiden Monaten grösser geworden ist. Insofern haben Grosseltern eine wichtige Funktion, und eben nicht nur als willkommene Babysitter. Sie können in ihrer Rolle als Grosseltern auch Hinweise auf ein verändertes Verhalten geben: «Irgendwas läuft komisch.»
Wie geben sie die Beobachtungen an die Eltern weiter?
Indem sie ihre Beobachtung wertefrei den Eltern erzählen: Die Enkelin malt beispielsweise immer wieder das Gleiche, zum hundertsten Mal ein Krankenhausbett mit kleinen Viren darum herum. Als Grosi konnte ich sie nicht zu etwas anderem bewegen. Ich habe alles Mögliche versucht: «Mal doch mal was anderes, lass uns etwas spielen.» Die Eltern sagen darauf vielleicht: «Bei uns macht sie das nicht. Da ist sie immer fröhlich und freundlich und lustig.»
Warum lassen Kinder solche Ängste bei den Grosseltern raus, bei den Eltern aber nicht?
Wir sprechen hier von gesunden Kindern, die kleine Auffälligkeiten zeigen. Häufig wollen Kinder ihre Eltern schonen. Ein unbewusster Mechanismus. Das gesunde Kind spürt genau, womit es Mama und Papa richtig belastet. Es gibt auch Themen, welche Eltern meiden. Sie weichen aus oder ignorieren sie. Dies geschieht oft unbewusst und kommt in jeder Familie vor. Das Kind deponiert dann seine Gefühle bei den Grosseltern. Grosseltern können gemeinsam mit den Eltern überlegen, wie sie es dem Kind oder dem Jugendlichen erleichtern können, seine Gefühle, Ängste oder Sorgen zu äussern, aber auch in den Griff zu bekommen.
Woher sollen Grosseltern aber wissen, was noch normal ist und was nicht?
Wir erleben oft, dass Menschen technische Betriebsanleitungen oder juristische Texte genau gelesen haben, aber dass sie noch nie ein Sachbuch über Entwicklungspsychologie in die Hand genommen haben. Die kindliche Entwicklung ist gut erforscht und dokumentiert. Das ist unter anderem das grosse Verdienst des Kinderarztes Remo Largo. In seinen Büchern «Babyjahre» und «Kinderjahre» zeigt er die Bandbreite des «Normalen» auf. Es lohnt sich, Zeit in die Lektüre eines solchen Buches zu investieren.
Darf man den Grosseltern zumuten, ein solches Buch zu lesen?
Ja, aber natürlich müssen sie nicht. Kenntnisse können sowohl auf eigener Erfahrung wie auch auf der Erfahrung anderer beruhen. Und je mehr man sich mit vielen Kindern beschäftigt – früher in Grossfamilien –, desto mehr weiss man in etwa, wie Kinder sind. Wenn ich mich aber nur mit dem einen Enkel beschäftige und der ist der «Nabel der Welt», wird das schwieriger und ich muss mir andere Informationsquellen beschaffen. Nehmen wir an, die Eltern haben beruflichen Stress und kommen weniger zum Lesen. Und nehmen wir an, die Grosseltern haben mehr Zeit. Dann könnten sie das den Eltern abnehmen und danach sagen: «Du, ich habe über dieses erneute Einnässen nach einer schweren Scheidung und Trennung gelesen. Das kommt bei 30 Prozent der Kinder vor und hört bei fast allen wieder von alleine auf.» So können Grosseltern ihre Beobachtungen auch besser begründen, sie haben sich kundig gemacht. Bei einer Geldanlage für sein Enkelkind erkundigt man sich schliesslich auch vorgängig.
Viele Grosseltern setzen vermutlich auf die Intuition.
