Das Bundesamt für Statistik hat berechnet: 160 Millionen Stunden jährlich hüten Grosseltern ihre Enkelkinder. Höchste Zeit, der Gesellschaft klar zu machen, wie wichtig Grosseltern sind. Mit wissenschaftlich fundierten Fakten und Analysen und mit emotionalen Botschaften.
Der Schweizer Musiker und Sänger Gustav bei den Aufnahmen zum Grosselternsong.
Von MELANIE BORTER (Text) und TIBOR NAD (Fotos und Video zum Song)
Der Soziologe René Levy nennt die Grosseltern eine «verkannte Gesellschaftsstütze». Zu recht. Über den Kostenfaktor der Alten spricht man oft und gerne, was diese der Gesellschaft bringen, darüber berichten nur wenige. Dabei sind die kürzlich veröffentlichten Zahlen des Bundesamtes für Statistik (BFS) mehr als eindrücklich: 160 Millionen Stunden jährlich betreuen Grosseltern ihre Enkel- kinder, das entspricht laut Berechnungen des BFS einem Arbeitsvolumen von mehr als acht Milliarden Franken pro Jahr. Die- se Zahlen allein müssten eigentlich ein Umdenken in der Gesellschaft bewirken. Tun sie aber nur in sehr bescheidenem Mass. Dem möchte «Kontrapunkt» der
«Schweizer Rat für Wirtschafts- und Sozialpolitik» entgegenwirken. Diese politisch unabhängige Gruppierung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, hat sich zum Ziel gesetzt, übersehene, aber wichtige Aspekte offen zu legen. Der pensionierte Professor für Soziologie René Levy ist in dieser Vereinigung und hat für «Kontrapunkt» alle Fakten zur Bedeutung der Grosseltern für die Gesellschaft zu- sammengefasst. Der Titel «Grosseltern, die verkannte Gesellschaftsstütze» ist zu- gleich die Kernaussage seines fundierten Artikels, den wir hier gerne abdrucken und so unseren Teil dazu beitragen, die Wichtigkeit der Grosseltern nicht nur für die Familien sondern auch für die Gesell- schaft zu untermauern.
Weil wir aber wissen, dass bei der Mei-nungsbildung der Menschen nicht nur die Fakten zählen, lancierten wir bereits vor drei Jahren den Grosselterntag. Seither feiert die Schweiz immer am zweiten Sonn- tag im März ihre Grosseltern. Die Enkel und Familien können an diesem Tag den Grosseltern Danke sagen, viele Medien berichten an diesem Tag über besondere Anlässe zum Grosselterntag oder über die emotionale Bedeutung der Grosseltern. Natürlich hat sich das Grosseltern-Magazin auch dieses Jahr etwas ganz besonders zum Grosselterntag einfallen lassen. Wir beauftragten den Schweizer Musiker und Sänger Gustav damit, einen Song für die Grosseltern zu komponieren. Schnell war für den Entertainer klar, Enkel müssen bei der Produktion des Songs unbedingt mitwirken. Entstanden ist ein Song mit Ohrwurmpotential, gespickt mit authentischen, berührenden Aussagen der Enkel- kinder. Den Song können Sie auf unserer Webseite hören und Dank unserem freien Mitarbeiter Tibor Nad, der die Aufnahmen mit seiner Kameras begleitete, auch sehen.
Grosseltern, die verkannte Gesellschaftsstütze
Man spricht immer häufiger von der zunehmenden Betreuungsbedürftigkeit der Alten (und ihren Kosten) und vergisst darüber, dass diese vorher jahre-, oft sogar jahrzehntelang selbst aktiv betreuen, zuerst ihre Kinder, nachher ihre Eltern, und später oder gleichzeitig die Kinder ihrer Kinder.
