Sternenkinder: Wenn Grosseltern ein Enkelkind verlieren, geht ihre Welt unter.

Und die Welt einer ganzen Familie. Jeder Schmerz ist anders – und doch gibt es rote Fäden, die sich ähneln. Was ist hilfreich? Zwei verwaiste Grossmütter und eine Sternenkind-Mutter erzählen.

Von Anna Six, Geraldine Capaul (Text) und Irene Meier (Illustration)

Marisa und Olivia stehen auf der Piazza einer Schweizer Stadt, zwei Grossmütter, 59 und 68 Jahre alt; sie könnten auch hier sein, um miteinander Kaffee zu trinken oder durch die Gassen zu flanieren. Doch sie sind gekommen, um von dem zu erzählen, was ihr Leben im vergangenen Jahr zu einem anderen gemacht hat. Oder wie Olivia sagt: «Ich lebe seither in einer anderen Welt.» Die Enkelkinder von Olivia und Marisa sind gestorben, als sie gerade erst geboren waren. Yuri und Joline. Mit ihnen starben die Zukunftsträume zweier Familien.

Ein Kindsverlust während Schwangerschaft, Geburt und erster Lebenszeit zieht weite Kreise und betrifft auch die Grosseltern. Sie leiden mit dem eigenen erwachsenen Kind mit, haben dessen bodenlose Trauer auszuhalten. Und während für die Eltern von Sternenkindern, wie man früh verstorbene Kinder nennt, immer mehr Unterstützungsangebote existieren, bleiben die verwaisten Grosseltern mit dem Erlebnis oft allein. Olivia, von Beruf Sozialarbeiterin und Erwachsenenbildnerin, will das ändern. Seit einigen Monaten trifft sie sich einzeln mit anderen Grossmüttern, die ein Enkelkind verloren haben, um herauszufinden, was diese suchen und brauchen. Nicht eine Trauergruppe soll daraus entstehen, sondern ein Netzwerk von Gleichbetroffenen. Olivia schwebt auch vor, jene Fragen, die sich wie rote Fäden durch die individuellen Trauerprozesse ziehen, mit Fachpersonen zu erörtern. Zum Beispiel: Wie gehe ich mit meiner Tochter um, die nur noch weint? Was kann ich tun, wenn das ältere Enkelkind nicht mehr zum Hüten kommen mag? Wie kann ich der Familie helfen, ohne mich selbst zu vergessen?


Olivia (68)

«Viele Leute glauben, wenn ein Jahr um ist, werde es besser. Das stimmt nicht. Es wird nie mehr gleich sein wie vorher. Der Schatten der Trauer bleibt über unserer Familie. Yuri wird immer fehlen.
Meine Tochter und ihr Partner erfuhren im achten Schwangerschaftsmonat, dass ihr Baby einen seltenen Gendefekt hat, der sich auf alle Organe auswirkt. Sie wurden vor die Wahl gestellt, die Schwangerschaft abzubrechen oder das Kind zu gebären und mit Operationen an einem stark reduzierten Leben zu erhalten. Sie wählten einen dritten Weg, der noch wenig bekannt ist und über den sie im Spital zunächst nicht informiert wurden: die Palliative Care für Neugeborene. Ich hatte davon durch eine Bekannte erfahren. Diesen Weg zu gehen, bedeutet, der Natur ihren Lauf zu lassen. Zu wissen, dass das Baby sterben wird, ihm aber mögliche Schmerzen und Unbehagen zu nehmen.

Unser Yuri war
nicht für diese Welt, aber er hat hier
Spuren hinterlassen.


Wir wussten nicht, ob Yuri nach der Geburt drei Stunden oder drei Tage leben würde. Nach kurzer Zeit im Spital nahmen ihn meine Tochter und ihr Partner nach Hause, unterstützt vom Team des Kinderspitals und der Kinderspitex. In ihrem Haushalt übernahm ich vieles, vom Einkaufen, Kochen bis zu Besorgungen in der Apotheke. Wir trugen wegen Corona eisern Masken, das war erschwerend. Aber wir wollten Yuri schützen. Viele Freundinnen und Freunde kamen, um ihn kennenzulernen und sich von ihm zu verabschieden. Yuri starb am 17. Tag in den Armen seiner Eltern.
In den Monaten, die folgten, war ich wie abgemeldet vom Leben. Viele meiner Bekannten mieden den Kontakt – wahrscheinlich wollten sie mich schonen. Dabei hätte ich es nötig gehabt, dass mich jemand aus meinem Loch herausholt. Im Oktober schrieb ich einen mehrseitigen offenen Brief an Yuri, in dem ich meine Gefühle und Beobachtungen aus der Zeit mit ihm in Worte fasste. Ich schickte ihn an die Fachleute im Unispital und im Kinderspital. Die Kinderärztin von Yuri rief mich daraufhin an und fragte unter anderem: ‹Wissen Sie, dass es auch für Sie das Angebot einer psychologischen Begleitung gibt?› Bis zu dem Zeitpunkt hatte mich niemand darauf aufmerksam gemacht.