Die funktioniert auch meistens. Aber sprechen wir in Zahlen: Von den rund 8 000 000 Schweizer Einwohnerinnen und Einwohnern sind zirka 2 000 000 Kinder und Jugendliche. In Prozentzahlen ausgedrückt klingt das bei psychischen Störung immer etwas harmlos: 3,8 Prozent der Minderjährigen haben beispielsweise eine krankhafte Abhängigkeit von sozialen Medien. Also 96,2 Prozent offenbar nicht. Nur wie viele sind 3,8 Prozent von 2 000 000? Das sind viele. Die minderjährigen Mediensüchtigen in der Schweiz würden eine ganze Stadt in der Grösse von Winterthur bevölkern. Man stelle sich diese Stadt vor, ausschliesslich bewohnt von medienabhängigen Minderjährigen.
Welche weiteren Vorteile bringt die Rolle der Grosseltern mit sich?
Grosseltern dürfen auch einmal mehr nachhaken. Denn das Enkelkind verlässt einen in der Regel wieder, es beendet die Beziehungsepisode für den Moment. Das Kind sagt zwar vielleicht auf dem Heimweg: «Heute war es bei Opa nicht so schön, er hat mich mit Fragen gelöchert. Hoffentlich ist es nächstes Mal besser.» Es kann ein Vorteil sein, wenn man sich weniger oft sieht. Eine zeitliche Distanz schafft Raum. Auch als Erwachsener bespricht man mit einer guten Freundin oder einem Freund, den man nur alle paar Wochen sieht, intimste Themen. Man unterhält sich gerade dort über gewisse Sorgen, welche man in der Familie nicht bespricht.
Wie sprechen wir die Kinder am besten an?
Kinder und Jugendliche mögen es, wenn man schwierige Themen nebenbei anspricht; während des Spielens, während des Fernsehens, im Auto. Mit dieser «tangentialen Kommunikation» ist es gut möglich, dass man nebenbei auch über wichtige Sachen sprechen kann. Deswegen sind die modernen Medien so unglücklich. Sie verhindern ein «Nebenbei», weil sie einen sehr hineinziehen.
Wie gehen die Grosseltern mit den ihnen anvertrauten Seelennöten der Enkel um?
Es ist gar nicht so selten, dass Kinder ihren Grosseltern etwas anvertrauen, was mit den Eltern nicht besprochen werden kann, in einem unbewussten Vertrauen darauf, dass die Grosseltern irgendwie einwirken. Es werden ihnen manchmal Dinge erzählt, die eigentlich an die Adresse der Eltern gehören. Aber das Kind wählt den Umweg. Die Frage ist: Muss die Grossmutter das, was die Enkelin ihr vorsichtig anvertraut hat, erstmal in der Zweierbeziehung behalten? Vielleicht zuerst einmal etwas ruhen lassen oder gar ein wenig beeinflussen? Oder kommt man zum Schluss, dass das nur im elterlichen Kernfamilienrahmen geklärt werden kann?
Wie finden das die Grosseltern heraus?
Indem sie sich damit und mit dem Kind auseinandersetzen und sagen: «Erklär mir das genauer. Ich muss es verstehen können, das ist etwas Schwieriges. Weshalb kannst du es mit deinen Eltern nicht besprechen? Solltest du das mit ihnen besprechen wollen, kann ich dir dabei helfen?» Und falls es in diese Richtung geht: «Das sollten deine Eltern wissen. Willst du ihnen das erzählen oder soll ich das lieber tun?»
So ein Schweigeversprechen kann belastend sein.
Das kann für Grosseltern extrem belastend sein und sich akzentuieren. Nehmen wir an, das Mädchen sagt: «Grosi, danke, dass du das mit diesem schlimmen Freund meiner Mama nicht verraten hast. Jetzt erzähle ich dir von meinem Kokainkonsum, ohne den ich meine Mathenote nicht halten kann. Aber die ist wichtig, weil ich Maschinenbau studieren will.» Nun hat das Grosi Kenntnis vom Missbrauch und vom Kokainkonsum. Als nächstes stellt sie die Frage nach der Finanzierung des Kokainkonsums … Solche Konstellationen finden übrigens nicht nur in sozialen Randgruppen statt. Manche Geheimnisse müssen schlicht ein Ende haben, zum Beispiel: Die Enkelin hatte sich wochenlang unsterblich in den Mathelehrer verliebt, aber die Schwärmerei ist jetzt vorüber. Das wird quasi verschlossen und ist emotional beendet. Das weiss die Grossmutter. Da haben Grosseltern üblicherweise ein gutes Gefühl dafür, ob es sich um eine einzelne Sache handelt oder ob das ein «Fass ohne Boden» wird.