Von RENÉ LEVY, Kontrapunkt
Zahlreiche Grosseltern kümmern sich um ihre Enkelkinder. Viele empfinden dies als beglückend und engagieren sich hochmotiviert in dieser biographisch neuen Tätigkeit, die häufig in die Zeit ihrer Pensionierung fällt und sie durch ihre neu gefundene Verfügbarkeit aufwertet. Dennoch stellt sich die Frage, ob nicht die informelle, aber immer verbreitetere Indienstnahme der Grosseltern für die Kinderbetreuung als verdeckte, nicht beabsichtigte Sparhilfe an moderne Sozialstaaten anzusehen ist, die als billiges Ruhekissen von sozialpolitischem Handeln entlastet. Grundlegende gesellschaftliche Veränderungen haben in den letzten zweihundert Jahren dazu geführt, dass für viele die zwischenmenschliche Solidarität nur im engsten Familien- und Bekanntenkreis stattfindet. Selbst darauf können aber viele nicht mehr zählen: weil sie nicht mehr nahe genug beieinander wohnen, aber auch, weil solche Solidaritätspartner nicht mehr leben oder aus anderen, oft ganz alltäglichen Gründen. Deshalb musste die spontane zwischenmenschliche Solidarität immer mehr durch sozialstaatliche Einrichtungen ersetzt werden, damit die soziale Bindung nicht ersatzlos verschwindet. Die heute in der Schweiz vorhandenen Einrichtungen unterstützen vor al- lem Menschen, die kein eigenes Einkommen verdienen können (Alter, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität). Paare, die Eltern geworden sind und deswegen ihre Arbeitszeit verringern soll- ten, müssen dagegen sehen, wie sie mit ihren eigenen Mitteln zurande kommen. Dass hier ein ernsthaftes Problem liegt, wird vor allem als Vereinbarkeitsproblematik zwischen Familie und Beruf für Mütter diskutiert. Diese Beschränkung greift aber zu kurz, denn sie klammert die Sorgepflicht der Väter aus (oder reduziert sie allein aufs Geldverdienen).
DREIECKSBEZIEHUNG
Ein weiteres derartiges Solidaritätsverhältnis ist jenes zwischen Grosseltern und Enkelkindern. Es ist eigentlich eine Dreiecks- beziehung, weil die Eltern als mittlere Generation ebenfalls dazugehören. Neben der – meist im Vordergrund stehenden – emotionalen Bindung entlasten die Grosseltern mit ihrem Einsatz die Eltern punkto Betreuungsaufwand. Was in rein zwischen- menschlicher Perspektive als «Liebesdienst», als für beide Seiten befriedigend und als normaler Bestandteil der Grosselternrolle erscheint, erweist sich aus der Sicht der ganzen Gesellschaft als massive Dienstleistung, die gesellschaftlich unerlässlich ist, unter Verzicht auf andere Aktivitäten erbracht wird (und dies oft unter dem Druck emotionaler Ansprüche), aber unbezahlt bleibt und auch sonst gesellschaftlich nur wenig anerkannt wird. Es lohnt sich, einige der wenigen Informationen zur Kenntnis zu nehmen, die dazu in der Schweiz vorhanden sind. Die nichtinstitutionelle bzw. informelle familien- und schulergänzende Kinderbetreuung (am meisten durch Grosseltern erbracht) ist häufiger als die institutionelle. Für 2014 wurde ermittelt, dass für Kleinkinder (bis drei Jahre) die informelle Betreuung fast drei Viertel ausmacht, für grössere Kinder (4-12 Jahre) rund 55 Prozent. Öffentliche Einrichtungen befriedigen also weniger als die Hälfte der effektiven Nachfrage. Insgesamt greift etwas mehr als die Hälfte der Eltern auf Kinderbetreuung durch Verwandte zurück, bei Alleinerziehenden ist der Anteil leicht geringer. Die entscheidende Rolle der Grosseltern erhellt sich durch folgenden Vergleich: 8,9 Prozent aller Frauen und 4 Prozent aller Männer über 15 Jahren betreuen verwandte Kinder, aber rund 60 Prozent der Grosseltern sehen ihre Enkelkinder mindestens einmal pro Woche; 24 Prozent von ihnen kümmern sich regelmässig (mindestens einmal pro Woche) um eines oder mehrere. Dabei werden vor allem Grossmütter mobilisiert, besonders für kleine Kinder (ihr Betreuungsanteil für Kinder unter sechs Jahren beträgt 73 Prozent).