Die Grosseltern gehen in dieser familiären Ausnahmesituation oft vergessen, tragen aber ganz viel mit. Ohne meine Psychologin ginge es nicht. Begleitung durch eine Fachperson empfehle ich allen Betroffenen – selbst wenn es vielleicht nur drei Gespräche sind. Darüber reden hilft, das schwere Erlebnis einzuordnen. Die Frage nach dem Warum lege ich auf die Seite. Es gibt ohnehin keine Antwort. Aber wir Grosseltern können unseren Kindern vorleben, dass es möglich ist, ein solches Ereignis zu überstehen. Allerdings müssen wir auch wissen, dass unser Beistand an Grenzen kommen kann: Denn im Gegensatz zu meiner Tochter habe ich kein Kind verloren.


In unserer Familie haben wir eine eigene Sprache gefunden, um mit und über Yuri zu sprechen. Wenn ich heute einen Sommervogel antreffe, sage ich ‹Hoi Yuri›. Bei jedem Regenbogen, den wir sehen, reden wir von ihm. Es gibt Farben, die wir mit Yuri verbinden, und ein Baum im Garten erinnert uns an ihn. Mir hilft diese Sprache sehr. Und sie verbindet uns mit anderen Betroffenen und ihren verstorbenen Kindern. Als ich das erste Mal mit Marisa telefonierte, haben wir gleich eine Stunde miteinander gesprochen. Bald trafen wir uns persönlich, und unterdessen durfte ich auch ihren Mann kennenlernen. Es ist berührend, dass er genau die gleiche Sprache verwendet, um über das verstorbene Enkelkind zu reden, wie wir es mit Yuri tun.


Radio SRF erzählte Yuris Geschichte in einem Podcast. Die Spitäler gehen heute hoffentlich bewusster und sorgfältiger mit dem Thema Palliative Care für Neugeborene um. Sodass Eltern, die in die gleiche Situation gelangen wie damals meine Tochter und ihr Partner, früher von dieser Option erfahren. Unser Yuri war nicht für diese Welt, aber er hat hier Spuren hinterlassen.»


Marisa (59)

«Es war kurz vor dem Geburtstermin, als Joline sich im Bauch immer wieder drehte. Unsere Tochter wollte natürlich gebären, deshalb konsultierte sie
einen Arzt, der auch Geburten aus Steisslage betreut. Auf dem Ultraschall sah er etwas, das ihn stutzig machte, und schickte meine Tochter zum Spezialisten in Zürich. Sie erfuhr dort, dass Joline einen schweren Herzfehler und weitere organische Probleme hatte. Alles war gut gegangen in der Schwangerschaft – und nun das. Wir fühlten uns wie in einem bösen Traum.

Innert kürzester Zeit mussten sich die Eltern entscheiden, ob sie nach der Geburt den medizinischen oder palliativen Weg gehen möchten. Ich bewundere die Stärke meiner Tochter und des Schwiegersohns, das eigene Kind zum Sterben auf die Welt zu bringen. Heute sehe ich: Es stimmt so, wie es ist. Die Ärzte hätten sonst Joline direkt nach ihrer Geburt mitnehmen müssen. Die ganze Familie wäre immer wieder getrennt gewesen. Und niemand hätte gewusst, ob Joline die Behandlungen überlebt, die laut der Ärzteschaft alle unter sehr schlechten Prognosen gestanden wären.

Wir fühlten
uns wie in einem
bösen Traum.

Nach dem Entscheid hat sich Joline im Bauch beruhigt. Das Drehen war ein Zeichen gewesen; ihre Art, zu sagen: Schaut hin! Überhaupt ist Joline einmalig. Ihre Mutter sagte immer zu ihr, sie solle noch warten, damit sie nicht just am Geburtstag ihres grossen Bruders Vincent zur Welt komme. Und Joline hielt sich daran: Sie kam zehn Tage danach zur Welt. Die Geburt lief ruhig. ‹Die beiden Frauen haben es gut gemacht›, sagte uns der Vater. Joline lebte etwa eine Stunde lang. Sie schaute ihre Eltern an und nahm ein paar wenige, zaghafte Atemzüge. Und ihr Herzlein hörte wieder auf zu schlagen.