Wenn es doch ein Fass ohne Boden wird?
Auf lange Sicht sorgt so etwas dafür, dass das Vertrauen zwischen Grosseltern und Eltern nicht mehr funktioniert. Das Kind hat aber vermutlich trotzdem sein Geheimnis verloren. Die Eltern sind verärgert, die Grosseltern sind enttäuscht und unglücklich. Neue Vertrauensbilder aufzubauen ist sicher schwieriger, als Vertrauen zu erhalten.
Welche Geheimnisse gehören sofort an die elterliche Adresse?
Konkrete Suizidäusserungen. Klare Straftaten. Hier wird die Polizei in irgendeiner Form involviert werden müssen, auch bei undurchschaubaren Drogensachen, bei sexuellen und anderen Übergriffen. Wenn das 14-jährige Mädchen der Oma anvertraut, dass ihr 18-jähriger «Freund» komische Sachen von ihm verlangt. Bei Dingen, welche die Integrität der Person stören.
Genau beobachten, Bücher lesen, Gespräche an der Schule. Besteht die Gefahr einer Pathologisierung?
Bei Amazon kann man 30 000 Lebensberatungsbücher bestellen. Normale emotionale Prozesse, die auch seit Jahrtausenden bestehen, werden eindeutig verkompliziert. Wir bekommen zum Beispiel häufig Medienanfragen zum Thema Maskentragen. Hier geht es um ganz normale psychologische Abläufe, die Masken jucken, sie «nerven», niemand hat Freude daran, es behindert vielleicht beim Rennen das Atmen. Aber dafür braucht man keinen Psychiater, dafür braucht es jemand, der Kinder kennt und ihnen etwas erklären kann. Das kann ein Pädagoge sein. Das können die Eltern sein. Und da ist in der Gesellschaft eine Tendenz zur Pathologisierung und vorgängig Psychologisierung vorhanden.
Jetzt kommt ein Aber, oder?
Genau. Wir sehen in der Klinik Patienten, die im Alter von zwei Jahren Logopädie hatten und mit drei Jahren Ergotherapie. Mit vier wurde über Medikation nachgedacht, mit fünf begann die Psychotherapie. Ohne das alles wäre der Patient vielleicht nicht zum 15-Jährigen geworden, der er heute ist. Da muss man sagen: Glücklicherweise haben wir dieses breite Angebot an möglichen Unterstützungs- und Behandlungsansätzen. Dies kann dazu führen, dass Eltern überbesorgt reagieren. Im ländlichen Raum käme man vermutlich nicht gleich auf die Idee, eine Psychotherapie für sein Kind zu verlangen, während im städtischen Umfeld diese Idee deutlich näherliegt.
Abgesehen von den Masken: Was macht Corona mit der Psyche unserer Kinder?
Durch die Ergebnisse der Kliniken, Ambulatorien und aus wissenschaftlichen Befragungen weiss man, dass Menschen, die Probleme hatten – Angsterkrankungen, Zwangserkrankungen, traumatische Störung, Depressionen, leichte Essstörungen –, sich an diese Langzeitbelastung erst sehr stark angepasst hatten und dann irgendwann nicht mehr konnten. Das kennen wir in der Kinder- und Jugendpsychiatrie seit vielen Jahren: Menschen, die eine Vorbelastung haben, halten weniger Stressfaktoren aus als die mental Gesunden. Das heisst, eine Patientin, die schon immer mit eingeschränktem Essverhalten auf Stress reagiert hat, die nicht in die Schule will, nicht rausgehen kann und so vielleicht auch mehr Zeit auf Social Media verbringt, beschäftigt sich noch stärker mit ihrem Essverhalten. Irgendwann kann das zu einer echten Anorexie führen.