160 MILLIONEN STUNDEN
Laut Bundesamt für Statistik (BFS) erbringen die Grosseltern in der Schweiz rund 160 Millionen Stunden Betreuungsaufwand pro Jahr (2016) und schaffen damit einen volkswirtschaftlichen Wert, den es auf 8,146 Milliarden Franken schätzt. Dieser Betrag entspricht gerade mal der Hälfte dessen, was die gleichen Leistungen nach dem günstigsten Krippentarif kosten würden. Da dieses beträchtliche Dienstleistungsvolumen nicht finanziell entgolten wird, taucht es im Bruttosozialprodukt nicht auf und bleibt volkswirtschaftlich unsichtbar, genauso wie Haus- und Freiwilligenarbeit. In der heutigen Situation gehört es nichtsdestoweniger zum nötigen Umfeld des Wirtschaftens; ohne es würde der Wirtschaft ein entsprechend grosses Volumen von Arbeitsstunden entgehen. Und die Forderung, dass die Wirtschaft sich in irgendeiner Form an der Kinderbetreuung beteiligt, wäre deutlich massiver. Im europäischen Vergleich liegt die Häufigkeit des Grosselterneinsatzes in der Schweiz im Mittelfeld der Länder (in Nordeuropa, den Niederlanden, Belgien und Frankreich betreuen mehr Grosseltern ihre Enkel als in der Schweiz und in Südeuropa). Der Grosselterneinsatz ist hier jedoch besonders intensiv (Kriterium: mindestens einmal pro Woche). Nur in Südeuropa – Spanien, Italien, Griechenland – mit seinen typisch schwächeren sozialstaatlichen Einrichtungen ist er noch intensiver. (Die Häufigkeit betrifft den Anteil der Grosseltern, die überhaupt Enkel betreuen, die Intensität, wie oft sie dies tun). Die Betreuung der Kinder durch ihre Grosseltern erweist sich damit in der Schweiz als ein Phänomen mit beträchtlichem Umfang, das einem verbreite- ten Bedürfnis der Eltern entspricht. Es bleibt jedoch öffentlich weitgehend unsichtbar und politisch unberücksichtigt, weil es von den volkswirtschaftlichen Indikatoren nicht erfasst wird und kaum Anlass zu politischen Vorstössen gibt. Damit wird es auch weni- ger leicht als gesellschaftliches, also nicht ausschliesslich privates Phänomen greifbar.
KRIPPEN NUR FÜR REICHE
Die geringe Zugänglichkeit öffentlicher Betreuungseinrichtungen in der Schweiz (ungenügende Zahl, Distanz, Stundenpläne, Preis) führt dazu, dass nur gutbetuchte Eltern es sich leisten können, in grösserem Umfang auf ausserfamiliale Kinderbetreuung zurückzugreifen, für die anderen sind die Grosseltern eine kaum zu ersetzende Stütze. Umso problematischer ist die Situation jener Eltern, die knapp bei Kasse sind und nicht auf Grosseltern zurückgreifen können. Aus dieser Situation ergibt sich, jenseits aller positiven Gefühle, welche die Beziehung zwischen Grosseltern und Enkel- kindern begleiten, ein beträchtlicher familiärer Druck auf die Grosseltern, der ihnen in vielen Fällen volle «Einsatzpläne» und geringe anderweitige Verfügbarkeit beschert. So erfüllend dies von vielen auch erlebt wird, so steht diese Situation dennoch der offiziellen Zielsetzung der Alterssicherung direkt im Weg: Nach einem vollen Arbeitsleben sollen die Älteren eine Zeit der Freiheit von Zwängen erleben können, die ihnen erlaubt, zu tun und zu lassen, was ihnen beliebt, und nicht, was ihnen Familienpflichten und das Fehlen von Alternativen vorschreiben. Der drängende Rückgriff auf die Grosseltern resultiert aus der Tatsache, dass für einen grossen Teil der Mütter zwischen der Betreuung ihrer Kinder und ihrer Berufstätigkeit ein Entweder-oder-Verhältnis besteht. Dieser Zustand wird von einer Dreierkonstellation von Faktoren aufrechterhalten. Zum einen lastet auf einem Grossteil der Familien ein finanzieller Druck zur Erwerbsarbeit beider Partner; erst ab einem beträchtlichen und entsprechend seltenen Einkommensniveau genügt der Erwerb eines einzigen Partners für die ganze Familie. Zum Zweiten lastet auf den Vätern ein grosser Druck zur Vollzeitarbeit, während von den Müttern als normal erwartet wird, sich primär um die Kinder zu kümmern und nur sekundär, soweit die Familienpflichten dafür Raum lassen, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Die Frauendiskriminierung in der Arbeitswelt macht ihrerseits für die Paare den Abbau der Erwerbsarbeit der Frau weniger «teuer» und damit «rationaler» als seitens des Mannes und trägt damit zur Erwerbsdiskriminierung der Frauen bei. Zum Dritten sind angesichts des relativen Fehlens günstiger ausserfamilialer Betreuungsmöglichkeiten die verfügbaren Finanzen der Familie die wichtigste Ressource zum Abbau dieses Druckes. Sie ist nichts weniger als die Voraussetzung dafür, dass beide Partner relativ frei über das Verhältnis zwischen ihrem Berufs- und ihrem Familienengagement entscheiden können. Anzufügen bleibt, dass der Verzicht auf Kinder ein «Ausweg» ist, der hier ebenfalls ins Spiel kommt, um das Dilemma zwischen Mutterschaft und Erwerbsarbeit zu vermeiden. Die aus dieser Dreierkonstellation stammenden Drücke werden an die Grosseltern als Aufforderung zur Mitbetreuung ihrer Enkel weitergegeben.
