Rituale: Warum Kinder sie brauchen

Von SUSANNE STÖCKLIN-MEIER (Text) und BÜRO HAEBERLI, ANTON STUDER (Illustrationen)

Regelmässig wiederkehrende Rituale strukturieren den Alltag, die Woche und den Jahreslauf. Kinder schätzen und lieben diese Fixpunkte. Gerade auch, wenn sie die Rituale zusammen mit ihren Grosseltern erleben.

Was sind Rituale überhaupt? Zählen nur das Ostereiersuchen und der Samichlausbesuch oder auch die allabendliche Gute-Nacht-Geschichte oder sogar das immergleiche Schuhebinden dazu? Im Grunde lässt sich aus allem ein Ritual machen. Rituale sind sozial gestaltete Aktionen zu alltäglichen Anlässen und regeln das Miteinander. Sie bestimmen etwa den Tagesbeginn, das Zubettgehen, das Essen, die Körperpflege, das Aufräumen, das Begrüssen, das Abschiednehmen, das Gewinnen und Verlieren, das Streiten und das sich Versöhnen. Bei grösseren Kindern erleichtern Rituale das Hausaufgabenmachen, das Pflegen von Haustieren und Pflanzen und vieles mehr. Kleine, immer wiederkehrende Rituale erleichtern den Tagesablauf nicht nur zu Hause, sondern auch in der Spielgruppe, im Kindergarten oder im Unterricht der Schule.

Im Jahreslauf regeln Rituale besondere Feste wie etwa: Geburtstage, Fasnacht, Ostern, Sommerfest, 1. August, Erntedankfeste, St. Nikolaus oder Weihnachten.

WICHTIGE ORIENTIERUNGSHILFEN

Aber weshalb sind Rituale so wichtig? Kinder lieben Wiederholungen und brauchen sie. Damit eine bleibende «Rille» im Gehirn entsteht, braucht es bei Kindern etwa 40 bis 50 Repetitionen. Ihre Welt ist das Spiel, und beim Spiel sind Wiederholungen und Spielregeln etwas ganz Natürliches. Deshalb wollen Kinder, dass wir ein Märchen, das sie kennen, immer wieder im gleichen Wortlaut erzählen. Sonst heisst es schnell: «Sag‘s recht!» oder «Das ist falsch!». Kinder bauen Türme und zerstören sie, um sie gleich wieder aufzubauen. Sie können nicht einschlafen, wenn das Gutenachtritual fehlt, und gehen nicht aus dem Haus ohne die geliebte Puppe. Sie wollen einen aktuellen Fingervers immer und immer wieder hören und spielen. Sie singen ein Lied zum x-ten Mal, falten ganze Berge von Schiffchen und hüpften stundenlang Gummitwist. Keine Angst, Kinder bleiben deswegen in ihrer Entwicklung nicht stehen. Wenn sie etwas genug gespielt haben, entdecken sie Neues.

WERTE VERMITTELN

Rituale transportieren Werte wie: Familiensinn, Zusammen-
gehörigkeitsgefühl, Vertrauen, Wahrheit, Liebe, Frieden, Gewaltlosigkeit. Sie geben Kindern Schutz und Sicherheit. Was man «kann» und «wiedererkennt», was sich wiederholen lässt, stärkt das Selbstwertgefühl, macht stark, sicher und gross. Rituale entsprechen mit ihrem immer wiederkehrenden Erkennungsmerkmal dem natürlichen Ordnungsbedürfnis der Kinder. Sie fördern ihre Selbstständigkeit. Darum macht Wiederholung stark und selbstsicher. Rituale geben den Kindern Verlässlichkeit und Halt, sie beruhigen, lassen die Welt überschaubar werden und sind ein wunderbares Gegengewicht zur heutigen schnelllebigen Zeit. Selbstverständlich passen wir Rituale dem Alter und dem jeweiligen Entwicklungsstand der Kinder an. Ein Geburtstagsfest für Zweijährige muss anders verlaufen als für Schulanfänger.