Sie nahmen Joline für eine Woche mit nach Hause, hatten das tote Kindlein mitten unter sich. Vincent war so ein stolzer, liebevoller grosser Bruder, sang für sie, las ihr Büechli vor und küsste sie immer wieder. Irgendwann sagte er: ‹Jetzt könnte sie schon einmal die Augen öffnen.› Sie haben dann den Sarg bunt angemalt und beschriftet, gaben Joline Blumen, Erinnerungsstücke und Briefe von uns allen mit. Nach der Kremation nahm die Familie die Urne nach Hause. Da fragte Vincent: ‹Darf ich mir den Sternenstaub ansehen?› Er ist fest verbunden mit seiner Schwester. Bis heute, acht Monate später, bringt er Steine und Blumen von draussen mit für sie. Er hatte auch ihren zweiten Vornamen ausgesucht: Mila. Den Namen Joline hatte ich meiner Tochter einmal während der Schwangerschaft vorgeschlagen. Ich freute mich so, als ihre Wahl darauf fiel.

In den Tagen um die Geburt war Vincent bei uns Grosseltern. Danach wollte er nicht mehr kommen. Das war schlimm für mich. Ich hatte Angst, dass ich nun beide verlieren würde: Joline Mila – und Vincent. Immer wieder fuhr ich die kurze Strecke zu meiner Tochter und fragte Vincent, ob er mitkommen möge. Viele Male fuhr ich allein und mit Tränen in den Augen zurück. Inzwischen mag er uns wieder besuchen, aber noch nicht über Nacht bleiben. Er hat das Gefühl, seine Mutter beschützen zu müssen – so sagte es uns die Psychologin meiner Tochter.

Sie war es auch, die mich darauf aufmerksam machte, dass es Ansprechpersonen für verwaiste Gross­eltern gibt. Ich kam in Kontakt mit Olivia. Es tut gut, mit ihr im Austausch zu sein, zu hören, wie es anderen Betroffenen geht. Eine Freundin von mir hat vor 35 Jahren ihr Kind verloren. Dieses Erlebnis ist durch Jolines Geschichte wachgerufen worden. Man nahm ihr das Kind weg, sprach nicht darüber. Das macht alles noch schlimmer.

Joline war nicht geplant, dann kam sie doch – und Gott nimmt sie uns wieder. Ich konnte das lange fast nicht fassen. Ich habe jetzt noch Mühe, andere Babys zu sehen. Und wenn es unserer Tochter schlecht geht, geht es mir auch nicht gut. Ein Buch, das ich gelesen habe, stärkt mich gerade etwas. Es heisst ‹Kinder in der Geistigen Welt›. Seither spüre ich besser: Joline ist da. Wir können mit ihr Verbindung aufnehmen. Besonders gut kann das mein Mann. Bevor sie kremiert wurde, legte er seinen Kopf an ihren und sagte: ‹Wir werden in Verbindung bleiben.› Auch ich habe meine Momente, in denen ich Joline ganz nahe bin. Wenn ich bei der Arbeit als Zeitungsverträgerin frühmorgens bei klarem Himmel unterwegs bin, sehe ich immer einen grossen, besonders hellen Stern. Das ist Joline. Dann spreche ich mit ihr, erzähle ihr etwas von unserem Leben. Joline Mila ist mein erster und mein letzter Gedanke des Tages.»


sterneneltern.ch

Franziskas drittes Kind heisst Atanas. Er kam vor fünf Jahren tot zur Welt und brachte damit ihre Welt und die ihrer Familie zum Stillstand. «Damals mussten wir uns noch selber informieren, wo wir Hilfe bekommen. Es war und ist bis heute Glückssache, ob man von jemandem betreut wird, der einen in dieser Situation feinfühlig und vorausschauend begleitet», sagt Franziska. Über ihre Hebamme, die Rückbildungsturnen für betroffene Mütter anbietet, lernte sie Carla kennen, ebenfalls Mutter von einem Sternenkind. Franziska und Carla halfen sich in ihrer Trauer – «zusammen waren wir ein kleines Selbsthilfegrüppli» – und sie beschlossen, ihre Gedanken und Ideen zum Umgang mit der Trauer auf der Plattform sterneneltern.ch zu teilen. Mittlerweile sind sie zu dritt. Auch Alines Sohn starb wenige Stunden nach der Geburt. Auf sterneneltern.ch liest man auf der ersten Seite: «Ihr Baby ist gestorben. Unseres auch.»


Rückblickend wäre Franziska um mehr Infos und Hilfeleistungen dankbar gewesen. «Wenn dein Kind während oder kurz nach der Geburt stirbt, betrauerst du mehrheitlich Zukunftsvorstellungen und nicht die Erinnerungen. Die fehlen. Deshalb ist es wichtig, dass man Erinnerungen schafft. Dass man sich Zeit mit seinem Kind nimmt und Fotos macht», sagt Franziska. «Man darf sich so viel Zeit dafür nehmen, wie man braucht. Ich wäre froh gewesen, wenn mich jemand mit Bestimmtheit dazu ermutigt hätte.»


