Dossier: Interview mit der Achtsamkeitstrainerin Béatrice Heller

Lieben, Arbeiten, Erziehen, Kochen, Sterben: Alle Aspekte unseres Lebens sollen derzeit achtsam bewältigt werden. Der Trend zum liebevollen Umgang mit sich selbst und anderen ist zu einem Millionengeschäft geworden. Wir haben mit Béatrice Heller über die Chancen und Möglichkeiten eines Achtsamkeitstrainings gesprochen.

Von Karin Dehmer (Text) und Charlotte Ager (Illustration)

Béatrice Heller (63) ist Dipl. Psychologische Beraterin und ehemalige Personalverantwortliche. Seit 18 Jahren arbeitet sie als Achtsamkeitstrainerin und unterrichtet «Mindfulness-Based Stress Reduction» (MBSR) (siehe Begriffserklärung auf Seite 52). 2009 gründete sie das Zentrum für Achtsamkeit in Zürich. centerformindfulness.ch

Frau Heller, würden Sie jemandem ein Achtsamkeitstraining empfehlen, der zwar von sich sagt, gestresst, ausgepowert oder überfordert zu sein, aber gleichzeitig Achtsamkeit als esoterischen Kram abtut?
Béatrice Heller: Wenn jemand dem Thema gegenüber abgeneigt ist, wäre ich zurückhaltend.

Würden Sie eher eine psychologische Beratung empfehlen?
Auch nicht, nein. Ich vertraue aufgrund meiner jahrelangen Meditationspraxis der Kraft der freundlichen Präsenz – oder eben Achtsamkeit. Deshalb würde ich wohl versuchen, ohne diese Wörter in den Mund zu nehmen, das Grundbedürfnis von überreizten oder gestressten Menschen anzusprechen. Nämlich zurückzufinden in die gelebte Präsenz, zur Fähigkeit, jederzeit im aktuellen Moment zu sein. Zu spüren, hören, riechen, schmecken … alles, was wir von Moment zu Moment über die Sinneswahrnehmungen aufnehmen können.

Was für skeptische Menschen dann natürlich sehr esoterisch klingt. Können Sie ein konkretes Beispiel nennen, was Sie unter «gelebter Präsenz» verstehen?
Wenn wir mit dem Enkelkind spielen, tatsächlich hören, was das Kind sagt. Seine Mimik wahrnehmen und vielleicht auch, was die kindliche Reaktion in uns selbst auslöst. Das ist nur möglich, wenn wir nicht gleichzeitig über ein Buch nachdenken, das wir gerade lesen oder die berühmte Einkaufsliste im Kopf schreiben.

Braucht es wirklich ein achtwöchiges Programm, um das zu lernen?
Nein, das braucht es nicht. Achtsamkeit kann auch ohne Kurs wiederentdeckt werden. Da unsere Gewohnheiten, ­gerade das andauernde Bewerten von allem und jedem, stark sind, braucht es aber viel Übung, um davon wegzukommen. Die Forschung bestätigt auch, dass Achtsamkeit wie ein Muskel durch regelmässiges Üben aufgebaut wird. Ob das jetzt ein achtwöchiger Kurs ist oder eine App, mithilfe derer man täglich 10 Minuten übt, ist für den Anfang nicht entscheidend.

Können Sie eine niederschwellige Einstiegsmöglichkeit nennen?
Sich mit Meditation auseinandersetzen, ist sicher ein guter Anfang. Da gibt es unzählige Bücher und Apps. Wissen Sie, Meditation wird unglaublich mystifiziert. Man hat Vorstellungen von Menschen, die stundenlang im Lotussitz verharren. Dabei geht es in erster Linie darum, das eigene Leben bewusster wahrzunehmen.

Ein einleuchtender Punkt der Kritiker scheint zu sein, dass man mit Achtsamkeit bloss lernt, noch stressresistenter zu werden.
Da möchte ich ausholen. MBSR basiert auf der buddhistischen Philosophie, die unter anderem besagt, dass Unangenehmes zum Leben gehört. Das ist eine Tatsache. Ob ein platter Pneu, Schmerzen, zu viel Arbeit: Menschen, die mit Achtsamkeit vertraut sind, können in solchen Situationen typische Stressreaktionen erkennen und angepasst reagieren, statt sich im Ärger oder Selbstmitleid zu verlieren. Es geht also nicht darum, stressresistenter zu werden, sondern durch den achtsamen Umgang zu erkennen, was einem selbst und der Situation gut tut und was nicht. Gut möglich also, dass ein gestresster Mitarbeiter nach einem Achtsamkeits­training besser mit Drucksituationen umgehen kann. Ich kenne aber auch Menschen, die sich infolge grösserer Klarheit und gesteigertem Mitgefühl für sich selbst eine neue Arbeitsumgebung gesucht haben.

Nun nimmt aber die Flut von Dingen, die täglich auf uns niederprasseln, durch den zusätzlichen Task eines Achtsamkeitstrainings nicht ab.
Nein, aber die Fähigkeit darin, präsent zu bleiben, nimmt zu. Die Fähigkeit, weniger impulsiv zu reagieren oder Verantwortlichkeiten nicht an sich zu nehmen, sondern dort zu lassen, wo sie herkommen. Der Umgang mit der Flut wird besser, die Selbstfürsorge nimmt zu. Die Beziehung zu dem vielen, was auf uns niederprasselt, verändert sich. •


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Tipps für den Alltag mit den Enkelkindern

Kinder können komplett im Jetzt ­leben. Lassen Sie sich davon ­inspirieren und holen Sie sich mit ­Unterstützung Ihrer Enkelkinder ­zurück in den gegenwärtigen Moment.

