Das diffuse Gefühl

Sie bringt in viele Familien mehr Lebendigkeit, als ihnen ­manchmal lieb ist: die Aufmerksamkeitsdefizit-Störung. ADHS wird sehr oft vererbt, so auch bei Markus Tschannen und seinem Kind.

Von Susanna Valentin (Text)

«Etwas stimmt nicht!», ein diffuses Gefühl, das Markus Tschannen bereits auf Kindesbeinen immer wieder einholte. Seine schulischen Leistungen waren gut, sein Zuhause eine Grundlage, auf die er setzen konnte. Dennoch fiel er durch sein ungestümes Verhalten auf, störte den Unterricht und wurde dadurch bei mehreren Schulpsychologen und Schulpsychologinnen vorstellig. Jetzt, im Alter von 43 Jahren, hat sich das Rätsel gelöst und er hat eine Bezeichnung für die Symptome, die ihm hin und wieder das Leben ein bisschen komplizierter machen: Aufmerksamkeitsdefizit-Störung, kurz ADHS (siehe Box rechts).
«Es war eine Erleichterung, diese Bestätigung nach einer ausgefeilten, langwierigen Abklärungsphase von einer Fachperson zu erhalten», erklärt der Journalist und Texter, «es fühlte sich an wie ein Abschluss und ein Neuanfang. Gleichzeitig.» Dass sich Tschannen für eine solche Abklärung entschied, war ein Prozess, der erst mit seinem ersten Kind angestossen wurde. «In meinen 20ern war mir eigentlich im Kopf längst klar, dass ich ADHS habe. Es gab aber keinen dringenden Grund für eine Abklärung.» Den Anlass dazu bot das heute 9 Jahre alte Kind, das Tschannen in seinen eigenen Kolumnen Brecht nennt, denn schon in dessen ersten Lebensjahren machte sich das Gefühl breit: «Irgendetwas ist anders.»
Brechts Diagnose wurde 2022 gestellt: ADHS gemischter Typus – also sowohl Unachtsamkeit als auch Hyperaktivität – mittlerer Schweregrad. Dieses Abklärungsergebnis schwarz auf weiss zu haben, löste auch bei Vater Markus Tschannen das Bedürfnis aus, Klarheit zu schaffen. Ein Effekt, den Anita Jung Strub, Leiterin der Fachstelle Nordwestschweiz von elpos, der ADHS-Organisation der Schweiz, bekannt ist. «Heute sind wir viel besser informiert über ADHS, damit einher geht das Wissen über die Vererbbarkeit: Die Wissenschaft geht von mindestens 70 Prozent aus. Ich sage: Vererbung ist bei ADHS so gut wie immer der Fall.» Hat sie in ihrer Beratungsfunktion Grosseltern am Telefon, die sich über die gestellte ADHS-Diagnose ihrer Enkelkinder informieren möchten, erlebt sie oft deren Momente der Selbsterkenntnis. «Immer wieder gibt es Aha-Erlebnisse, Situationen und Symptome, die sie selbst von sich kennen.» Für Jung Strub – selbst Mutter eines Kindes mit ADHS-Diagnose – klärt sich dann oft die Geschichte der Vorbelastung. «Sich mit der Diagnose des Kindes oder des Enkelkindes zu befassen, stösst oft eine ganze Reihe von Erkenntnissen an. Diffuse Gefühle können plötzlich eingeordnet werden.»
Auch Markus Tschannen erlebt, dass ihm Brecht den Spiegel vorhält. «Manchmal ist es schwierig, die eigenen unbequemen Seiten beim eigenen Kind zu sehen. Ich verstehe das Verhalten zwar, kann aber selbst nicht immer gelassen reagieren.» Insbesondere die Impulsivität von Vater und Kind hielten das Familienleben hin und wieder sehr lebendig. «In meinen Augen bietet die gestellte Diagnose in erster Linie die Möglichkeit, mit den Symptomen von ADHS zu leben und nicht dagegen anzukämpfen», ist der 43-Jährige überzeugt. Mit ihrer Diagnose transparent umzugehen und damit die Umwelt dafür zu sensibilisieren, ist ihm deshalb ein Anliegen. Umso mehr, wenn ADHS über Generationen weitergegeben wird.
Kind und Vater leben in derselben Familie mit ADHS. Und die Grosseltern? «Dieser Gedanke ist naheliegend», bestätigt Anja Jung Strub, die Wissenschaft spreche für sich. Wie sieht es bei Familie Tschannen aus? «Das ist schwer zu sagen», Markus Tschannen zögert, «wahrscheinlich haben ältere Generationen im Laufe des Lebens Strategien entwickelt, mit ihren Symptomen weniger aufzufallen.» Auch bei der Anerkennung einer Diagnose unterscheiden sich laut elpos-Fachstellenleiterin die Generationen oft massiv. «In der Regel gibt es zwei Umgangsformen, steht die ADHS-Diagnose eines Enkelkindes im Raum: Entweder wollen Grosseltern alles darüber wissen oder sie winken mit den Worten ab: «Früher durfte man eben noch lebendig sein.» Auch Urteile würden schnell gesprochen, man habe die Kinder «nicht im Griff», die Erziehung sei zu locker, der Umgang grenzenlos. «Stigmatisierungen, die insbesondere dem Elternteil zu schaffen machen, der die Hauptbetreuung der Kinder leistet», so Jung Strub. Diese Last falle mit einer Diagnose, damit löse sich die gefühlte Selbstverschuldung in Luft auf. «Und das ist gut so!»