Trauer ist individuell. Mit ihrer Plattform ermöglichen Franziska, Carla und Aline es anderen Familien, in ihrem Tempo die Infos und Berichte zu lesen, die sie in diesem Moment brauchen. «Für mich war es sehr heilsam, die Gedanken von anderen Betroffenen zu lesen», sagt Franziska. Sterneneltern.ch richtet sich nicht nur an die Eltern selber, sondern auch an das Umfeld. Das spielt nämlich eine wichtige Rolle im Trauerprozess – und ist gleichzeitig meistens überfordert und ebenfalls blockiert vor Trauer.
Auch wenn jede anders trauert und jedem etwas anderes hilft, gewisse Ansätze zur Hilfe kann Franziska trotzdem einheitlich formulieren:

• In Kontakt sein, den Eltern signalisieren: Ich denke an dich und das verstorbene Kind. Wichtig ist auch, das Kind beim Namen zu nennen.

• Unterstützung anbieten. Vielleicht in einem gemeinsamen Gespräch herausfinden, was helfen könnte, und das konkret umsetzen. Franziskas Schwiegervater beispielsweise hat gesagt: «Ich hole die Urne ab.» Und hat das auch gemacht. Die Schwiegermutter kam jeden Dienstag vorbei und hat etwas mit den zwei älteren Geschwistern gemacht. Das gab Franziska einen Tag in der Woche, an dem sie richtig Zeit hatte, zu trauern.

• Apropos Geschwister: Sie sollen auch glücklich sein. Man darf also gern schöne Sachen mit ihnen unternehmen und ihnen leichte Momente schenken. «Man will die Kinder, die da sind, glücklich sehen», sagt Franziska.
• An den Geburts- und Todestag des Sternenkindes denken und sich melden.

• Rücksicht nehmen auf die Bedürfnisse der Eltern und tolerant sein. Feinfühlig Ideen einbringen, etwa beim Thema Abdankung oder Geburtskärtchen. Und reden! «Der Austausch ist sehr heilsam und viel wert, jedoch sehr individuell.»

• Grosseltern können mit ihrer Erfahrung und mit ihrer Nähe eine grosse Hilfe sein. Sie dürfen auch einfach begleiten. «Wir haben beispielsweise Bilderbücher zu den Themen Tod, Trauer und Kindsverlust bekommen. Die haben wir mit den Kindern zusammen angeschaut und darüber gesprochen.»

Die drei Frauen von sterneneltern.ch möchten künftig zirka drei Veranstaltungen pro Jahr organisieren. Sie sind daran, herauszufinden, was gebraucht wird, welche Angebote funktionieren. Im letzten Dezember etwa haben sie ein gemeinsames Kerzenziehen organisiert. Das war sehr stimmig. Auch für die künftigen Veranstaltungen ist ihnen wichtig: Wer möchte, darf über den Verlust sprechen, wer nicht will, muss nicht und darf einfach da sein.•

sterneneltern.ch; mehr Infos für Grosseltern sterneneltern.ch/eltern-grosseltern


INFOS UND ANLAUFSTELLEN

Jeden Tag verlieren zirka zwei Familien in der Schweiz ein Kind in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft und rund um die Geburt. Zudem endet jede vierte bis sechste Schwangerschaft mit einer frühen Fehlgeburt, also in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen. Das führt gemäss Schätzungen zu rund 20 000 betroffenen Frauen jährlich in der Schweiz.

Kindsverlust.ch ist das Schweizerische Kompetenz- und Ausbildungszentrum beim frühen Kindsverlust. Die Non-Profit-Organisation bildet Fachpersonen aus und vernetzt sie, ausserdem berät die Organisation betroffene Familien und Fachpersonen kostenlos am Telefon oder per Mail. Auch verwaiste Grosseltern wie Olivia und Marisa können sich bei Kindsverlust.ch melden zur Unterstützung und Orientierung im persönlichen Prozess. Bei Bedarf nach Austausch kann der Kontakt zu Olivia vermittelt werden.
Kindsverlust.ch/beratung

In Horgen bietet der Verein Himmelskind einerseits Akuthilfe an, aber auch Unterstützung für Folgeschwangerschaften, und organisiert Veranstaltungen für Grosseltern. Auf Facebook hat der Verein die Gruppe Sternli-Grosseltern gegründet.
Himmelskind.ch

Beatrix Ulrich ist Hebamme und hat sich auf die Begleitung von Eltern spezialisiert, die ein Kind verloren haben.
Franziska und Carla haben sich über Ulrich kennengelernt.
beatrixulrich.ch


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