ALLES ZU SEINER ZEIT
Beim Zähneputzen, Essen, Aufräumen: Versuchen Sie, mit den Kindern im Moment zu bleiben. Sprechen Sie beim Aufräumen nicht übers bevorstehende Menü, beim Essen nicht über die Gutenachtgeschichte, und kämmen sie den Kindern nicht die Haare, während diese die Zähne putzen. Es geht nicht darum, die Tätigkeiten still auszuüben, sondern sich voll und ganz mit ihnen zu beschäftigen. Wie schmeckt die Zahn­pasta? Wie fühlt es sich an, mit der Hand in der Lego­kiste zu graben?

AUGEN ZU UND DURCH
Die Kinder müssen im Restaurant aufs Essen warten? Am Postschalter anstehen? Schliessen Sie mit ihnen die Augen und zählen Sie zuerst alles auf, was sie hören, danach alles, was Sie riechen.

RUNTERKOMMEN
Auf den Rücken liegen, Augen schliessen, einige Male tief ein- und ausatmen. Kinder, die mit dem Ausdruck «tief«» nicht viel anzufangen wissen, kann man die Atemzüge auch leise mitzählen lassen. Das hat den Vorteil, dass der Denkapparat eine Beschäftigung hat und nicht abschweifen kann. Mit diesem Trick helfen sich Erwachsene auch beim Meditieren.

PIPPI WEISS ES BESSER
Pippi Langstrumpf ist ein Achtsamkeitsprofi. Und was tut Pippi, wenn ihr langweilig ist? Richtig, sie geht «Sachensuchen». Das nächste Mal, wenn Sie mit den Kindern einen Spaziergang machen, lassen Sie sie Sachen suchen. Steine, einen knorrigen Ast, einen Tannzapfen, ein schönes Blatt. Wie fühlen sich die gefundenen Gegenstände an? Sind sie zerbrechlich oder robust? Warm oder kalt?

NICHTS FÜR MIMOSEN
Das Kind schliesst die Augen. Jetzt berührt Oma oder Opa es an einer Stelle am Körper. Mit geschlossenen Augen versucht das Kind danach, möglichst genau auf dieselbe Stelle zu deuten. Nach einigen Durchgängen ist Oma oder Opa dran mit Augenschliessen. Die Übung stärkt die Körperwahrnehmung.

INNEHALTEN STATT RANHALTEN
Spielen die Kinder in aller Ruhe zusammen, bietet sich Gelegenheit, schnell die Wäsche aufzuhängen, ein paar Mails zu beantworten, den Müll rauszutragen. Widerstehen Sie den Versuchungen doch einmal und schauen Sie den Kindern einfach zu, ohne ihr Spiel innerlich zu bewerten.



Apps- und Bücher

Insight Timer
Kostenlos. iOs und Android.
Nummer 1 der kostenlosen Meditations-Apps. Ein Sammelsurium an geführten Meditationen. Möglichkeit, Gruppen beizutreten und sich
mit anderen Nutzenden auszutauschen. Zeigt anhand von Statistiken die persönlichen Fortschritte an.

Headspace
Zehntägiger Einsteigerkurs kostenlos, danach um die 12 Franken monatlich. iOs und Android.
Die bekannteste kostenpflichtige Meditationsapp weltweit. Hunderte von geführten Meditationen, über 40 Übungen zu Achtsamkeit beim Kochen, Essen, Pendeln und mehr. Kurze Mini-Meditationen für jederzeit. Schlafklänge für eine erholsame Nachtruhe. SOS-Übungen bei Panikattacken und Stresssituationen. Persönliche Statistiken.

7Mind
Gratisversion mit Grundlagenkursen und ausgewählten Meditationen oder im Abo für ca 10 Franken im Monat.
Zum Einstieg sieben Grundlagen-Meditationen, die laufend erweitert werden können. Meditationskurse zu Stress, Glück, Gesundheit, Kreativität und Beziehung. Mit sogenannten Jetzt-Übungen für bestimmte Situationen kann beispielsweise das Einschlafen erleichtert oder eine Wartezeit überbrückt werden.


Achtsamkeit für Anfänger – Jon Kabat-Zinn
Arbor Verlag, 2019, 28 Franken.
Jon Kabat-Zinn zeigt auf, wie die Praxis der Achtsamkeit in das tägliche Leben integriert werden kann. Mit seinen geführten Übungen und Meditationen zum Download bietet das Buch einen Einstieg für all jene, die mit der Achtsamkeitspraxis noch wenig oder gar keine Berührung hatten. Überarbeitete Ausgabe.

Mit Kindern wachsen – Myla und Jon Kabat-Zinn,
Arbor Verlag, 2020, 30 Franken.
Grundsätzliche Überlegungen dazu, was Achtsamkeit in der Erziehung und im Umgang mit Kindern bedeutet. Viele praktische Beispiele und konkrete Hinweise. Überarbeitete Ausgabe.

Binja – meine Reise durch die Welt der Gefühle – Ruth Monstein
Edition Punktuell, 2018, 25 Franken.
Binja durchlebt wie jede Zehnjährige die Gefühle Angst, Wut, Eifersucht, Hoffnungslosigkeit, Trauer und Freude. Binjas treuer Begleiter Alfonso zeigt ihr, wie sie ihren überwältigenden Gefühlen begegnen kann. Sie lernt, dass das achtsame Atmen hilft, immer wieder ins Hier und Jetzt zurückzukehren.


Angebot für Leserinnen und Leser

Das Zentrum für Achtsamkeit in Zürich bietet für Leserinnen und Leser von «Grosseltern» einen Einführungskurs in MBSR an.
Datum: 28./29. Mai 2021, Kosten 160 Franken.
Information und Anmeldung: sekretariat@centerformindfulness.ch mit dem Vermerk «Einführung in MBSR».
centerformindfulness.ch