Markus Tschannen erlebt bei seinen Eltern eine weitere Umgangsform mit der Thematik ADHS. «Sie sagen, sie kennen sich nicht damit aus und wollen auch nichts Genaueres wissen.» Zweifel an der Diagnose würden jedoch hin und wieder angedeutet. Brecht spielt das keine Rolle, das Enkelkind verbringt gern Zeit bei den Grosseltern, die direkt nebenan wohnen. «Besonders gern treffe ich dort ihre Tiere, vor allem die Katze Kitty möchte immer spielen», ergänzt Brecht begeistert. Dass sein Kind bei den Grosseltern trotz oder gerade wegen der Lebendigkeit auf offene Arme trifft, erstaunt Vater Tschannen nicht. «Sie erleben ein fröhliches, lebhaftes Kind und übernehmen keine regelmässigen Betreuungsaufgaben», erklärt er, «ausserdem gibt es um das freistehende Bauernhaus jede Menge Bewegungsfreiheit. Würden sie Brecht regelmässig über längere Zeitspannen betreuen, könnten sie das ganze Spektrum des Verhaltens erfassen.»
«Grosseltern sind oft wie eine Insel für die Kleinfamilie, ein Wohlfühlort», bringt es Anita Jung Strub auf den Punkt und ergänzt: «Das darf auch so sein, ausserdem verhalten sich Kinder ausserhalb der Kernfamilie oft angepasster. Oder die Grosseltern beobachten eigene Verhaltensweisen aus Kindertagen bei ihren Enkelkindern, weil sie eben auch von ADHS betroffen sind und dafür Verständnis haben. Allerdings müssen sie sich nicht vertieft damit auseinandersetzen und dementsprechend keine Regeln aufstellen. Wird es ihnen zu streng, können sie die Kinder wieder abgeben.» Die Entlastungsfunktion, die Grosseltern damit übernehmen würden, sei indes sehr wertvoll. Oft dauere es bei ADHS-Betroffenen länger, bis sie ihren Platz in der Gesellschaft gefunden hätten. «Das braucht Geduld und Ausdauer beider Elternteile. Umso besser, dabei die Grosseltern mit im Boot zu haben.»
Markus Tschannen teilt diese Gedanken, auch er sieht seine Eltern nicht in einer erziehenden Funktion. «Sie dürfen sich mehr Verwöhnen erlauben», sagt er dazu, ergänzt mit einem Zwinkern: «Das mache ich dann bei meinen Enkelkindern genauso.» Füttern Grossmutter und Grossvater Brecht mit Süssigkeiten, wird das zu Hause ausgeglichen und nicht noch mehr Zucker aufgetischt. «Auch wenn wir wissen, dass Süsses die Hyperaktivität verstärkt, nehmen wir das gelassen», erzählt er. Elpos-Beraterin Jung Strub sieht darin kein Problem, sie schätzt den pragmatischen Umgang. «Schliesslich sind stabile Bindungen am wichtigsten. Um diese zu fördern, ist vieles erlaubt, solange die Grosseltern in den wichtigsten Punkten dasselbe machen wie die Eltern. Das heisst: Halten, was man verspricht, in der Kommunikation klare, kurze Sätze verwenden und Ich-Botschaften formulieren. So gelingt das Zusammensein auch bei unterschiedlichen Auffassungen einer Diagnose ganz gut.»

Was genau ist ADHS?
Die Abkürzung ADHS steht für Aufmerksamkeits-Defizit-Störung mit oder ohne Hyperaktivität. Zu tun hat diese komplexe Veranlagung mit dem Botenstoffsystem im Gehirn, sogenannten Neurotransmittern wie Dopamin und Noradrenalin. Als Ursache gelten genetische Faktoren und ein Ungleichgewicht der Botenstoffe (Neurotransmitter). Umwelteinflüsse können dabei verstärkend wirken und es kommt zu einem Wechselspiel. Die Kernsymptome dieser Entwicklungsstörung sind: Unaufmerksamkeit, Impulsivität und eventuell Hyper- oder Hypoaktivität. In der Schweiz gibt es schätzungsweise rund 200 000 Menschen mit ADHS. Rund 5 Prozent der Kinder sind davon betroffen. Quelle: elpos.ch