Was hätte von den Behörden anders gemacht werden müssen?
Wir haben früh darauf hingewiesen, dass man dringend mehr diagnostisch und therapeutisch eingreifen muss. Dass von staatlicher Seite mehr Ressourcen gesprochen werden sollten. Früherkennung und Frühinterventionen sind begrenzt erfolgt. Letztlich konnte aber niemand die psychischen Folgen genau einschätzen.
Wie hat sich das zugespitzt?
Im Sommer 2020 hatte man das Gefühl, dass die schlimme Phase vorbei sei und alle zum fast normalen Alltag zurückkehrten. Doch mit der zweiten Welle von September 2020 bis März 2021 nahm die Belastung wieder stark zu. Für junge Leute blieben positive Unterstützungen weg, auch schiere Freude und Spass haben gefehlt. Die virtuellen Ablenkungsmöglichkeiten liefen sich tot, alle Netflixserien waren angeschaut und man hatte sich so lange durch die sozialen Vergleichsportale geklickt, bis man sich sozusagen hässlich, dick und dumm fühlte – gerade bei Mädchen ein grosses Problem. In den Monaten März, April und Mai 2021 waren alle Kinder- und Jugendpsychiatrischen Kliniken massiv überbelegt, das sind sie an einigen Orten immer noch. Ein Zeichen dafür, dass die Früherkennung durch Beratungsstellen, Schulen und andere nicht klinisch tätigen Stellen nicht mehr gegriffen hat. Diese fangen in der Regel vieles ab. Stationäre Behandlungen kommen nur zum Einsatz, wenn es wirklich nicht mehr anders geht, meistens bei den Themen Suizidalität, schwere Zwänge, Selbstverletzungen, Anorexie. Aber die Hauptsache ist eine Depressivität, die in eine Suizidalität übergeht. Dass die Suizidrate nicht steigt, sagt etwas über die Schwere der Krise aus.
Wie meinen Sie das?
In Kriegen und bei Naturkatastrophen sinken die Suizidraten. Zum Suizid braucht es eine Gesamtkonstellation, in der jemand diesen Schritt auch tun kann, und in schweren Krisen gelingt das nicht.
Weil die Krisen einen blockieren?
Ja. Insofern ist das in keiner Weise beruhigend, sondern eine bekannte Tatsache. Wir beschäftigen uns klinisch mit Suizidideen, die sich stark verselbstständigen. Ein Jugendlicher denkt beispielsweise dauernd: «Wenn das Wetter heute nicht besser wird, bring ich mich um.» Das wird irgendwann hochtrivial und zu häufig. Das heisst, der Gedanke an Suizid nimmt während Stunden viel Raum ein. Bis zur Frage: Tauchen wirkliche Pläne, tauchen Handlungen auf?
Sie sind also von den psychischen Auswirkungen der Pandemie nicht überrascht worden?
Nein. Die einzelnen Mechanismen, die bei einer solchen Pandemie eine Rolle spielen, wie Enttäuschung, Trauer, Angst, soziale Isolation, Traumatisierung, Verlust von Plänen, Ideen, Vorfreude, sind alle seit Jahrzehnten bekannt. Die Entwicklungsaufgaben, die Kinder und Jugendliche haben, ebenso. Und die psychischen Störungsbilder sind auch bekannt. Das heisst, man konnte zu Beginn der Pandemie relativ genau vorhersagen, was passieren würde, wenn die Situation in dieser unberechenbaren und auch ohnmächtig machenden Weise wellenartig voranginge. Diese Vorhersagen wurden von Experten gemacht und sie sind auch zu einem guten Teil eingetroffen.
Gab es etwas, das Sie trotzdem erstaunt hat?
Wir hatten auf der Station 90 Prozent Mädchen und 10 Prozent Jungs. Interessant ist das deshalb, da wir angenommen hatten, dass junge Männer und Buben durch die Einschränkungen eher aggressiver, destruktiver und chaotischer werden. Aber das sehen wir kaum auf den Stationen und auch eher wenig in den Ambulatorien.