DAS IST ZU TUN
Was ist zu tun, um die Wahlfreiheit der Grosseltern wie auch der Eltern zu erhöhen? Ein nur anscheinend privater Schritt besteht darin, das Thema aus der Tabuzone verwandtschaftlicher Verpflichtungen (mit dem Siegel der Selbstverständlichkeit) herauszuholen und es in den Bereich der zwischen Verwandten offen diskutierbaren Austauschformen zu verschieben. Dabei geht es darum, das Bewusstsein der Beteiligten, vor allem der Grosseltern und ihrer Eltern gewordenen Kinder, über die Tatsache zu fördern, dass die Pensionierung als «Reich der Freiheit» konzipiert ist und auch als solches praktisch gelebt werden sollte. Aber auch die Realisierung institutioneller Massnahmen, die schon lange diskutiert werden, drängt sich auf. Wie in praktisch allen anderen europäischen Ländern ist in der Schweiz ein echter Eltern- und nicht bloss Mütterurlaub mit Stellenabsicherung überfällig. Seine Realisierung ist für die Gendergleichstellung grundlegend, auch wenn der Bundesrat findet, diese Massnahme, obwohl zur Umsetzung des Gleichstellungsartikels in der Bundesverfassung unerlässlich, sei heute unbezahlbar. Gleicher- massen braucht es flächendeckend ganztägige Kindergärten ab drei Jahren sowie Tagesschulen, wie sie in anderen europäischen Ländern (Frankreich, Deutschland), aber auch im Kanton Tessin, mit Erfolg eingeführt werden. •
«Der Popi hed immer en Witz uf Lager» Priska, 12 Jahre.
«Min Grossvater loht mich sogar elleige uf sim Traktor fahre», Leon, 12 Jahre.
«Mini Grossmuetter Maria Teresa chocht jedes Mal wie en Gourmet mit ihrne g‘heime Zuetate.» Maria, 12 Jahre.
«De Nonno Gallo suecht mer im Sommer die chliine süesse Erdbeereli i sim Garte» Luna, 11 Jahre.
«S’Grosi isch die Bescht, well ich bi ihre alles dörf » Neva, 8 Jahre.
«S’Mueti isch di Bescht, well sie immer s’Bescht für mich will» Philippe, 12 Jahre.
«Ich fend, mini Baki macht die beste Pommes, wo’s gid.» Ivan, 12 Jahre.
KONTRAPUNKT, der «Schweizer Rat für Wirtschafts- und Sozialpolitik», entstand auf Initiative des «Netzwerks für sozial verantwortliche Wirtschaft». Es ist eine politisch unabhängige Gruppierung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die die oft unbefriedigende und polarisierende öffentliche Diskussion über politische Themen durch wissenschaftlich fundierte, interdisziplinär erarbeitete Beiträge zu vertiefen sucht. Kontrapunkt möchte vor allem übersehene, aber wichtige Aspekte offenlegen und einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte leisten.
Dieser Artikel stammt aus dem Grosseltern-Magazin 04/2108