EIN VORBILD SEIN

Kinder lernen durch Nachahmen und Wiederholen. Das Vorbild Erwachsener hat einen grösseren Einfluss auf Kinder, als uns allgemein bewusst ist. Die Schriftstellerin Pearl S. Buck meinte: «Wenn Sie Ihren Kindern unbedingt etwas geben wollen, dann geben Sie ihnen ein gutes Beispiel.» Der Ratschlag klingt banal, aber genau hier liegt die Krux. Wir können Kindern nur Werte und Rituale vermitteln, wenn wir bereit sind, uns selber damit auseinanderzusetzen, sie selbstverständlich vorzuleben und genau hinzuschauen. In Österreich sagt man: «Was nützt die beste Erziehung? Kinder machen uns doch alles nach!» Kinder haben ein feines Gespür für Echtheit und registrieren, ob wir etwas aufrichtig meinen oder ihnen etwas vormachen. Sie merken, ob wir authentisch sind. Darum ist es so wichtig, dass Erziehende sich auf wenige Werte, Regeln und Rituale einigen und diese dann gemeinsam mit Liebe, Ruhe und Bestimmtheit selber einhalten und bei den Kindern einfordern.

DIE GOLDENE REGEL

Erziehende sollten sich Fragen stellen wie: Was ist mir wichtig? Was sind meine Werte? Welche Werte erwarte ich bei anderen? Was haben sie mit meinem Verhalten zu tun? Welche Werte und Rituale sind überholt und welche notwendig für ein friedliches Zusammenleben? Als Richtschnur gilt die goldene Regel: «Was du willst, das man dir tut, das tue auch den anderen.» Dies sollte die unverrückbare Norm sein für alle Lebensbereiche. Schon kleine Kinder können dieses Prinzip begreifen. Sie verstehen, dass man andere Kinder nicht beissen soll, ihre Spielsachen, Brillen, Schulhefte nicht kaputt machen darf oder dass Verspotten verboten ist, denn das mögen sie für sich selber auch nicht. Doch sie geniessen es, zu kuscheln, zu singen, zu spielen, Geschichten zu hören oder Rätsel zu raten, sie mögen gute Tischgespräche, gemeinsam gestaltete Freizeit, Basteln oder Kuchenbacken. Und das alles mögen andere Kinder auch.

MEHR VERTRAUEN, MEHR KONFLIKTFÄHIGKEIT

Kinder brauchen im normalen Alltag immer wieder Rituale, in denen Werte und Regeln ganz selbstverständlich praktiziert werden. Mit Regeln können sie sich täglich spielerisch aus-
einandersetzen, ihre Kräfte messen und sich an vorgegebenen Grenzen ihre Hörner abstossen. Spielregeln sind für Kinder etwas Natürliches, das sie lieben und brauchen. Kinder, die in einem sozialen Umfeld mit überschaubaren Grenzen aufwachsen, haben erwiesenermassen weniger Angst. Sie entwickeln mehr Vertrauen in sich und ihre Umwelt und werden durch die täglichen Auseinandersetzungen auf eine gute Weise konfliktfähig. Das funktioniert aber nur, wenn Eltern und Erziehende sich dieser Herausforderung gemeinsam stellen. Zeigen wir den Kindern, dass wir sie achten und lieben. Und vergessen wir nicht: Humor im Erziehungsalltag kann Wunder bewirken.

MÜSSEN RITUALE ÜBERALL GENAU GLEICH ABLAUFEN?

Sollten sich die Grosseltern genau an die Vorlage der Eltern halten, zum Beispiel beim ins Bett bringen, oder können Sie auch andere, eigene Rituale einführen? Kinder sind nicht dumm, sie können problemlos von einer Spielinsel zur andern wechseln. Genauso halten sie es mit Ritualen. Da Eltern die Verantwortung für die Erziehung ihrer Kinder haben und beruflich stärker unter Stress stehen, sind sie in der Regel strenger und weniger flexibel. Grosseltern hingegen haben das Vorrecht, ihre Enkelkinder einfach nur zu geniessen. Daraus entsteht oft eine Eigendynamik, aus der sich dann andere Rituale entwickeln. Rituale, die sich im Alltag gut bewährt haben, müssen Grosseltern nicht extra ändern. Aber wenn sich spontan etwas Neues ergibt, ist das für alle nur eine Bereicherung. Die Kinder wissen dann, Mama oder Papa machen es so und Grosi oder Grossdäti eben anders. Hauptsache, die Rituale wirken, und Klein und Gross können sie geniessen.