Gibt’s Erklärungen dafür?
Eine mögliche Idee ist, dass junge Männer durch Video-Gaming ein Abarbeiten von Frustrationen, Aggressionen, Bewegung, Kampf in der virtuellen Welt erlebten. Wenn der Junge in einer Gruppe gamt, ein sozusagen entspannendes Shooting-Spiel spielt, das er gut kennt und kann, hat er subjektiv viele schöne Stunden. Das könnte besser sein als ein isoliertes Mädchen, das sich auf Social-Media-Plattformen mit schönen, lustigen Mädchen aus Florida vergleicht, dieses Idealbild jedoch niemals erreichen wird. Vielleicht ist es aber auch so, dass junge Frauen tatsächlich differenzierter sind, selbstreflektierter, selbstkritischer, die Verantwortung für Scheitern stärker bei sich sehen und nicht im Umfeld.
Was bedeutet das alles für die Zukunft der Jugendlichen?
Die Frage ist mittelfristig, was sind die Auswirkungen auf Schule und Ausbildung? Kommen Mädchen besser in der Ausbildung zurecht, weil sie mehr in der Realität geblieben sind und dadurch auch mehr gelitten haben als die Jungs? Oder können die Jungs das, was sie im virtuellen Raum geschaffen oder erreicht haben, in irgendeiner Weise auf das echte Leben übertragen? Die Corona-Thematik wird uns sicher noch mindestens zwei, drei Jahre beschäftigen. Denn wir müssen uns auch überlegen: Worauf fokussiert sich ein 16-Jähriger im Moment? Er konzentriert sich wohl kaum darauf, dass er zwischen 28 und 35 heiraten wird, sondern vielmehr darauf, ob morgen die Party stattfindet und übermorgen die Maskenpflicht wegfällt und das Zertifikat nun zur Verfügung steht. Er überlegt sich dann, ob er sich impfen lassen soll. Bis vor ein paar Wochen war der Impfstoff für seine Altersgruppe aber noch gar nicht vorgesehen.
Schwierig …
Absolut. Die Erwachsenen haben der Jugend und den jungen Erwachsenen vermutlich mehr Resilienz, Kraft und Abwehrvermögen zugetraut, als real vorhanden war.
Was erwarten Sie nun?
Es braucht klinische Erfahrungen und es braucht wissenschaftliche Untersuchungen. Das Bundesamt für Gesundheit hat das erkannt und Anfang 2021 verschiedene Untersuchungen durchgeführt. Je mehr Untersuchungen es gibt, je mehr Informationsquellen zusammenfliessen, desto besser kann man sich ein Bild machen.
Was können Eltern und Grosseltern machen?
Das Entscheidende ist, gesunde Kinder von gefährdeten zu unterscheiden und zu sagen: Ich gehe davon aus, dass das Enkelkind weiterhin resilient und widerstandsfähig ist. Denn das trifft auf 85 Prozent zu. Und seine normalen Entwicklungsziele – Schule, Ausbildung, Übertritt in die weiterführende Schule, Berufsfindung, aber auch romantische Geschichten, Sport und alles Mögliche – so gut es geht, zu fördern und geschehen zu lassen. Sich freuen, wenn das Kind auch mal über die Stränge schlägt. Dabei soll man aber über Ängste und Sorgen aktiv mit ihm im Gespräch bleiben. Und bei schwierigen Themen regelmässig prüfen, ob sich etwas Neues entwickelt oder ob sich eine schon vorher bestehende Problematik verschärft. Als Grosseltern darf man aber auch mal sagen: «Heute reden wir nicht über die Schule, heute backen, basteln, wandern oder spielen wir etwas zusammen.» Das findet der schon etwas grössere Junge oder die cool wirkende 13-Jährige zuerst vielleicht blöd, wird aber schnell merken, wie viel Spass und tiefe Freude dies gemeinsam machen kann. •
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